16.07.2020

Gewaltexzess von Stuttgart

Diskussion und mögliche Konsequenzen

Gewaltexzess von Stuttgart

Diskussion und mögliche Konsequenzen

Die Täter, die nicht nur in Stuttgart mit diesem Verhalten auffällig sind, müssen klarer benannt und behandelt werden können. | © Henner - stock.adobe.com
Die Täter, die nicht nur in Stuttgart mit diesem Verhalten auffällig sind, müssen klarer benannt und behandelt werden können. | © Henner - stock.adobe.com

In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 kam es in Stuttgart-Mitte, nach einer Polizeikontrolle am Oberen Schlossgarten, zunächst zu einer Tumultlage, die in einer Verwüstungstour endete. Zeitweise waren 400–500 Personen beteiligt. Man suchte zunächst nach einem Begriff, um die Tätergruppen zu beschreiben. Nicht nur die Wortwahl, diese als „Party-Szene“ zu bezeichnen, bedarf der Diskussion, auch die Hintergründe der Taten und der Tatverdächtigen. Nach wie vor gibt es mehr Fragen als zufriedenstellende Antworten, um die Gewaltentladung mehrerer Hundert Menschen zu erklären.

Gewaltdynamik durch eine Mischgruppe

Die Kontrolle wurde offensichtlich durch Unbeteiligte gestört und die Polizisten angegriffen. Daran beteiligten sich weitere Personen, die auch antreffende Polizeikräfte mit Personenmehrheiten attackierten. Immer mehr und vor allem junge Menschen schlossen sich an und weiteten den Gewaltexzess auf den öffentlichen Raum und die ansässigen Geschäftszeilen aus. Einige plünderten Läden nach Zerstörung der Frontscheiben. Der Gesamtschaden ist gegenwärtig noch nicht beziffert.

Die erste Schadensbilanz der Nacht zog die Polizei: 32 Polizisten wurden verletzt, 12 Streifenwagen teilweise erheblich beschädigt. Die eingesetzten Tatmittel waren gefährliche Gegenstände, die neben Glasflaschen größtenteils vor Ort entwendet werden konnten: Stangen, Pfosten und Pflastersteine. Diverse Handyvideos dokumentieren die Gewalt, zeigen Angriffe auf einzelne Polizeibeamte, skandierte Rufe wie „fuck the police“ oder auch „Allahu akbar“ („Allah ist groß“) und insgesamt eine Situation völlig außer Kontrolle.


Die Frage nach den verschiedenen Einflussfaktoren

In der kriminologischen Betrachtung wird stets die Frage nach dem „Warum“ einer Tat gestellt: Welche Motive hatten die Gewalttäter? Welche Faktoren förderten die Gewalteskalation? Alleinig auf situative Einflüsse, wie Alkohol und Langeweile und den Aspekt des Jugendalters zu verweisen, reicht angesichts des Ausmaßes der Taten und Bandbreite an Gewalt nicht aus. Die Impulse aus der Kriminologie sehen die Beschränkungen im Zuge der Covid-19-Pandemie als wichtigen Anhaltspunkt (Christian Pfeifer), werten den Faktor Migration als weniger bedeutend als den gemeinsamen Hass auf die Polizei (Andreas Zick) oder sehen in den Krawallen insgesamt ein weniger markantes Gewaltereignis im Vergleich zu anderen, die sich in Deutschland bisweilen zugetragen haben (Rafael Behr). Eine rundum zufriedenstellende Erklärung kann jedoch kein Ansatz bieten. Und da es nicht nur bundes- sondern weltweit zu diversen Einschränkungen bezüglich des Corona-Virus kam, ist unklar, warum Stuttgart derartige Ausschreitungen erlebte.

Auch Vertreter der Politik versuchten, das Phänomen genauer einzuordnen. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) beschreibt die Angriffe von Stuttgart als „eine unheilvolle Mischung aus Migration, Alkohol, Langeweile und wohl auch Linksextremismus.“ Damit grenzt er das Phänomen deutlicher ein, als die Polizeiführung in Stuttgart dies mit der Umschreibung „Party-Szene“ tat und stellt zudem auch die Relevanz für Ermittlungen des Staatsschutzes heraus. Daher ist dieser Einfluss näher zu untersuchen: Die „Black Lives Matter“-Proteste, die zum Teil pauschale Benennung der Polizei als gewalttätig und rassistisch und die damit verbundene Generalverdächtigung der Polizei wird besonders von Angehörigen der linken Szene genutzt. Zu beobachten ist, dass linksextreme Gruppen dazu aufrufen, Kontrollmaßahmen der Polizei, insbesondere gegen Personen mit augenscheinlichem Migrationshintergrund, zu stören. Auch legen Video-Dokumente die Annahme nahe, dass es sich bei den vereinzelt vermummten Akteuren um Linksextreme handeln könnte.

Einmischung durch Dritte

Der Innenminister von Niedersachsen, Boris Pistorius (SPD) konstatiert, dass die Gewalt durch Dritte gegen Polizeibeamte auch außerhalb der Krawalle von Stuttgart zunehme. Demnach beobachte die Polizei, dass sich Personen, die nicht als polizeiliches Gegenüber behandelt werden (z.B. während einer Kontrolle oder Maßnahmen), in der Absicht einmischen, die polizeiliche Agitation bewusst zu stören. Dies deckt sich mit Aufrufen aus Antifa-Kreisen und anderen linken „Aktionsbündnissen“, die v.a. nach dem der Gewalttat von Hanau, bei der mutmaßliche Täter Tobias R. zehn Menschen und sich selbst tötete, der Polizei durch Kontrollen in Shisha-Bars Rassismus und eine Mitverantwortung vorwarfen. Trotz dessen, dass nun eine Umfrage ergab, dass die Polizei in Deutschland bei 85% der Befragten ein hohes Ansehen genieße, wiederholten sich die Vorwürfe vor allem auch durch die pauschale Übertragung der Polizeigewalt in den USA, die den Tod von George Floyd verursachte.

24 Tatverdächtige festgenommen

Auch in diesem Kontext ist der Faktor „Migration“ näher zu beleuchten. Dies umso mehr, als dass es nach den vorliegenden Videoaufnahmen vor allem junge Menschen mit augenscheinlichem Migrationshintergrund zu handeln scheint, die an dem Gewaltexzess beteiligt waren. Die Polizei nahm noch in der Nacht auf den 21. Juni 2020 insgesamt 24 Tatverdächtige im Alter von 15–33 Jahren vorläufig fest. Davon seien zwölf der Tatverdächtigen im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft (davon drei mit Migrationshintergrund), zwölf weitere Tatverdächtige besitzen eine andere Staatsbürgerschaft, als die deutsche. Angesichts der Gesamttäterzahl ist dieser Indikator der Tatverdächtigen nicht repräsentativ, dennoch erscheint ein Ausländeranteil von 50 % bereits markant. Es stellt sich daher die Frage, welchen Anlass junge Menschen mit ausländischen Wurzeln für den Gewaltexzess hatten und ob sich dieser von den Motiven der deutschen Tatverdächtigen unterscheidet. Diese Fragen und somit auch der Faktor „Migration“ sind relevant, sollen derartige Ausschreitungen künftig effektiv verhindert werden. Der Gewaltforscher Andreas Zick sah den Hass auf Polizeibeamte als verbindendes Element einer völlig heterogenen Gruppe. Entsprechend stellt sich die Frage, worauf sich diese ausgeprägte Abneigung begründet, welchen Einfluss die Stimmungsmache der letzten Wochen hatte etc.

Zerstörung von fremdem Eigentum

Die ausgeübte Gewalt der besagten Nacht bezog sich ebenfalls und sehr gravierend auf die Geschäfte. Die jungen Gewalttäter haben billigend in Kauf genommen, wirtschaftliche Existenzen zu zerstören und ihren Gewaltexzess durch Plünderungen ergänzt. Dieser Umstand kann nicht allein mit der Abneigung gegenüber Polizeibeamten begründet werden, auch wenn ähnliche Phänomene bereits in England und Frankreich beobachtet wurden. Auch müssten die Einschränkungen der Covid-19-Pandemie doch ebenso ein Bewusstsein dafür geschaffen haben, dass die Menschen allgemein darunter leiden – ganz besonders Laden-, Salon- und Restaurantbetreiber. Sollte also der unbefriedigte Wille einer jungen „Party-Szene“ in Kombination mit Alkohol, deren Zugang zu Clubs aktuell nicht gewährleistet ist, tatsächlich die Ursache für die ausgeprägte Abneigung gegenüber Polizeibeamte und die massive Zerstörung fremden Eigentums sein? Dann müssten solche Vorfälle in den kommenden Wochen zur Normalität werden und derartige Gewaltexzesse fortan zur jugendtypischen Delinquenz gehören. Es zeichnet sich ab, ganz so einfach kann die Antwort nicht sein.

Erstes Fazit

Die Stadt Stuttgart erwägt neben einer bereits umgesetzten stärkeren Polizeipräsenz ein Alkoholverbot für die Innenstadt. Die gegenwärtige aggressive Stimmung gegen Polizei- und Ordnungsbeamte kann durch ein Alkoholverbot alleine mit Sicherheit nicht in den Griff bekommen werden. Die Titulierung des „Reizklimas“, das aktuell in der Bevölkerung gegenüber der Polizei u.a. aufgrund von Corona herrsche, ist einerseits korrekt und auch im Alltag spürbar, andererseits zu allgemein, um einen derartigen Gewaltausbruch zu erklären. Denn die wenigsten Personen sehen sich dazu berufen, polizeiliche Maßnahmen zu stören und durch massive Gewalt Personen zu verletzen und das Eigentum anderer zu zerstören, auch wenn sie frustriert von den mit den Schutzmaßnahmen einhergehenden Einschränkungen sind. Auch ist die demonstrierte Zerstörungswut und Aggressivität kein genuines Attribut der Jugend oder einer „Party-Szene“. Die Täter, die nicht nur in Stuttgart mit diesem Verhalten auffällig sind, müssen klarer benannt und behandelt werden können.

Die gegenwärtige Verallgemeinerung trägt einerseits das Risiko einer Verharmlosung der Gewalttäter, sowie andererseits einer Verunglimpfung junger Menschen, die gerne friedlich zusammen feiern. Die Umstände näher zu durchdringen und die Faktoren genau auszuführen und gesamtgesellschaftlich zu behandeln, ist ein Appell, um nicht zu riskieren, dass das Feindbild Polizei in Deutschland gestärkt und Jugendliche undifferenziert zu potentiellen Gewalttätern erklärt werden, weil sie gerne zusammen feiern.

Der Beitrag gibt die persönliche Einschätzung der Autorin wieder.

 

Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl

Professorin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) Nordrhein Westfalen
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