10.04.2023

Spielautomaten – Verlängerung der Festsetzungsfrist für Vergnügungssteuer aufgrund von Steuerhinterziehung

Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 24.01.2022 – 2 S 3137/21

Spielautomaten – Verlängerung der Festsetzungsfrist für Vergnügungssteuer aufgrund von Steuerhinterziehung

Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 24.01.2022 – 2 S 3137/21

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Ein Unternehmen betreibt Spielautomaten mit Gewinnerzielungsmöglichkeit, die es u. a. in den Jahren 2013 bis 2016 in einem Lokal in einer nordbadischen Stadt aufgestellt hatte. Mit Schreiben vom 13.12.2019 teilte die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts (FA) der Stadt mit, dass gegen die Gesellschafter des Unternehmens ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt werde.

Im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens seien auch Sachverhalte ermittelt worden, welche die Vergnügungssteuer betreffen würden. Dem Schreiben beigefügt war eine tabellarische Aufstellung der nach den Ermittlungen der Steuerfahndungsstelle tatsächlich von dem Unternehmen in den Jahren 2013 bis 2016 erzielten Bruttokassenumsätze und der danach zu zahlenden Vergnügungssteuern.

Auf Grundlage dieser Tabelle setzte die Stadt mit Bescheid vom 22.05.2020 weitere Vergnügungssteuern für die Jahre 2013 bis 2016 im Rahmen einer Nachveranlagung mit ca. 68 000 € fest. Hiergegen erhob das Unternehmen Widerspruch und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids. Die Stadt lehnte die Aussetzung der Vollziehung ab und führte zur Begründung aus, die Steuerfahndung habe nach Rücksprache mitgeteilt, es bestünden hinsichtlich der Ermittlungsergebnisse keine ernstlichen Zweifel. Für die Jahre 2013 bis 2016 seien sowohl korrekte als auch manipulierte Auslesestreifen der Spielgeräte ausgelesen worden.


Dem dagegen gerichteten Eilantrag des Unternehmens hatte das Verwaltungsgericht (VG) zum überwiegenden Teil stattgegeben.

Zur Begründung hatte das VG zusammengefasst ausgeführt, dass Rechtsgrundlage für die Abänderung der Vergnügungssteuerbescheide für die Jahre 2013 bis 2016 die §§ 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c Kommunalabgabengesetz (KAG) i. V. m. § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) und § 9 Abs. 4 KAG sowie die Vergnügungssteuersatzungen der Stadt (VStS) seien.

Abgabenverkürzung durch die teilweise Manipulation von Auslesestreifen der aufgestellten Spielautomaten

Die Stadt habe die Vergnügungssteuern auf der Grundlage der vom FA festgestellten Bruttokassenbeträge aller Voraussicht nach auch zutreffend berechnet. Dabei habe sie der Besteuerung ohne weitere eigene Ermittlungen die mit Schreiben des FA vom 13.12.2019 übermittelten Bruttokassenbeträge zugrunde legen dürfen. Denn nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AO seien die Finanzämter zur Wahrung des Steuergeheimnisses nur zur Übermittlung der Besteuerungsgrundlage, hier der Bruttokassenbeträge, verpflichtet, ohne dass der Stadt ein weitergehendes Akteneinsichtsrecht zustehe.

Soweit das Unternehmen hiergegen einwende, es sei ihm nicht möglich, die tabellarische Mitteilung der Bruttokassenbeträge durch das FA nachzuvollziehen, und die Stadt habe es versäumt, ihrer Amtsermittlungspflicht nachzukommen, würden diese Einwände voraussichtlich nicht durchgreifen. Denn das zur Mitwirkung verpflichtete Unternehmen habe die Richtigkeit der Mitteilung des FA vom 13.12.2019 nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AO nicht durch substanziierte Einwände in Zweifel gezogen.

Dies wäre ihm jedoch ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen. Denn zum einen hätte es schon aufgrund der Kenntnis der innerbetrieblichen Abläufe zu dem der Mitteilung zugrunde liegenden und von der Stadt erhobenen Vorwurf der Abgabenverkürzung durch die teilweise Manipulation von Auslesestreifen der aufgestellten Spielautomaten und mithin zur Frage der Richtigkeit ihrer abgegebenen Steuererklärungen substanziiert Stellung nehmen können.

Vorinstanz hatte Verjährung der Steuerforderungen gesehen

Zum anderen stehe den Geschäftsführern des Unternehmens als Beschuldigten im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gem. § 147 Strafprozessordnung (StPO) anders als der Stadt im Rahmen von § 31 Abs. 1 AO ein Akteneinsichtsrecht zu, weshalb davon auszugehen sei, dass dem Unternehmen der konkrete Tatvorwurf bekannt geworden sei.

Daher genüge das pauschale Bestreiten der Nachvollziehbarkeit der Mitteilung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AO nicht. Allerdings dürfte die Neufestsetzung der Vergnügungssteuern für das 1., 3. und 4. Quartal 2013, für das 1., 2., 3. und 4. Quartal 2014 sowie für das 1., 2. und 3. Quartal 2015 aller Voraussicht nach rechtsfehlerhaft erfolgt sein, weil insoweit die vierjährige Festsetzungsfrist gem. § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c KAG i. V. m. § 169 Abs. 2 Satz 1 AO abgelaufen sein dürfte. Gem. § 170 Abs. 1 AO beginne die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden sei. Abweichend von Abs. 1 beginne die Festsetzungsfrist gem. § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c KAG i. V. m. § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO, wenn wie hier nach § 10 Abs. 1 Satz 1 VStS eine Steuererklärung einzureichen sei, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht werde, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folge, in dem die Steuer entstanden sei, es sei denn, die Festsetzungsfrist nach Abs. 1 beginne später.

Die Stadt könne sich nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht auf die verlängerte Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO berufen, da nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt sei, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung oder der leichtfertigen Steuerverkürzung erfüllt sei.

Beschwerde der Stadt hatte Erfolg

Gegen diese Entscheidung des VG richtete sich die Beschwerde der Stadt beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH) mit Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung hat der VGH im Wesentlichen ausgeführt, dass bei der Anforderung öffentlicher Abgaben für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen müssen oder die Vollziehung für den Abgabenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge haben muss.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Bescheids in diesem Sinne sind nach der ständigen Rechtsprechung des VGH nur dann anzunehmen, wenn ein Erfolg des Rechtsbehelfs in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als dessen Misserfolg. Ein lediglich als offen erscheinender Verfahrensausgang rechtfertigt im Hinblick auf die gesetzlich angeordnete sofortige Vollziehbarkeit von Abgabenbescheiden gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage nicht.

Es bestanden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Vergnügungssteuerbescheids. Das VG habe vielmehr zu Unrecht angenommen, dass hier mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die vierjährige Festsetzungsfrist gem. § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c KAG i. V. m. § 169 Abs. 2 Satz 1 AO zur Anwendung gelangt.

Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass hier die zehnjährige Festsetzungsfrist gilt

Unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens der Stadt ist vielmehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass hier die zehnjährige Festsetzungsfrist gem. § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c KAG i. V. m. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO gilt, die zum Zeitpunkt der Steuerfestsetzung mit Bescheid vom 22.05.2020 noch nicht abgelaufen war.

Bei der im Eilverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung lassen die vorliegenden Behördenakten unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten nur den Schluss zu, dass die Vergnügungssteuern, soweit sie mit Bescheid vom 22.05.2020 für die streitgegenständlichen Jahre 2013 bis 2016 nacherhoben wurden, vom Unternehmen hinterzogen wurden. Auf die Frage, wer die Steuerhinterziehung begangen hat, kommt es für die verlängerte Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht an.

Die Person des Täters muss deshalb nicht konkret festgestellt werden, sofern nur feststeht, dass einer von mehreren Verdächtigen eine Steuerhinterziehung bzw. Steuerverkürzung begangen hat. § 169 Abs. 2 Satz 3 AO gibt lediglich dem Steuerpflichtigen, der weder selbst Täter war noch sich die Tat seines steuerlichen Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen muss, eine Einrede, die es ihm gestattet, nachzuweisen, dass er durch die Tat keinen Vermögensvorteil erlangt hat und diese auch nicht darauf beruht, dass er die erforderlichen Vorkehrungen zur Verhinderung der Verkürzung unterlassen hat. Wann eine Steuerhinterziehung vorliegt, bestimmt sich nach § 370 AO.

Dem Gericht ist es nicht untersagt, gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu der vollen Überzeugung zu gelangen, dass eine Steuerhinterziehung zu bejahen ist

Nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO begeht eine Steuerhinterziehung, wer den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht und dadurch Steuern verkürzt. Steuern sind gem. § 370 Abs. 4 Satz 1 AO namentlich dann verkürzt, wenn sie nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden. Die Steuerhinterziehung setzt Vorsatz voraus, wobei bedingter Vorsatz genügt. Es ist also ausreichend, dass der Täter die Verwirklichung der Merkmale des gesetzlichen Tatbestands für möglich hält und billigend in Kauf nimmt.

Ob die Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung vorliegen, ist verfahrensrechtlich nicht nach den Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO), sondern nach den im Kommunalabgabenrecht anwendbaren Vorschriften der AO und im gerichtlichen Verfahren nach den Vorschriften der VwGO zu prüfen. Denn es handelt sich insoweit um eine strafrechtliche Vorfrage im Rahmen der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheids, welche die Abgabenbehörde in eigener Zuständigkeit zu beurteilen und über die das VG gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis gewonnenen Überzeugung zu entscheiden hat.

Zwar gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) auch im Besteuerungsverfahren. Er greift jedoch nur ein, solange Zweifel nicht zu beheben sind. Dem Gericht ist es dagegen nicht untersagt, gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu der vollen Überzeugung zu gelangen, dass eine Steuerhinterziehung zu bejahen ist. Die notwendige volle Überzeugungsgewissheit hat das Gericht nach der Rechtsprechung des BFH dann, wenn die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ festgestellt sind.

Materielle Beweislast für das Vorliegen der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung lag bei der Behörde

Voraussetzung für die Überzeugung des Richters vom Vorliegen der Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung ist also nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit, sondern ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt.

Nach allgemeinen Beweisgrundsätzen trägt in dem Fall, dass das Gericht in Erfüllung seiner Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts das Vorliegen der den Steueranspruch begründenden Tatsachen zu seiner vollen Überzeugungsgewissheit weder feststellen noch ausschließen kann, der Steuergläubiger die materielle Beweislast (Feststellungslast) für die den Steueranspruch begründenden Tatsachen. Die materielle Beweislast für das Vorliegen der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung liegt also bei der Behörde. Diese Verteilung der materiellen Beweislast gilt auch im Verfahren über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheids. Allerdings ist im Aussetzungsverfahren zum Vorliegen einer Steuerhinterziehung noch keine abschließende Feststellung zu treffen, sondern nur ein Wahrscheinlichkeitsurteil abzugeben.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids bestehen, wenn nach dem vorliegenden Streitstoff, einschließlich präsenter Beweismittel, ernstlich zweifelhaft ist, ob sich im Hauptsacheverfahren vor dem VG die Feststellung der Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung mit der erforderlichen vollen Überzeugungsgewissheit treffen lassen wird.

Kein Zweifel an Steuerhinterziehung

Es ist somit für die Feststellung des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung kein höherer Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich als für das Vorliegen anderer Tatsachen, für die die Abgabenbehörde die materielle Beweislast trägt. Nach diesen Grundsätzen ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die mit Bescheid vom 22.05.2020 nachträglich festgesetzten Vergnügungssteuern gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO hinterzogen worden sind.

Daran, dass der objektive Tatbestand der Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt ist, bestehen keine ernstlichen Zweifel. Dem Schreiben der Steuerfahndung waren darüber hinaus vier Tabellen beigefügt, in denen die Daten aus den Auslesestreifen der Geldgewinnspielgeräte zusammengestellt waren. Sie enthalten die jeweilige Zulassungsnummer und das Auslesedatum der Automaten.

Die Steuerfahndungsstelle hatte zur Erläuterung ausgeführt, für jeden Geldspielautomaten seien für jeden Auslesezeitpunkt zwei Zeilen aufgeführt, wobei in einer Zeile die Angaben, die gegenüber den Behörden erklärt worden seien, und in der Folgezeile die tatsächlichen erzielten Umsätze enthalten seien. In der letzten Spalte der 2. Zeile sei jeweils die Differenz – also der verkürzte Umsatz – angegeben.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.01.2022 – 2 S 3137/21.

 

Entnommen aus der Fundstelle Baden-Württemberg, 2/2023, Rn. 17.

 
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