25.06.2020

Vorschläge der EU-Kommission zum Wiederaufbaufonds

Die coronare Überdehnung der europäischen Verträge

Vorschläge der EU-Kommission zum Wiederaufbaufonds

Die coronare Überdehnung der europäischen Verträge

Die EU darf nach herrschender Meinung keine Anleihen ausgeben, um einen Beistand von Mitgliedstaaten zu finanzieren. | © Yeti Studio - stock.adobe.com
Die EU darf nach herrschender Meinung keine Anleihen ausgeben, um einen Beistand von Mitgliedstaaten zu finanzieren. | © Yeti Studio - stock.adobe.com

Die EU-Kommission glaubt offenbar, eine rechtliche Basis gefunden zu haben, um das Verschuldungsverbot der EU angesichts der tiefen Krise zu umgehen und so den stattlichen Betrag von 750 Mrd. € durch Emission von langlaufenden und nationalstaatlich garantierten Anleihen auf den Kapitalmärkten einwerben zu können.

Ist alles erlaubt, was nicht verboten ist?

Eigentlich heißt es in Artikel 310 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) klar: „Der Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen.“

Selbst wenn man als dies als nur formellen Haushaltsausgleich (analog zu Art. 110 GG) und nicht als materielles Verbot einer Schuldenaufnahme interpretiert, ist dies noch keine hinreichende Grundlage für eine auch nur partielle Kreditfinanzierung des EU-Haushalts.


Anders als seine historischen Vorgänger sah der EWG-Vertrag von Beginn an keine explizite Ermächtigung zur Anleihebegebung der Gemeinschaft vor. Diese Situation stellt sich bis heute weitgehend unverändert dar. Andererseits wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vertrag Anleihen auch nicht ausdrücklich aus dem Kreis der haushaltsmäßigen Finanzquellen ausnimmt.

Unionsbeistand aufgrund von außergewöhnlichen Ereignissen (Art. 122 AEUV)

Eine Möglichkeit der Finanzierung über Anleihen könnte über Artikel 122 AEUV erfolgen, der besagt: „Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission unbeschadet der sonstigen in den Verträgen vorgesehenen Verfahren im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen beschließen.“

Art. 122 Abs. 2 AEUV schließt eine Kreditaufnahme zwar nicht ausdrücklich aus, da die Form des finanziellen Beistandes in der Norm nicht näher konkretisiert wird; dies allein kann aber nicht für ihre Zulässigkeit sprechen.

Darüber hinaus ist jedoch mit Blick auf die Eignung des Art. 122 Abs. 2 AEUV als Rechtgrundlage für die Begebung von Anleihen eine haushaltsrechtliche Besonderheit zu beachten: Anleihe- oder Darlehensoptionen werden vom Rat – entgegen wiederholter Anregungen durch Parlament und Kommission – bislang nicht den allgemeinen Finanzierungsquellen zugerechnet und aus diesem Grunde nicht als Einnahmen und Ausgaben im Haushaltplan ausgewiesen.

Sie werden vielmehr lediglich in einer Anlage zum Einzelplan der Kommission auf der Ausgabenseite als Ansätze „zur Erinnerung“ („p.m.“-Vermerk) aufgenommen, die erst bei einer Inanspruchnahme von Eigenkapital, mithin im Insolvenzfall der Darlehensnehmer valutiert werden. Diese Nichtbudgetierung ist jedenfalls insoweit mit der vorliegenden Frage verbunden, als der Wortlaut des Art. 122 Abs. 2 AEUV, demzufolge der finanzielle Beistand von der Union gewährt wird, zum Ausdruck bringt, dass die Hilfen auf der Grundlage dieser Norm vollständig aus Mitteln des Unionshaushalts zu gewähren sind. Jedenfalls nach der gegenwärtigen haushaltsmäßigen Praxis würde im Falle einer Begebung von Anleihen zur Finanzierung des Beistandes jedoch „am Haushalt vorbei“ gehandelt. Wollte man also entgegen der hier vertretenen Ansicht eine beschränkte Anleihekompetenz der Union auf der Grundlage des Art. 122 Abs. 2 AEUV annehmen, müssten diese Anleihen wohl entgegen der Auffassung des Rates im Haushaltsplan ausgewiesen werden, wobei zusätzlich umstritten sein dürfte, welcher Kategorie des Art. 311 AEUV – Eigenmitteln oder „sonstigen Einnahmen“ – diese zuzurechnen wären.

Nach der überwiegenden Auffassung ist daher davon auszugehen, dass jedenfalls Art. 122 Abs. 2 AEUV allein keine hinreichende Ermächtigung für eine Finanzierung des Beistandes über Anleihen darstellt.

Eigenmittel der Union (Art. 311 AEUV)

Eine weitere Möglichkeit könnte sich über Art. 311 AEUV ergeben: „Die Union stattet sich mit den erforderlichen Mitteln aus, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik durchführen zu können.“

Der Begriff der Eigenmittel ist vertraglich nicht definiert. Gemäß Art. 311 Abs. 3 AEUV entscheidet vielmehr der Rat über die „Bestimmungen des Systems der Eigenmittel“. Die aktuelle Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union verweist in ihrem Art. 76 Abs. 1 auf den Eigenmittelbegriff des Beschlusses des Rates über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaft von 2007. Hierbei zählt Art. 2 des Beschlusses enumerativ die Formen der Eigenmittel auf. Eine verschuldensbasierte Finanzierung ist bis dato nicht vorgesehen und kann auch nicht einer der aufgeführten Einnahmequellen gleichgesetzt werden.

Bisweilen wird jedoch die Festsetzung des Eigenmittelsystems durch den Rat als nicht abschließend betrachtet. Jedenfalls ist ein abändernder Beschluss über das Eigenmittelsystem durchaus denkbar. Die Kommission hat etwa um eine Neugestaltung des Eigenmittelsystems gerungen und im Zuge des Finanzplans 2014-2020 auch über europäische Projektanleihen nachgedacht. Ebenso werden – ganz aktuell – im Rahmen der Verhandlungen des MFR 2021-2027 neue Eigenmitteltypen diskutiert. Konsequenterweise stellt sich die Frage, ob eine Kreditfinanzierung des Haushalts bei Ausweisung im Eigenmittelbeschluss als Einnahmequelle vertraglich zulässig wäre. Der immanente Begriffsgehalt der Eigenmittel dürfte jedoch auch durch einen Eigenmittelbeschluss nicht übergangen werden: So stellen die bisherigen Eigenmittel endgültige Finanzbeträge dar, wohingegen kreditfinanzierte Modelle Fremdmittel verkörpern, die zukünftig auf der Ausgabenseite wiederzufinden sind.

Auch eine bloß begriffliche Zuordnung der Kreditfinanzierung im dreistelligen Milliardenbereich zur „sonstigen Einnahme“ ist kein gangbarer Weg, da diese Kategorie im EU-Haushalt lediglich anderen Einnahmen von untergeordneter Bedeutung vorbehalten ist.

Abrundungskompetenz (Art. 352 AEUV)

Vielleicht könnte Artikel 352 AEUV einen Ausweg bieten: „Erscheint ein Tätigwerden der Union erforderlich, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und sind in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften.“

Auf Grundlage dieser sog. Abrundungskompetenz darf der Rat auf Vorschlag der Kommission und bei Zustimmung des Parlaments eine geeignete Vorschrift zur Verwirklichung der Vertragsziele erlassen. Eine „implizite Vertragsänderung“ anhand des Artikels 352 AEUV ist allerdings untersagt. Mit Blick auf den Haushalt geht Art. 311 AEUV vor. Zugleich ist die reine Mittelbeschaffung kein Unionsziel.

Unabhängig von der inhaltlichen Berechtigung der jeweils verfolgten Ziele ist daher festzustellen, dass auch Art. 352 AEUV stets überdehnt wird, wenn man ihm eine Verschuldungskompetenz entnimmt.

Fazit

Die EU darf also nach herrschender Meinung keine Anleihen ausgeben, um einen Beistand von Mitgliedstaaten zu finanzieren. Die Frage wird natürlich wieder einmal dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden, dessen Urteil – wie auch immer es ausfallen mag – umso folgenloser wäre, je weiter es nach dem Start eines kreditfinanzierten Wiederaufbauprogramms fällt.

Bisweilen wird die Handhabung der vertraglichen Rahmenbedingungen für die EU durch die (konsensuale) politische Praxis zum Anlass genommen, die „politische Qualität“ der Rechtsbestimmungen zu betonen und damit eine „Verschiebung des rechtlichen Rahmens“ zu rechtfertigen. Zu Ende gedacht, werden auf diese Weise aber gefährliche Freiräume eröffnet, so sehr sie im Einzelfall wünschenswert oder solidarisch erscheinen mögen. Es besteht die große Gefahr, dass die Bindungskraft des Rechts gegenüber der Macht grundsätzlich in Frage gestellt wird. In Bereichen, wo Ermessen eingeräumt ist bzw. Auslegungsspielräume bestehen, ist die Notsituation natürlich rechtskonform zu berücksichtigen. Eine rechtlich angreifbare Praxis jedoch wird nicht dadurch rechtmäßig, dass sie mit guter Absicht, konsensual und andauernd erfolgt.

 

Michael Heinrich

Dozent an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundeswehrverwaltung in Mannheim
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