09.01.2023

Warum bei der Zwangsanwendung zur Durchsetzung strafprozessualer Befugnisse das Polizeirecht anzuwenden ist

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Entscheidung des OLG Dresden vom 01.08.2001 (Az. 3 Ss 25/01)

Warum bei der Zwangsanwendung zur Durchsetzung strafprozessualer Befugnisse das Polizeirecht anzuwenden ist

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Entscheidung des OLG Dresden vom 01.08.2001 (Az. 3 Ss 25/01)

Ein Beitrag aus »Sächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
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Der durch Polizeibeamte ausgeübte Zwang im Strafprozessrecht zur Durchsetzung von Befugnissen ist nach der hier besprochenen Rechtsprechung des OLG in die Befugnis selbst hineinzulesen – was verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet und vor dem Hintergrund eines bereits bestehenden, aber nicht zur Anwendung gebrachten Regelungssystems im Polizeirecht abzulehnen ist. Vermeintliche systematische Bedenken können durch die Figur eines Verwaltungsaktsäquivalents ausgeräumt werden.

I. Einleitung

Die Polizei als Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft ist zur Umsetzung der Strafprozessordnung im Ermittlungsverfahren berufen. Dass sie dabei notfalls Zwang anwenden darf, ist eindeutig.

Auf welche gesetzliche Grundlage der Zwang gestützt werden kann, ist hingegen umstritten. Insbesondere wird vertreten, dass die dezidierten Regelungen zum unmittelbaren Zwang in den Polizeigesetzen der Länder auf strafprozessuale Sachverhalte keine Anwendung finden sollen. Warum diese, auch vom OLG Dresden vertretene Ansicht rechtlich fehlgeht, ist Gegenstand dieses Beitrags.


II. Aussage der Entscheidung

Das OLG Dresden befasste sich in seiner Entscheidung vom 01.08.2001 mit polizeilichen Maßnahmen zur Ermöglichung einer nach der Strafprozessordnung angeordneten Blutentnahme.

Die Rechtmäßigkeit der dahingehenden polizeilichen Zwangsanwendung bewertete es unmittelbar nach der Strafprozessordnung – für eine direkte oder analoge Anwendung des Polizeirechts[1] sahen die Richter keine Grundlage. Die für Strafverfolgungsmaßnahmen geltende StPO[2] sei für die Beurteilung maßgeblich. Die Vorschriften über die Befugnisse der Strafprozessordnung seien dahingehend auszulegen, dass sie deren zwangsweise Durchsetzung in Form von Vorbereitungs- und Vollziehungsmaßnahmen mit enthielten, soweit diese notwendig und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck angemessen seien.[3]

Als Orientierungsmaßstab für den mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit können Vorschriften über den unmittelbaren Zwang der jeweils geltenden Polizeigesetze (in Sachsen für Landespolizeibeamte nunmehr §§ 39 ff. des Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes – SächsPVDG) herangezogen werden,[4] die insoweit die positiv-rechtliche Ausprägung des (verfassungsrechtlichen) Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind. Hieraus ergäbe sich auch die Androhung des unmittelbaren Zwangs als wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens.[5]

Unter Berufung auf die Zuständigkeitsregelungen in § 2 SächsPVDG[6] finden, dem Senat nach, wegen der Gesetzessystematik und dem Zweck die Vorschriften der Landespolizeigesetze keine Anwendung. Deren Regelungen beschränkten sich auf die allgemeine Gefahrenabwehr einschließlich der Störungsbeseitigung, soweit die öffentliche Sicherheit oder Ordnung betroffen ist; damit bildeten die Polizeigesetze die Grundlage für das – und nur das – präventive Handeln der Polizei.

III. Befürwortende Stimmen

Vereinzelte Literaturstimmen folgen dieser Rechtsauslegung. Gusy etwa verwirft die Anwendbarkeit der Polizeigesetze mit der Begründung, das polizeiliche Vollstreckungsverfahren habe nur präventive Aufgaben, eine repressive Bedeutung im Sinne der Sanktionierung abweichenden Verhaltens sei ihm fremd.[7]

Aus dem Bereich der Strafprozessliteratur vertreten Wohlers/Greco die Ansicht, es handele sich bei den Befugnissen der Strafprozessordnung historisch um Zwangsmaßnahmen, die heute anders benannt werden, insoweit umfassten sie die Ermächtigung zu typischerweise unerlässlichen und gleichzeitig verhältnismäßigen Begleitmaßnahmen.[8]

IV. Gegenauffassung

1. Verfassungsrecht

Wenngleich sich das OLG Dresden auf Verfassungsprinzipien beruft, schafft es mit seiner Entscheidung mehr verfassungsrechtliche Probleme als es löst – obwohl dies vermeidbar wäre. Selbst wenn die Strafprozessordnung zurecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG als Bundesrecht erlassen werden durfte,[9] so sind für deren Ausführung die Länder im Sinne der Art. 83 ff. GG zuständig. Der Vollzug des Strafverfahrensrechts liegt im Gegensatz zum Erlass grundsätzlich bei den Ländern.[10] Es obliegt schlechthin den Ländern, die prinzipielle Ausgestaltung der eigenen Vollzugsorganisation im Bereich der Ausführung der Bundesgesetze zu regeln.[11]

Dass der Vollzug der Gesetze durch die Länder erfolgt, liegt angesichts der Ausgestaltung sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Polizei Sachsen als Landesbehörden auf der Hand. Die hierdurch vermittelte Organisations- und Verwaltungsverfahrensfreiheit erlaubt es der Polizei, landeseigene Regeln über die Art und Weise der Gesetzesausführung aufzustellen.[12] Für die über § 152 GVG i. V. m. § 163 StPO der Polizei übertragenen Ermittlungsaufgaben für die Staatsanwaltschaft, selbst in Weisungsgebundenheit, hält die Strafprozessordnung Befugnisse für einzelne Maßnahmen im Ermittlungsverfahren vor – ihre zwangsweise Durchsetzung regelt sie indes nicht.[13]

Anders als von Wohlers/Greco[14] behauptet, beschränken sich ihre Regelungen auf die Verleihung von Befugnissen und lassen damit Raum für die verfassungsrechtlich vorgesehene Ausgestaltung der Art und Weise ihrer Durchsetzung durch den Landesgesetzgeber.[15] Gerade für Zwangsmaßnahmen lässt sich diese landesrechtliche Kompetenz ideal subsumieren: Die Art regelt, welche Zwangsmittel zur Anwendung kommen dürfen, die Weise die konkrete Ausgestaltung ihrer Vornahme.

Dass der Erlass von normkonkretisierenden Vorschriften zwingend notwendig erscheint, verdeutlichen die aus Art. 20 Abs. 3 GG[16] abzuleitenden Grundsätze des Vorbehalts des Gesetzes und die Erfordernisse hinreichender Bestimmtheit und Normenklarheit als besondere verfassungsrechtliche Wirksamkeitsvoraussetzungen in Ausprägung der Gewährleistung der Rechtssicherheit.[17] Die Reichweite des Vorbehalts des Gesetzes erstreckt sich vor allem auf grundrechtsrelevante Eingriffe.[18] In diesem Rahmen sind alle wesentlichen Entscheidungen, die für die Verwirklichung der Grundrechte erhebliche Bedeutung haben,[19] durch den Gesetzgeber zu treffen.[20]

Die mit dem polizeilichen Zwang einhergehende Beugefunktion[21] greift regelmäßig erheblich in Grundrechte ein, indem Zwangsmaßnahmen nicht nur die selbstbestimmte Entscheidungsfreiheit der betroffenen Grundrechtsträger einschränken, sondern durch den Zwang ein anderes, durch die Verwaltung auferlegtes Verhalten erzwungen werden soll. Hierbei kann der Umfang der infrage kommenden Grundrechtseingriffe unterschiedlich weit reichen: von der Einschränkung der Handlungsfreiheit, etwa bei der Androhung, bis hin zu lebensverkürzenden Maßnahmen, wie beim Schusswaffengebrauch.

Mögen das OLG Dresden und die ihm zustimmenden Literaturmeinungen dieses grundlegende Verfassungsprinzip mit dem Erlass der Regelungen in der Strafprozessordnung auch als erfüllt ansehen, so enthalten die dahingehenden Befugnisse doch keine inhaltlichen Maßgaben für die Zwangsausübung. Ihr Fehlen stellt einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz dar. Nach diesem Rechtsstaatsgebot muss das Handeln des Staates messbar und in gewissem Ausmaß für den Bürger voraussehbar und berechenbar sein.[22]

Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots wachsen mit der Intensität der Einwirkungen auf den Regelungsadressaten,[23] mithin mit der Intensität des Grundrechtseingriffs.[24] Je schwerwiegender die Auswirkungen einer Regelung sind, desto genauer müssen die Vorgaben des Gesetzgebers ausfallen.[25] Mit der Frage, welchen Mindestinhalt Normen aufweisen müssen, die zur Anwendung unmittelbaren Zwangs ermächtigen, beschäftigten sich bereits die Vereinten Nationen. Zum Schusswaffengebrauch formulierte der 8. Kongress im Jahr 1990 nachfolgende Voraussetzungen, die gesetzliche Ermächtigungen mindestens beinhalten müssen. [26]

Neben verwaltungstechnischen und verfahrensgewährleistenden Anforderungen[27] für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit Polizeibefugnissen[28] habe eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage[29] für den Schusswaffeneinsatz den Zweck, welcher in der Festnahme von Tätern und Verhinderung von Flucht bestehen kann,[30] den tödlich wirkenden Schuss,[31] ferner die Androhung[32] und die Verhältnismäßigkeit[33] zu regeln. Vor dem Hintergrund, dass auch in Deutschland ein Schusswaffeneinsatz zur Durchsetzung strafprozessualer Befugnisse Anwendung finden kann,[34] eignen sich die vorgenannten Grundprinzipien nicht nur zur Konkretisierung des ihr zugrunde liegenden Menschenrechtsverständnisses, sondern auch zur Konkretisierung der Mindestvoraussetzungen für den grundgesetzlich gebotenen Bestimmtheitsgrundsatz.

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Sächsische Verwaltungsblätter, 11/2022, S. 305.

[1] Zur Zeit der Entscheidung war das SächsPolG in Kraft, für die weiteren Ausführungen wird auf die aktuelle Rechtslage des Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes (SächsPVDG) Bezug genommen. Inhaltlich haben sich im Zuge der Gesetzesnovellierung für den polizeilichen Zwang keine wesentlichen strukturellen oder befugnisbezogenen Änderungen ergeben.

[2] Im konkreten Fall bezogen sich die Ausführungen auf die Befugnisnorm des § 81 a StPO.

[3] Unter Berufung auf: Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 81 a Rn. 18.

[4] Unter Berufung auf: OLG Koblenz, VRS 54, 357; Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl., § 113 Rn. 16 a m. w. N.

[5] Oft zitierter Grundsatz in Literatur und Rechtsprechung.

[6] Vormals § 1 SächsPolG.

[7] Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2017, Rn. 437.; ebenso: Graulich, in: Lisken/Denninger, PolR-HdB, E, Rn. 899.

[8] Wohlers/Greco, in: Wolter, SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 94 Rn. 1 und § 105 Rn. 63.

[9] Kment, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 74 Rn. 9 f.

[10] Bäcker, in: Lisken/Denninger (Fn. 7) Rn. 101.

[11] Suerbaum, in: BeckOK GG, 50. Ed. 15.02.2022, Art. 84 Rn. 22.

[12] Vgl. Wolff, in: Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 84, Rn. 3.

[13] Bis auf vereinzelte Einschränkungen für Zwangsbefugnisse: bsp. § 136 a StPO; vgl. zusammenfassende Aufarbeitung der Rechtslage in: Nerlich, Eingriffsrecht Brandenburg, 2. Aufl. 2021, S. 257 f., m. w. N.

[14] Wolter (Fn. 8), vor § 94, Rn. 1.

[15] Schmitt, In: Meyer-Goßner, StPO, 65. Aufl., Einl. Rn. 46.

[16] Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Fn. 9), Art. 20 Rn. 69 ff. m. w. N.

[17] Antoni, in: Hömig/Wolff (Fn. 12), Art. 20 Rn. 11.

[18] Jarass (Fn. 16), Art. 20 Rn. 72.

[19] BVerfGE 95, 267, 308; 98, 218, 251; 111, 191, 216 f.; 133, 141, Rn. 126; 139, 19 Rn. 52; 150, 1 Rn. 196.

[20] BVerfGE 77, 170, 230 f.; 98, 218, 251; 101, 1, 34; 108, 282, 312, 136, 69 Rn. 102.

[21] Hyckel, LKV 2015, 300, 304; Waldhoff, JuS 2012, 1151.

[22] BVerfGE 56, 12; 108, 75; 110, 53, 53 f.; Antoni, in: Hömig/Wolff (Fn. 12), Art. 20 Rn. 12.

[23] BVerfGE 102, 254, 337; Jarass (Fn. 18), Art. 20 Rn. 84.

[24] BVerfGE 131, 88, 123; 149, 293, Rn. 77; Jarass (Fn. 16), Art. 20 Rn. 84.

[25] BVerfGE 93, 213, 238; 109, 133, 188; 110, 33, 55; Jarass (Fn. 16), Art. 20 Rn. 84.

[26] Basic Principles on the Use of Force and Firearms by Law Enforcement Officials-Adopted by the Eighth United Nations Congress on the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, Havana, Cuba, 27 August to 7 September 1990.

[27] Vorschriften über die Waffentragebefugnis und über erlaubte Waffen- (und Munitions-)Gattung (Specify the circumstances under which law enforcement officials are authorized to carry firearms and prescribe the types of firearms and ammunition permitted) und Verfahrensgarantien (Provide for a system of reporting whenever law enforcement officials use firearms in the performance of their duty.).

[28] Angenommen vom Achten Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger, der vom 27.08. bis zum 07.09.1990 in Havanna, Kuba, stattfand, und von der Generalversammlung durch Resolution 45/120 vom 14.12.1990 gebilligt.

[29] Der in der Originalfassung verwendete Begriff „rules and regulations“ wird mit Rücksicht auf die angesprochenen unterschiedlichen Rechtsräume für das deutsche Recht so zu verstehen sein, dass die Regelung auf den Erlass einer (gesetzlichen) Rechtsvorschrift abzielt und nicht auf „Regeln und Verordnungen“, wie es in der (offiziellen) Übersetzung von Christian Tomuschat heißt.

[30] Basic Principles on the Use of Force and Firearms by Law Enforcement Officials Nr. 9.

[31] Basic Principles on the Use of Force and Firearms by Law Enforcement Officials Nr. 9.

[32] Basic Principles on the Use of Force and Firearms by Law Enforcement Officials Nr. 10 und 11 e.

[33] Basic Principles on the Use of Force and Firearms by Law Enforcement Officials Nr. 11 b.

[34] Bsp. BGH, Beschl. v. 11.09.1997 – 4 StR 296/97 (LG Stralsund); Urt. v. 25.03.1999 – 1 StR 26/99 (LG Stuttgart).

 

Jacek Rulinski

Hochschule der Sächsischen Polizei (FH), Rothenburg/O.L.
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