10.06.2022

Wo die Versammlungsfreiheit auf das Strafrecht prallt

Demonstrationen sind keine rechtsfreien Räume

Wo die Versammlungsfreiheit auf das Strafrecht prallt

Demonstrationen sind keine rechtsfreien Räume

Straßenblockaden verwirklichen regelmäßig zumindest den Tatbestand der Nötigung. | © N. Theiss - stock.adobe.com
Straßenblockaden verwirklichen regelmäßig zumindest den Tatbestand der Nötigung. | © N. Theiss - stock.adobe.com

Demonstranten und Protestaktionen, die spektakulär auf gesellschaftliche Missstände hinweisen, verletzen gelegentlich rechtliche Vorgaben. Was gilt, wenn das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit mit dem StGB und der StVO kollidieren?

Zumindest Fußballfans unvergessen ist die Greenpeace-Aktion bei einem EM-Spiel in München im Sommer 2021. Eigentlich wollte ein Motorschirmflieger als Greenwashing-Protestbotschaft gegen den EM-Sponsor „VW“ einen beschrifteten Latexball über dem Stadion abwerfen. Weil die manuelle Gassteuerung kurz ausfiel, verhedderte er sich in dessen Stahlseilkonstruktion. Zwei Zuschauer wurden leicht verletzt und er selbst musste auf dem Spielfeld notlanden. Kurz bestand für ihn sogar die Gefahr, als Gefährder von der Polizei abgeschossen zu werden. Greenpeace entschuldigte sich zwar für die aus dem Ruder gelaufene Aktion, doch dieser Parforce-Flug war sicher nicht vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt:

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I gegen ihn und andere an der Aktion Beteiligte sind im Sommer 2022 kurz vor dem Abschluss. Im Raum stehen Gefährdung des Luftverkehrs gem. § 315 a StGB, Hausfriedensbruch und fahrlässige Körperverletzungen, weil durch herunterfallende Teile des Flugobjekts Personen verletzt wurden. Geprüft werden auch Verstöße gegen das Luftverkehrsgesetz, die gem. § 58 ff. LuftVG geahndet werden. Die Höchststrafe für die Gefährdung Dritter liegt nach § 59 Abs. 1 LuftVG bei 5 Jahren. Das wäre eine folgenschwere Meinungsäußerung, doch die meisten Aktivisten zieht es nicht so hoch hinaus.


Demonstrationsfreiheit und ihre Grenzen

Das Recht zu demonstrieren wird als Versammlungsfreiheit von Art 8 GG abgesichert: Alle Deutschen dürfen sich danach ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen versammeln. Art. 8 Abs. 2 GG enthält aber einen Gesetzesvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel. Für sie besteht nach dem Versammlungsgesetz eine Anmeldepflicht mit mindestens 48 Stunden Vorlauf. Über Zeit, Ort und Art der Demonstration entscheiden nicht die Versammlungsbehörden, sondern diejenigen, die die Demonstration veranstalten. Eine wichtige Ausnahme von der Anmeldepflicht gilt seit der Brokdorf-Entscheidung des BVerfG bei Spontandemonstrationen (Beschluss v. 14.5.1985, 1 BvR 233, 341/81), Versammlungen, die sich aus aktuellem Anlass aus dem Augenblick heraus bilden.

Die Anmeldepflicht soll es den zuständigen Behörden ermöglichen, potentielle Gefahren einzuschätzen und dafür gegebenenfalls Auflagen gem. Art. 8 Abs. 2 GG i.V.m. dem VersammlG zu erteilen. Die ultima ratio:  Bei unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kann die Versammlung nach § 15 VersammlG noch vor ihrem Beginn verboten oder danach aufgelöst werden. Ein umstrittenes Beispiel dazu waren die Corona-Spaziergänge, bei denen sich das Versammlungs- und das Infektionsschutzgesetz in die Quere kamen. Ein Verbot muss das letzte mögliche Mittel zur Gefahrenabwehr sein. Wenn Auflagen ausreichen, müssen diese vorrangig angeordnet werden.

Auflagen sind streng limitiert, da sie – so das BVerfG mit Beschluss v. 6.6. 2007 (1 BvR 1423/07) – den „verfassungsrechtlich geschützten Meinungsbildungsprozess“ einschränken. Sie dürfen z. B. eine Demonstration nicht leerlaufen lassen, indem sie den angestrebten „Beachtungserfolg“ der Demonstration vereiteln und müssen die elementare Bedeutung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. So darf etwa das Marschieren im Gleichschritt nicht verboten werden, da es weder die öffentliche Sicherheit noch die öffentliche Ordnung stört (VG Aachen, Urteil v. 14.01.2009, 6 K 374/08). Eine behördlich angeordnete Routenänderung bei einer Demonstration zum 1. Mai kann dagegen zulässig sein, um eine lange Glasfront der Axel-Springer-Passage und des Jobcenters als traditionelle Reizobjekte auszusparen, schon um Gefahr für Leib und Leben durch Glasbruchstücke zu verhindern.

Klimakrise und Zukunftsängste befeuern waghalsige Protestaktivitäten

Oft wurde in den letzten Jahrzehnten die Jugend als unpolitisch bezeichnet. Diesen Vorwurf wird man der Generation Z, den Jahrgängen 1996-2010, wohl nicht mehr so pauschal machen: Besonders im Zusammenhang mit der sich auch medial zuspitzenden Klimakrise werden die Aktivitäten massiver. Protestbewegungen wie „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“ möchten auf die Dringlichkeit einer neuen Klimapolitik hinweisen.

Beim „Aufstand der letzten Generation“ gegen in Deutschland noch erlaubte Lebensmittelverschwendung, die in Frankreich schon verboten ist und dem Klima schadet, klebten sich die Aktivisten mit den Händen an der Autobahn fest und verursachten größere Staus. Die Bundesumweltministerin befand: „Es ist absolut legitim, für seine Anliegen zu demonstrieren und dabei auch Formen des zivilen Ungehorsams zu nutzen“. Sie lag damit näher an der Linie des Bundesverfassungsgerichts als der empörte Justizminister.

„Frag Mutti“: Wenn sich Demonstranten festkleben oder abseilen

Eine Sitzblockade auf einer befahrenen Straße verwirklicht zwar nach der „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH den Tatbestand der Nötigung aus § 240 Abs. 1 StGB in mittelbarer Täterschaft: Der erste Fahrer wird, schon durch die Hemmung, keinen Menschen verletzen zu wollen, zum Mittel, den Rest der Kolonne von der Weiterfahrt abzuhalten. Da die Sitzblockade aber der öffentlichen Meinungsbildung dienen soll, z. B. um  Lebensmittelverschwendung zu stoppen, kann die Abwägung der Rechte von Autofahrer und Blockierer je nach Dauer der Störung dazu führen, dass die Verwerflichkeitsklausel aus § 240 Abs. 2 StGB greift und die Rechtswidrigkeit entfällt; vgl. BVerfG, Beschluss v.  7. 3. 2011, 1 BvR 388/05. Auch das Festkleben der eigenen Hände kann die Verwerflichkeit kaum erhöhen. Es klingt eklig, kann das Auflösen der Blockade aber nicht nachhaltig erschweren. In Freiburg jedenfalls gelang es einem Notarzt, die Demonstranten schnell und folgenlos mit Wasser und Spülmittel von der Fahrbahn zu lösen, ergoogelt hatte er den Tipp vor Ort bei „Frag Mutti“.

Während Straßenblockaden regelmäßig zumindest den Tatbestand der Nötigung verwirklichen, sind sie selten als gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gem. § 315b StGB einzuordnen. Zwar erfüllen sie die Tathandlung des § 315b Nr. 2, denn sie bereiten ein Hindernis, das dazu geeignet ist, den reibungslosen Verkehrsablauf zu hemmen oder zu gefährden. Da es sich aber bei § 315b um ein konkretes Gefährdungsdelikt handelt, müsste dabei auch eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Leib und Leben von Personen oder Sachen von bedeutendem Wert entstehen.

Das wird nur ausnahmsweise der Fall sein. Anders sieht es etwa beim Abseilen von Autobahn- oder auch Schiffsbrücken aus, da die Gefahr hier wesentlich größer ist. Sie sind regelmäßig als gefährliche Eingriffe in den Verkehr §§ 315, 315b StGB einzuordnen. Das droht auch bei Blockaden, die den Verkehr durch die Art der Maßnahmen so stark blockieren, dass selbst Rettungsfahrzeuge nicht passieren können.

Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte

Sind Standardblockaden also strafrechtlich für die Teilnehmer eher ungefährlich? Nicht wirklich, denn strafrechtlich ernst wird es nicht nur, wenn Dritte gefährdet oder gar verletzt werden, sondern – noch häufiger – wenn Blockierer sich, etwa beim Abtransport, so verhalten, dass es als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 StGB oder als Körperverletzung eines Vollstreckungsbeamten auslegt werden kann. Das geschieht leicht und die Beweislage ist dann, selbst mit Handyaufnahmen, meist sehr schwierig für Betroffene, zumal Polizeibeamte nicht dazu neigen, sich gegenseitig zu widersprechen.

Flash Mob auf dem Rad – wenn viele Räder ein Fahrzeug bilden

Nicht immer wird marschierend oder festgeklebt demonstriert. Ein neueres Format bildet, als legale Fahrradvariante des Flashmobs, die „Critical Mass“: Radfahrer können gem. § 27 STVO ab 16 Rädern einen Verband bilden und nutzen diese “kritische Masse” zunehmend, um für Rechte von Radfahrern zu demonstrieren. Die Critical Mass ist nicht anmeldepflichtig, da von der StVO erlaubt, und sie gilt als „geschlossener Verband“, als einzelnes Fahrzeug. Das räumt ihr im Straßenverkehr Rechte ein: Wenn das erste Fahrrad eine Ampel bei grün passiert hat, darf der gesamte Verband geschlossen folgen, auch wenn es zwischendurch rot wird. Das kann, ganz ohne Rechtsverstoß und je nach Zahl der Radler, auch Eindruck hinterlassen.

 

Dr. Renate Mikus

Assessorin iur. Fachautorin, Freiburg
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