15.03.2021

Wenn die Wähler nicht das letzte Wort haben

Zu den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg

Wenn die Wähler nicht das letzte Wort haben

Zu den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg

Das Landeswahlrecht in Baden-Württemberg ist von einer Singularität geprägt, die in keinem anderen Bundesland anzutreffen ist. ©VRD - stock.adobe.com
Das Landeswahlrecht in Baden-Württemberg ist von einer Singularität geprägt, die in keinem anderen Bundesland anzutreffen ist. ©VRD - stock.adobe.com

Das deutsche Wahlrecht folgt einem hybriden Verfahren mit zwei Stimmen. Wie im Bund gilt das auch in 12 von 16 Bundesländern. Ausgenommen sind davon Bremen, Hamburg, Saarland und Baden-Württemberg. Zwei konkurrierende Stimmen sind immer auch zwei konkurrierende Wahlen.

I. Rheinland-Pfalz

In Rheinland-Pfalz gilt das Prinzip der „personalisierten“ Verhältniswahl. Der Landtag besteht aus „mindestens“ 101 Abgeordneten. Davon werden 51 mit der Wahlkreisstimme und 50 mit der Landesstimme gewählt und zwar mit geschlossenen Listen der einzelnen Parteien. Statt einer Landesliste können die Parteien auch Listen für vier Bezirke aufstellen, in die das Wahlgebiet unterteilt ist. Die gespaltene Abstimmung, das sog. Stimmensplitting, ist möglich. Die Wähler können also mit der Wahlkreisstimme parteipolitisch anders wählen als mit der Landes- bzw. Bezirksstimme. Überhang- und Ausgleichsmandate haben bei Landtagswahlen bisher noch nie eine Rolle gespielt, obwohl die 50 Listenplätze gegenüber den 51 Wahlkreisen leicht in der Unterzahl sind. Auch ist nicht zu übersehen, dass bei der Bundestagswahl von 2017 allein in Rheinland-Pfalz drei Überhänge und vier Ausgleichsmandate entstanden sind.

Die Wahl erfolgt nach dem sog. Grabensystem. Bei den ausschlaggebenden Zweitstimmen erreichte die SPD eine Quote von 35,7 %; die CDU eine von 26,9 %; die FDP überstieg die Sperrklausel mit 5,5 %; die Grünen erlangten einen Anteil von 8,0 %; die AfD von 9,3 %; und die Freien Wähler zogen mit einem Zweitstimmenanteil von 5,8 % in den Landtag ein. Das Ergebnis ist vorläufig. Das endgültige Wahlergebnis wurde 2016 erst nach 11 Tagen verkündet. Es muss sich erst noch zeigen, inwieweit die wie durch einen tiefen Graben voneinander getrennten Ergebnisse der Erststimmen- und der Zweitstimmen-Wahl bei allen Parteien der einzelnen Regionen deckungsgleich sind.


Außerdem soll hier nicht verschwiegen werden: Das duale Wahlsystem ist für den Bund unter dem Datum v. 02.02.2021 von FDP, Linken und Grünen zum Gegenstand einer Normenkontrollklage nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 Grundgesetz gemacht worden. Nach dem in Art. 28 GG niedergelegten Homogenitätsgebot kann im Land nicht verfassungskonform sein, was im Bund regelwidrig wäre. Überraschungen sind also möglich.

II. Baden-Württemberg

Das Landeswahlrecht in Baden-Württemberg ist von einer Singularität geprägt, die in keinem anderen Bundesland anzutreffen ist. „Jeder Wähler hat eine Stimme.“ So heißt es § 1 Abs. 3 LWahlG. Es gibt außerdem keine Landeslisten der einzelnen Parteien. Allerdings wurde der erste Deutsche Bundestag im Jahre 1949 nach dem gleichen Verfahren gewählt. „Der Landtag setzt sich aus mindestens 120 Abgeordneten zusammen.“ (§ 1 Abs 1 LWahlG). Zu den 70 Direktmandaten in den Wahlkreisen kommen mindestens 50 weitere Sitze in vier Bezirken (Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Tübingen) hinzu. Sie werden nach den Grundsätzen der Verhältniswahl auf die einzelnen Parteien verteilt. Mit dem Übergewicht der 70 Direktmandate gegenüber den 50 Listenplätzen wird der Trend begünstigt, dass es zu Überhängen kommt, dass also die Listenplätze bei einzelnen Parteien in vier Regionen hinter den von ihr erzielten Direktmandaten zurückbleiben.

Weil die 50 weiteren Sitze nicht mehr mit den 70 – bereits vergebenen – Erstmandaten besetzt werden können, kommen ersatzweise nun Abgeordnete zum Zuge, die im Wahlkreis verloren haben und deshalb das „Zweitmandat“ erhalten. Gelegentlich wird diese Verfahrensweise als „De-Facto-Liste“ bezeichnet. Es ziehen also auch Abgeordnete in den Landtag ein, die in den Wahlkreisen verloren haben – eine ebenso ungewöhnliche wie „schräge Idee“.

Bei der letzten Wahl am 13.03.2016 sind nicht 120, sondern 143 Abgeordneten in den Stuttgarter Landtag eingezogen. Es gab also wesentlich mehr Mitglieder im Landtag als regulär Sitze zur Verfügung stehen. Wie ist das möglich? In 70 verschiedenen Wahlkreisen gibt es landesweit nur 70 verschiedene Stimmzettel, auf denen jeweils nur ein Abgeordneter namentlich gekennzeichnet werden kann. Weil es nur eine Stimme gibt und weil eine Landesliste fehlt, bleibt für Überhänge eigentlich gar kein Raum. Trotzdem gehören gerade in Baden-Württemberg Überhang und Ausgleich zum gewohnten Erscheinungsbild aller Landtagswahlen. Niemals zogen genau 120 Mitglieder in den Landtag ein. Immer waren es mehr.

 

Landtagswahlen in Baden-Württemberg seit 1996*

Wahljahr 1996 2001 2006
Überh. + Ausgl. 35 8 19

 

Wahljahr 2011 2016 2021
Überh. + Ausgl 18 23 34 **

Quelle: Landeswahlleiter

* Vorläufiges Wahlergebnis. ** Nach Berechnungen des ZDF.

 

In Art. 28 Abs. 1 der Landesverfassung heißt es: „Die Abgeordneten werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.“ Doch wenn es nur eine Stimme und neben den Wahlkreisbewerbern gar keine Landeslisten gibt, kann es natürlich auch keine Verbindung von Persönlichkeits- und Verhältniswahl geben. So ist es aber nicht. Tatsächlich gibt es im Landtag regulär – also ohne Überhang und ohne Ausgleich – 120 Sitze, aber nur 70 Wahlkreise. Hinzukommen 50 sog. „Zweitmandate“, die nach den Grundsätzen der Verhältniswahl auf die Parteien in den vier Bezirken verteilt werden.

Zweitmandate sind Sitze für Zweitplatzierte in den Wahlkreisen, also für die sog. “Lucky Loser“. Es ziehen demnach auch Wahlverlierer in den Landtag ein. Und das allein ist schon höchst gewöhnungsbedürftig, weil es für Wahlverlierer natürlich keine Wählerstimmen geben kann. Eine Wählerstimme ist immer eine „Ja-Stimme“ und niemals eine „Nein-Stimme“. Würde ein Wähler versuchen, auf dem Stimmzettel kenntlich zu machen, wen er nicht gewählt hat, wäre er ungültig. Und Abgeordnete, die nicht gewählt worden sind, ziehen nun einmal grundsätzlich nicht in die Landtage ein.

Wie gesagt, der Wähler hat nur eine Stimme, und Landeslisten für die Kandidaten der Parteien gibt es in Baden-Württemberg nicht. Das Wahlergebnis wird – wie bei den Bundestagswahlen von 1949 – aber zweimal ausgezählt. Zuerst sind die Erstmandate, also die 70 Direktmandate, zu ermitteln. Gewählt ist, wer im Wahlkreis die meisten Stimmen erreicht hat (Einfache Mehrheit). Die verbleibenden 50 Sitze werden – nachdem die Wahllokale geschlossen sind – auf die einzelnen Parteien in den vier Wahlbezirken Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Tübingen verteilt. Die Parteien erhalten also – außerhalb der unmittelbaren Wahl – einen „Nachschlag“ von 50 Zweitmandaten. Und dieser Nachschlag ist von vorne herein kleiner als die Zahl der Wahlkreise, d.h. kleiner als die 70 verfügbaren Direktmandate. Es verwundert daher nicht, dass bei einzelnen Parteien die nachträglich verteilten Listenplätze hinter den Direktmandaten zurückbleiben und sog. Überhänge entstehen.

Hinzu treten die Ausgleichsmandate, die den Wählern nachträglich oktroyiert werden. 2016 waren es acht Überhänge zu Gunsten der Grünen. Davon vier (grüne) Überhänge im Regierungsbezirk Stuttgart; drei im Bezirk Karlsruhe; und ein Überhang in Freiburg. Hinzu kamen insgesamt 15 Ausgleichsmandate für die anderen Parteien in den verschiedenen Bezirken. Davon sieben allein bei der CDU, und zwar jeweils drei in den Bezirken Stuttgart und Karlsruhe; und ein Ausgleich in Freiburg. Und natürlich haben vor allem die beiden Koalitionsparteien, Grüne und CDU, als die größten Profiteure des Verfahrens kein Interesse daran, dieses für sie so günstige System zu ändern.

Nach Berechnungen des ZDF ist 2021 insgesamt wiederum mit etwa 34 Überhang- und Ausgleichsmandate zu rechnen. Wer davon profitiert, verschweigt das ZDF. Wie bei früheren Wahlen wird das endgültige Wahlergebnis auch in Baden-Württemberg mehr als zwei Wochen auf sich warten lassen. Für Überhänge und Ausgleichsmandate interessiert sich zu diesem Zeitpunkt niemand mehr.

Insgesamt ergibt sich für die Landtagswahl in Baden-Württemberg nach wie vor die folgende Bewertung:

  1. Das eigentümliche Verfahren mit Erst- und Zweitmandat ist ein völlig überfrachtetes, für den gewöhnlich anzutreffenden Wähler nicht mehr durchschaubares Konstrukt. Vor allem die Ausgleichsmandate werden den Wählern nachträglich oktroyiert. Ihnen fehlt die demokratische Legitimation durch eine basisdemokratische Urwahl im Wahlvolk. Stimmen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Wer das Wahlergebnis nachträglich ausgleicht, der verfälscht es auch.
  2. Überhangmandate sind keine überzähligen Direktmandate, und schon gar nicht Mandate, die einem direkt gewählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustehen. Überhänge sind vielmehr ein Abstand, im Fall von Baden-Württemberg also eine Differenz zwischen Erst- und Zweitmandaten in den vier Regierungsbezirken. Gesetzt den Fall, ein Abgeordneter würde tatsächlich ein Erstmandat bekleiden, das ihm in Wahrheit nicht zusteht, weil es nicht durch ein Zweitmandat gedeckt ist, könnte er gar nicht den Landtag einziehen. Steht dem Abgeord­neten sein wohlerworbenes Erstmandat aber zu, dann entfällt der Rechtsgrund für den Mandatsausgleich bei den Zweitmandaten.
  3. Der Mandatsausgleich lässt sich nicht auf den Willen der Wähler zurückführen. „Ausgleichssitze sind Zusatzsitze.“ (Vgl. Strelen/Schreiber, 2017, §. 6, Rdnr. 29.)
    „Wählbar ist jeder Wahlberechtigte“. So ist es in § 9 Abs. 1 LWahlG niedergelegt. Politische Parteien können selbst nicht aktiv wählen und deshalb auch nicht passiv gewählt werden.
    Immerhin konnten 2016 die Grünen 46 von 70 Wahlkreise das Erstmandat gewinnen. 2021 wird mit einem vergleichbaren Ergebnis gerechnet. Damit ist die irrige Auffassung widerlegt, in einer klassische Direktwahl nach den Westminster-Modell könnten die Grünen, die Linken und die FDP nur ausnahmsweise in den Wahlkreisen den Sieg erlangen.

Zum Autor

Dr. Manfred C. Hettlage lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist und Blogger mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, zuletzt „One man one vote – eine Stimme ist genug“, 2019 (ISBN 978-3-96138-100-5) und „BWahlG Gegenkommentar, 2. Auflage 2018, (ISBN 978-3-96138-053-4).

 
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