14.07.2022

Die ungeahnte Bedeutung der Landesgrundrechte

– dargestellt am Beispiel eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren der jüngeren Berliner Geschichte

Die ungeahnte Bedeutung der Landesgrundrechte

– dargestellt am Beispiel eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren der jüngeren Berliner Geschichte

Das Bundesverfassungsgerichts ist eine hoch angesehene und anerkannte Institution, die auch Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten des GG überprüft. © Fokussiert – stock.adobe.com
Das Bundesverfassungsgerichts ist eine hoch angesehene und anerkannte Institution, die auch Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten des GG überprüft. © Fokussiert – stock.adobe.com

Kontrollinstanz für die Verfassungsmäßigkeit des politischen Lebens in Deutschland ist in erster Linie das Bundesverfassungsgericht. Es interpretiert die Regelungen des Grundgesetzes, damit auch dessen Grundrechte und passt die Interpretation immer wieder dem gesellschaftlichen Wandel an.

Seine Zuständigkeit und wesentlichen Aufgaben sind im Grundgesetz detailliert geregelt. Unter anderem kann jeder Bürger im Wege der Verfassungsbeschwerde das Gericht mit der Behauptung anrufen, er sei durch die öffentliche Gewalt, sei es durch Verwaltungsakt, Gerichtsentscheidung oder Gesetz in seinen Grundrechten verletzt worden. Das Bundesverfassungsgerichts ist eine hoch angesehene und anerkannte Institution, die auch Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten des GG überprüft. Seine Entscheidungen sind oft spektakulär.  Als Beispiele aus den vergangen 30 Jahren seien erwähnt:

  • Die „Mauer-Schützen“-Entscheidung des Gerichts aus dem Jahre 1996, dass Tötungen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze geahndet werden können, obwohl sie in der DDR nicht bestraft wurden (Beschl. v. 24.10.1996 – 2 BvR 1851/94),
  • die Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens im Jahr 2003, nachdem drei Mitglieder des Gerichts der Ansicht waren, dem Verfahren stehe die Beobachtung der Partei durch sog. V-Leute staatlicher Behörden entgegen, die in der NPD Vorstandsämter bekleiden (Beschl. v. 18.03.2003 – 2 BvB 1/01) oder
  • der Beschluss des Gerichts vom 24.03. letzten Jahres, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahre 2030 zulässigen Jahresimmissionen insofern mit den Grundrechten unvereinbar seien, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlten. Die Vorschriften würden hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschieben (Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20).

Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsbeschwerde

Daneben verfügen alle Bundesländer über eigenständige – unterschiedlich bezeichnete – Verfassungsgerichte. Dort ist ebenfalls überwiegend die Verfassungsbeschwerde zulässig (Ausnahmen: Bremen, Hamburg, Niedersachsen [dort nur Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 54 Nr. 5 NdsVerf], Sachsen-Anhalt [dort beschränkt auf Rechtssatzverfassungsbeschwerde nach Art. 75 Nr. 6 LSAVerf und Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 75 Nr. 7 LSAVerf] und Schleswig-Holstein [dort nur Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 44 II Nr. 4 SchlHVerf]). So auch in Berlin. Die Verfassungsgerichte der Länder stehen allerdings im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht weniger im Rampenlicht. Man nimmt sie etwa dann wahr, wenn eine namhafte Persönlichkeit wie die Schriftstellerin Juli Zeh oder die umstrittene Linken-Politikerin Barbara Borchardt (vgl. dazu etwa https://www.nzz.ch/international/barbara-borchardt-ist-mitglied-der-antikapitalistischen-linken-ld.1557418 [letzter Abruf: 28.06.2022]) an ein solches Gericht berufen wird. Zuweilen setzen aber auch diese Gerichte Meilensteine der Rechtsgeschichte.


Der Prozess gegen Erich Honecker

Die wohl spektakulärste Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts (https://www.roettgen-kluge-hund.de/bundes-und-landesverfassungsbeschwerde/ [letzter Abruf: 28.06.2022]) jährt sich nächstes Jahr, am 12.01.2023, zum 30. Mal.

Mit Beschluss vom 12.01.1993 (55/92) ermöglichte der Verfassungsgerichtshof Berlin (BerlVerfGH), der sich erst im Mai 1992 konstituiert hatte (vgl. etwa die Pressemitteilung des Gerichts vom 20.05.2022 „30 Jahre Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin“ unter https://www.berlin.de/gerichte/sonstige-gerichte/verfassungsgerichtshof/pressemitteilungen/2022/pressemitteilung.1209142.php [letzter Abruf: 28.06.2022]), dem ehemaligen Vorsitzenden des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR Erich Honecker die Ausreise nach Chile zu seiner bereits dort lebenden Ehefrau Margot, wo er am 29.05.1994 starb. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Honecker war gemeinsam mit vier Mitangeklagten zwölffache Anstiftung zum Totschlag vorgeworfen worden. In seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR sei er für den Ausbau der Sperrvorrichtungen einschließlich der Installation von Selbstschussanlagen und die Belobigung von Todesschützen verantwortlich gewesen. Die Hauptverhandlung begann am 12. November 1992 vor dem Landgericht Berlin unter Leitung des später erfolgreich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Vorsitzenden Richters Hansgeorg Bräutigam.

Mit seinem Beschluss vom 12.01.1993 entschied der Verfassungsgerichtshof Berlin über die Verfassungsbeschwerde und den Erlass einer einstweiligen Anordnung Honeckers gegen die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft gegen ihn und die Ablehnung seines Antrags auf Abtrennung und Einstellung des gegen ihn anhängigen Strafverfahrens. Er befand, Kammergericht und Landgericht Berlin hätten das Grundrecht des 80-jährigen schwerkranken Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde verletzt, indem sie die Einstellung des Strafverfahrens und die Aufhebung des Haftbefehls abgelehnt hätten. Honecker würde das Ende des Strafverfahrens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben. Dieser wurde darauf völlig überhastet freigelassen und konnte am 13.01.1993 abends nach Chile ausreisen (zu den Details vgl. Hansgeorg Bräutigam, Die Aufarbeitung des SED-Unrechts – Erinnerungen eines Richters, Berlin 2021, S. 146).

Der im Februar dieses Jahres verstorbene Staatsrechtslehrer Sachs hat den Beschluss des Verfassungsgerichtshofs zutreffend als „Paukenschlag“ bezeichnet (Sachs, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren gegen Erich Honecker, ZfP (n. F.) 1993, 121, 125). Dass diese Entscheidung die Gemüter hochgradig erregte, ist kein Wunder. Auch unter Juristen war sie außerordentlich umstritten. Dass sie „juristisch vorzüglich begründet“ wurde, wie der FU-Professor für Römisches Recht Uwe Wesel in einem Beitrag in der Zeitschrift Kritische Justiz konstatierte (Wesel, Der Honecker-Prozeß, KJ 1993,198, 203; krit. bspw. Sachs, ebenda, S. 121, 127 f.), darf bezweifelt werden.

Zulässigkeit der Landesverfassungsbeschwerde

Die Landesverfassungsbeschwerde konnte und kann in Berlin nämlich nur mit der Behauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin, nicht aber in einem seiner im Grundgesetz enthaltenen Rechte verletzt zu sein (Art. 84 II Nr. 5 u. III BlnVerf i. V. m. § 49 I 1 VerfGHG). Entsprechendes gilt für die übrigen Länder, in denen die Landesverfassungsbeschwerde möglich ist (vgl. etwa Art. 68 I Nr. 4 BWVerf i. V. m. § 55 I BWVerfGHG, Art.66 BayVerf, Art. 6 II BbgVerf, Art. 131 HEVerf i. V. m. § 43 HEStGHG, Art. 53 Nr. 6 u. 7 MVVerf, Art. 75 Nr. 4 NRWVerf i. V. m. § 53 NRWVerfGHG, Art. 130a RPVerf, Art. 97 Nr. 4 SaarlVerf i. V. m. § 55 I SaarlVerfGHG, Art. 81 I Nr. 4 SächsVerf, Art. 75 Nr. 6 LSAVerf, Art. 80 I Nr. 1 ThürVerf).

Befugnis der Länder zur Statuierung eigener Grundrechte

In diesem Zusammenhang ist ein Exkurs angezeigt: Zwar enthalten die Verfassungen aller Bundesländer mit Ausnahme derjenigen der Freien und Hansestadt Hamburg grundrechtliche Gewährleistungen. Auch die Verfassung von Berlin sieht einen umfassenden Katalog von Landesgrundrechten vor (Art. 6 ff. BlnVerf). Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Grundrechte die Länder in ihren Verfassungen vorsehen dürfen.

Denn die Grundrechte des GG gelten auch in den Ländern (Art. 1 III GG). Dies gilt entgegen dem Wortlaut dieser Norm auch für Art. 1 I u. II GG (Sachs, ebenda, S. 121, S. 127). Darüber hinaus wird Grundrechtsschutz durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und durch die insb. in der Grundrechtscharta verbürgten EU-Grundrechte bewirkt. Auf das komplexe Verhältnis dieser Regelungen zur bundesstaatlichen Verfassungsordnung ist hier nicht näher einzugehen. Wichtig ist in Rahmen dieser Ausführungen, welche Vorgaben das Grundgesetz für den Erlass von Landesgrundrechten enthält.

Generell gilt: Die sogenannte Grundrechtshoheit der Länder ist originärer und wesentlicher Bestandteil ihrer in Art. 28 I GG anerkannten Verfassungsautonomie. Aufgrund dieser Verfassungsautonomie verfügt der Landesverfassungsgeber über einen weitgehenden Gestaltungsspielraum. Zwar statuiert Art. 31 GG: Bundesrecht bricht Landesrecht. Nach überwiegender Auffassung gilt dies aber für nur entgegenstehendes, nicht für inhaltsgleiches Landes- (verfassungs-) recht. Eine auf die Grundrechte in Landesverfassungen beschränkte Widergabe dieser allgemeinen Rechtslage enthält nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Meinung im wissenschaftlichen Schrifttum Art. 142 GG.

Dem Landesverfassungsgeber ist grundsätzlich unbenommen, im Vergleich zu den Bundesgrundrechten sowohl inhaltsgleiche, weitergehende (Beispiel etwa in Art. 141 III 1 BayVerf) oder weniger weitreichende Landesgrundrechte vorzusehen, wenn das jeweils engere Grundrecht als Mindestgarantie zu verstehen ist und nicht den Normbefehl enthält, einen weitergehenden Schutz zu unterlassen. Es besteht auch keine Pflicht zur Grundrechtsgewährung. Siehe Hamburg. Die Länder sind bei der Verfassungsgebung schließlich nicht an die Regelungen des Grundgesetzes über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern Art. 70 ff. GG gebunden (BVerfGE 96, 345 [368 f.]; 98, 145 [157 f.]). Grundgesetzwidrige und damit nichtige Landesgrundrechte sind eine seltene Ausnahme. Ein Beispiel ist etwa das Aussperrungsverbot in Art. 29 HEVerf (zur Zulässigkeit der Aussperrung vgl. BAGE 33, 140 ff. u. BVerfG JZ 1992, 48 ff.). Somit muss jede einen Grundrechtsträger belastende Maßnahme – auch in Berlin – immer den Anforderungen von zwei Grundrechtskatalogen (GG und BlnVerf) genügen, um verfassungsgemäß zu sein.

Nach den Vorgaben des Grundgesetzes hätte die Verfassung von Berlin daher seinerzeit eine Menschenwürdegarantie enthalten können. Sie hätte sie aber auch enthalten müssen, damit die Verfassungsbeschwerde Honeckers zum Verfassungsgerichtshof Berlin mit der Behauptung zulässig gewesen wäre, er sei in diesem Recht durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin verletzt

Für den Beschluss des Berliner Verfassungsgerichtshofs vom 12.01.1993 maßgebende Verfassungslage

Im geschriebenen Text der Verfassung von Berlin gab es bis zum 29.11.1995 keine Art. 1 I GG entsprechende Gewährleistung der Menschenwürde und keine ausdrückliche Verpflichtung der staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (seither bestimmt Art. 6 BlnVerf wortgleich mit Art. 1 I GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“).

Um diese Hürde zu meistern, hat der Verfassungsgerichtshof Art. 1 I GG in die Verfassung von Berlin „hineingelesen“. Er hat argumentiert, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Verfassung des Gliedstaates eines Bundesstaates nicht in der Verfassungsurkunde, dem geschriebenen Verfassungstext allein enthalten. In sie hinein wirkten auch Bestimmungen der Bundesverfassung. Erst beide Elemente, die Verfassungsurkunde und die in sie hineinwirkenden Bestimmungen der Bundesverfassung, machten die Verfassung des Gliedstaates aus (BerlVerfGH, Beschl. v. 12.01.1993 – 55/92 – Rn. 17). Art. 1 I GG gehöre zu den in die Landesverfassungen hineinwirkenden Bestimmungen des Grundgesetzes und werde so zu einem konstitutiven Element der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern. Die Verfassung von Berlin verbürge somit das Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde (BerlVerfGH, Beschl. v. 12.01.1993 – 55/92 – Rn. 18.; bestätigt in der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des ehemaligen Ministers für Staatssicherheit Mielke [BerlVerfGH, Beschl. v. 02.12.1993 – 89/93 – Rn. 33]). Ergänzend, so das Gericht, enthalte die Verfassung von Berlin aus dem ihren Grundrechten zugrundeliegenden Menschenbild als ungeschriebenen Verfassungssatz das Bekenntnis zur Menschenwürde und die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (BerlVerfGH, Beschl. v. 12.01.1993 – 55/92 – Rn. 19).

Bewertung

Der Verfassungsgerichtshof Berlin hat mit der Feststellung, Art. 1 I GG gehöre zu den in die Landesverfassungen hineinwirkenden Bestimmungen des Grundgesetzes auf einen auf einen „fremden“ Entscheidungsmaßstab zugegriffen, so als enthielte die seinerzeit geltende Verfassung von Berlin die Aussage: „Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Recht.“ Eine derartige Regelung enthielten bereits damals die Verfassungen von Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen sowie Nordrhein-Westfalen (Art. 2 I LV BW, 5 III MV Verf, 3 II 1 Nds Verf, 4 I NRW Verf) und enthält seit einigen Jahren auch diejenige von Schleswig-Holstein (Art.   3 Verf SH).

Die Argumentation des Verfassungsgerichtshofs erscheint problematisch. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar tatsächlich wiederholt argumentiert, die Verfassung der Gliedstaaten eines Bundesstaates sei nicht in der Landesverfassungsurkunde allein enthalten. In sie hinein wirkten auch Elemente der Bundesverfassung, sodass erst beide Elemente zusammen die Verfassung des Gliedstaates ausmachten. So hat das Gericht ein solches Hineinwirken für die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 III GG), den Primat des Völkerrechts vor dem innerstaatlichen Recht (Art. 25 GG), den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) und die Grundsätze des Parteiensystems (Art. 21 GG) bejaht (BVerfGE 1, 208 ff.; 4, 375 ff.). Auch die Garantie der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) hat es als einen solchen Fall angesehen (BVerfGE 13, 54 ff.). Dagegen hat es – anders als in seiner Entscheidung zur Startbahn West (BVerfGE 60, 175 ff.) – ein Hineinwirken der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen der Art. 70 ff. GG sowie der Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG in die Landesverfassung von Schleswig-Holstein (BVerfGE 103, 332 ff.) verneint. Es hat die Fälle des Hineinwirkens zudem als „selten“ bezeichnet (BVerfGE 13, 54 [79]). Auch hat es betont, die Verfassungsautonomie der Länder und damit ihre Staatlichkeit würden nachhaltig beschädigt, je mehr an Prinzipien oder Normen der Bundesverfassung in eine Landesverfassung „hineingelesen“ werde. Auf diese Weise würde letztlich ein Eckpfeiler des Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland untergraben: das föderale Prinzip des Art. 20 I GG. Letztlich spreche schon die Kompetenzordnung der Art. 70 ff. GG selbst gegen ein „Hineinlesen“ (oder Hineinwirken) der bundesverfassungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen in das Landesverfassungsrecht (BVerfGE 103, 332, 357 f.; krit. auch Sachs, ebenda, S. 121, 128). Ein Hineinlesen von Grundrechten des Grundgesetzes in Landesverfassungsrecht ist auch nicht geboten, da die Grundrechte des Grundgesetzes nach der Durchgriffsnorm Art. 1 III GG auch in den Ländern gelten.

Der zweite Argumentationsstrang, die Menschenwürdegarantie ergänzend aus einer Gesamtschau der in der Verfassung von Berlin enthaltenen Grundrechte abzuleiten, lässt auf auch auf eine gewisse Unsicherheit des Verfassungsgerichtshofs schließen (zutreffend, Sachs, ebenda, S. 121, 129).

Zudem bleiben Zweifel, ob die Fortführung des Strafverfahrens gegen Honecker mit der Menschenwürdegarantie nicht zu vereinbaren gewesen wäre und ob es wirklich ein Gebot der Menschenwürde ist, einen Todkranken davon zu befreien, sich im Rahmen seiner gesundheitlichen Möglichkeiten im Strafprozess seiner Verantwortung zu stellen (vgl. dazu Sachs, ebenda, S. 134 ff. sowie Fahl, Einige materielle und prozessuale Überlegungen zum Fall Demjanjuk, ZJS, 2011, 229, 233). Unter Berücksichtigung der Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht im Fall des „Buchhalters von Auschwitz“, Oskar Gröning, angelegt hat (BVerfG, Beschl. v. 21.12.2017 – 2 BvR 2772/17), wäre im Fall Honecker auch ein anderes Ergebnis denkbar gewesen.

Andererseits war der Beschluss des Berliner Verfassungsgerichtshofs vom 12.01.1993 nicht völlig unvertretbar. Zu weit geht namentlich der Vorwurf des bereits erwähnten Vorsitzenden Richters Bräutigam, das Gericht habe in völliger Verkennung der Rechtslage eine nicht zu begründende eigene Zuständigkeit angenommen. Strafprozessrecht und Strafrecht seien Bundesrecht und kein Landesrecht. Nach überwiegender Rechtsansicht sei die Entscheidung sowohl formal wie sachlich falsch gewesen (Hansgeorg Bräutigam, ebenda, S. 144). Es darf aber nicht übersehen werden, dass der Verfassungsgerichtshof sich die tatsächlichen Feststellungen des Land- und des Kammergerichts zu eigen gemacht (BerlVerfGH, Beschl. v.12.01.1993 – 55/92 – Rn. 24) und auf dieser Grundlage entschieden hat (Sachs, ebenda, S. 121, 133). Das Bundesverfassungsgericht hat im Oktober 1997 übrigens die Auffassung bestätigt, dass den Richtern eines Landes bei der Durchführung eines bundesrechtlich geregelten Verfahrens Raum für die Anwendung der parallel mit den Grundrechten des Grundgesetzes verbürgten Grundrechte der Landesverfassung bleibt (BVerfGE 96, 345, 368 f.; 98, 145, 157 f.).

Bedeutung der Landesgrundrechte im sog. Mehrebenen-System

Auch wenn die Haftentlassung Honeckers nicht jedermann gefallen mag, bleibt festzuhalten, dass der Berliner Verfassungsgerichtshof mit seinem Beschluss vom 12.01.1993 einen Meilenstein gesetzt hat. Es hat in diesem prominenten Fall deutlich gemacht, welche Bedeutung Grundrechten in Landesverfassungen im sog. Mehrebenen-System zukommt. Diese Wirkung lässt sich wie folgt skizzieren:

Die Landesgrundrechte binden zwar nur die Landesstaatsgewalt und dies auch bei der Anwendung von Bundesrecht (BVerfGE 96, 345, 366). Keine Beachtung beanspruchen sie durch Bundesgerichte, die – ebenso wie Bundesbehörden (vgl. SächsVerfGH NJW 1999, 51) – keine Landesstaatsgewalt ausüben (BVerfGE 96, 345, 371). Wegen der Bindung der Landesstaatsgewalt an die Bundesgrundrechte (Art. 1 III GG) und des Vorrangs des einfachen Bundesrechts (Art. 31 GG) bringen Landesgrundrechte in materiellrechtlicher Hinsicht keinen zusätzlichen Gewinn (Maurer in: HGR III, § 82 Rn. 89). Ihre Bedeutung liegt vor allem im (verfassungs-) prozessualen Bereich; sie können in allen zulässigen Verfahren von den Landesverfassungsgerichten als Prüfungsmaßstab herangezogen werden (Dreier in: Dreier, GG, Art. 142 Rn. 27; Maurer in: HGR III, § 82 Rn. 74; Voßkuhle, JöR 59 (2011), 215 (230).

Umstritten ist, ob und – gegebenenfalls – inwieweit Landesverfassungsgerichte befugt sind, unter Anwendung von Bundesrecht ergangene landesgerichtliche Urteile am Maßstab der Landesverfassung zu prüfen und gegebenenfalls zu kassieren. Ungeachtet der fehlenden Bindung der öffentlichen Gewalt des Bundes an die Landesverfassung kann der Verfassungsgerichtshof jedenfalls die Anwendung bundesrechtlichen Verfahrensrechts durch Gerichte der Länder an mit Bundesverfahrensgrundrechten inhaltsgleichen Landesverfahrensgrundrechten messen (BVerfGE 96, 345 (366 ff.); BWStGH Justiz 2014, 9). Bei von Bundesgerichten bestätigten landesgerichtlichen Entscheidungen setzt die landesverfassungsgerichtliche Kontrolle weiter voraus, dass das Bundesgericht keine Sachentscheidung getroffen hat, weil nur dann die landesgerichtliche Entscheidung die Beschwer des Beschwerdeführers begründet (BVerfGE 96, 345 (371); BWStGH Justiz 2014, 9). Schließlich muss der bundesrechtlich vorgesehene Rechtsweg erschöpft sein (BVerfGE 96, 345 (371 f.); BWStGH Justiz 2014, 9).

Die weitergehende Frage, ob unter den zuvor dargelegten Voraussetzungen (Inhaltsgleichheit, keine Prüfung des Streitgegenstands des Ausgangsverfahrens durch ein Bundesgericht; Rechtswegerschöpfung) eine landesverfassungsgerichtliche Überprüfung auch insoweit möglich ist, als Gerichte materielles Bundesrecht anwenden, ist nicht abschließend geklärt. Soweit das Landesrecht nicht entgegensteht, ist sie zu bejahen (StGH Justiz 2015, 350 (351); BerlVerfGH NJW 1994, 436 (437); 1999, 47; NVwZ-RR 2001, 60; B. v. 14.2.2006 – 122/05, 123/05 – juris Rn. 18; BbgVerfG LKV 2011, 124 (125); VerfGH Rh-Pf NJW 2001, 2621 f.) Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht dabei nicht, weil die Landesverfassungsgerichte nach Art. 100 III GG zur Divergenzvorlage verpflichtet sind (BVerfGE 96, 345 (372f.); StGH, U. v. 17.6.2014 – 15/13, 1 VB 15/13 – juris Rn. 302) und gegen Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 I Nr. 4a GG angerufen werden kann (BVerfGE 13, 132 (140); 85, 148 (157); NVwZ 2004, 980).

Den Landesgrundrechten als Prüfungsmaßstab in allen zulässigen Verfahren von den Landesverfassungsgerichten kommt auch deshalb besondere Bedeutung zu, weil die Anforderungen des Bundesrechts und des Bundesverfassungsgerichts an die Zulässigkeit einer Bundesverfassungsbeschwerde im Laufe der Jahre immer höher geworden sind.

 

Dr. jur. Matthias Strohs

Ministerialrat a.D., Berlin
n/a