22.03.2021

Jobcenter muss zu hohe Unterkunftskosten übernehmen

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 20.05.2020

Jobcenter muss zu hohe Unterkunftskosten übernehmen

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 20.05.2020

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat entschieden, dass das Jobcenter aufgrund der neuen Sonderregelung in § 67 Abs. 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende) auch unangemessen hohe Mietkosten einer schon seit längerem im Leistungsbezug stehenden Bedarfsgemeinschaft weiter übernehmen muss. Die Entscheidung erging im vorläufigen Rechtsschutz.

Anzuwenden war die befristete Sonderregelung für die Corona-Pandemie

§ 67 Abs. 3 SGB II wurde i. R. d. Sozialschutz-Paketes I eingeführt. Die Bestimmung regelt die Anerkennung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung während der Krisenzeit. Dabei entfällt die Prüfung der Angemessenheit der Aufwendungen für einen Zeitraum von sechs Monaten durch eine Fiktion der Angemessenheit. Die von den Auswirkungen der Pandemie Betroffenen sollen sich nicht auch noch um ihren Wohnraum sorgen müssen. Nach Ablauf von sechs Monaten findet wiederum die Frist des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II Anwendung. Danach werden die tatsächlichen Aufwendungen, auch soweit sie unangemessen sind, weiter als Bedarf anerkannt, solange es den Leistungsberechtigten nicht möglich oder nicht zumutbar ist, die Kosten zu senken, und zwar i. d. R. höchstens für sechs (weitere) Kalendermonate. Eine bereits bestandskräftige Kostensenkung hat jedoch Bestand (hierzu BT-Drs. 19/18107).

Wohnkosten waren unangemessen hoch

Den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bei dem SG hatte eine alleinerziehende Mutter aus Berlin-Steglitz gemeinsam mit ihren beiden minderjährigen Kindern gestellt. Die Bedarfsgemeinschaft bezieht seit Oktober 2018 durchgehend von dem zuständigen Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Mit Schreiben vom Juli und September 2019 hatte das Jobcenter mitgeteilt, dass die für die Drei-Zimmer-Wohnung zu entrichtende Bruttowarmmiete von 990 € nach den entsprechenden Verwaltungsvorschriften unangemessen hoch sei. Die Miete werde daher nur noch bis einschließlich März 2020 in voller Höhe übernommen. Ab 01.04.2020 würden nur noch die als angemessen erachteten Unterkunftskosten von 795 € gewährt.


Bedarfsgemeinschaft bemühte sich vergeblich um eine günstigere Wohnung

Nachdem die Mutter sich erfolglos bemüht hatte, eine kostenangemessene Wohnung zu finden, beantragte sie am 06.02.2020 bei dem Jobcenter die Weiterbewilligung von Leistungen. Das Jobcenter gewährte mit Bescheid vom 18.03.2020 und Änderungsbescheid vom 23.04.2020 Leistungen unter Berücksichtigung der als angemessenen erachteten Bedarfe für Unterkunft und Heizung von monatlich 795 € bruttowarm. Die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft stellten am 12.05.2020 bei dem SG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Trotz intensiver Bemühungen im angespannten Berliner Wohnungsmarkt sei keine nach den Maßstäben des Jobcenters angemessene Wohnung zu finden gewesen. Wegen der COVID 19-Pandemie würden derzeit auch keine Wohnungsbesichtigungen mehr angeboten. Eine Senkung der Unterkunftskosten sei daher aktuell nicht möglich.

Das SG gab dem Antrag auf Eilrechtsschutz statt

Das SG verpflichtete das Jobcenter im Wege der einstweiligen Anordnung, die vollen Kosten für Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 01.04.2020 bis 30.09.2020, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu gewähren. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung i. H. d. tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Vorliegend überstiegen die Mietaufwendungen der Bedarfsgemeinschaft die Angemessenheitswerte deutlich.

Die Kostensenkungsaufforderung war nicht zu beanstanden

Nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II sind die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung, soweit sie den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, so lange als Bedarf anzuerkennen, wie es der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, i. d. R. jedoch längstens für sechs Monate. Das Jobcenter hatte die Mutter nachvollziehbar aufgefordert, die Unterkunftskosten zu senken. Die von ihm bis 31.03.2020 gesetzte Frist war bei Zusendung der Kostensenkungsaufforderungen angemessen.

Klärungsbedarf bzgl. ausreichender Bemühungen um eine andere Wohnung war nicht erforderlich

Das SG konnte die Fragen offenlassen, ob es der Bedarfsgemeinschaft möglich war, eine kostenangemessene Wohnung zu finden, ob die Suchbemühungen ausreichten sowie ob und inwieweit angesichts der COVID 19-Pandemie eine längere Kostensenkungsfrist geboten wäre. Denn der Gesetzgeber hat in Folge der Corona-Pandemie mit der befristeten Sonderregelung in § 67 SGB II die Voraussetzungen für den Zugang zur sozialen Sicherung erleichtert.

Die Sonderregelung des § 67 Abs. 3 SGB II gilt auch für Bestandsfälle

Nach dem mit Wirkung zum 28.03.2020 eingeführten § 67 Abs. 1 SGB II werden Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 01.03.2020 bis zum 30.06.2020 beginnen, nach Maßgabe von § 67 Abs. 2 bis 4 SGB II erbracht. Die Vorschrift findet hier Anwendung, da der mit den angegriffenen Bescheiden begründete Bewilligungszeitraum am 01.04.2020 beginnt und § 67 SGB II auch für Weiterbewilligungsanträge gilt. Nach dem klaren Wortlaut des § 67 SGB II ist auch nicht darauf abzustellen, wann der (Weiter-)Bewilligungsantrag gestellt oder wann über den Antrag entschieden wurde. Dies folgt für Abs. 3 aus der Systematik der Vorschrift, da § 67 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 SGB II sich in ihrem Regelungsgehalt einzig auf Weiterbewilligungsentscheidungen beschränken.

Anders wäre zu entscheiden, wenn die Kostensenkung bereits vor März 2020 eingetreten wäre

Die Neuregelung berücksichtigt damit nicht nur Erleichterungen für Neuantragsteller, sondern auch die mit der Pandemie verbundenen Schwierigkeiten, derzeit eine neue Unterkunft zu finden. Nachvollziehbar stellt die Vorschrift darauf ab, ob sich im letzten Bewilligungszeitraum (also vor dem 01.03.2020) das Risiko zu hoher Unterkunftskosten schon zu Lasten der Leistungsberechtigten (durch Beschränkung des zu berücksichtigenden Bedarfs) verwirklich hat. Das war vorliegend nicht der Fall. Die Kostensenkungsfrist lief erst nach Inkrafttreten des § 67 SGB II ab. Das Jobcenter war somit durch das SG im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorübergehend die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung bei der Bedarfsbemessung zu berücksichtigen.

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 20.05.2020 – S 179 AS 3426/20 ER –.

FstBW

 

Dr. Martin Kellner

Richter am Sozialgericht Freiburg i. Br.
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