17.04.2023

Zum Schutz der Versammlungsfreiheit von Unionsbürgern

Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 25.08.2022 – 1 S 3575/21

Zum Schutz der Versammlungsfreiheit von Unionsbürgern

Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 25.08.2022 – 1 S 3575/21

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
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K, die Staatsangehörige Kroatiens ist, begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer zeitlichen und örtlichen Beschränkung einer von ihr angemeldeten Mahnwache unter dem Motto „40 Days for Life“ sowie der hierauf bezogenen Androhung unmittelbaren Zwangs. Die Versammlung sollte in Form einer stillen Gebetmahnwache in unmittelbarer Nähe einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle stattfinden.

GG – Art. 2 Abs. 1, 8 Abs. 1 VersG – § 15 Abs. 1

  1. Unionsbürgern steht der Schutzgehalt der durch Art. 8 Abs. 1 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG zu. Die unmittelbare Ausweitung des Deutschengrundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG auf Unionsbürger würde die Wortlautgrenze übersteigen.
  2. Der von einer Versammlung ausgehende psychische Druck kann einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchenden Frauen begründen. In diesem Fall ist die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den widerstreitenden Grundrechten geboten.
  3. Für die Androhung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung einer versammlungsrechtlichen Beschränkung ist eine wirksame Grundverfügung erforderlich.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Urt. v. 25.8.2022 – 1 S 3575/21 – Verlags-Archiv Nr. 23-01-01)


Aus den Gründen

Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft, zulässig und begründet. K hat als Anmelderin und Leiterin der Versammlung ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflage, dies verlangt das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Dabei ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen, wenn eine Versammlung zwar nicht verboten wird, aber infolge von versammlungsbehördlichen Auflagen gemäß § 15 Abs. 1 VersG nur in einer Weise durchgeführt werden kann, die ihren spezifischen Charakter verändert, insbesondere die Verwirklichung ihres kommunikativen Anliegens wesentlich erschwert.

Diese Voraussetzungen werden hier von der mit Bescheid der Beklagten angeordneten zeitlichen und örtlichen Beschränkung der Versammlung erfüllt. Zwar kann sich K als kroatische Staatsangehörige nicht direkt auf die Versammlungsfreiheit berufen, weil Art. 8 Abs. 1 GG nach seinem eindeutigen Wortlaut nur für Deutsche gilt. Eine unionsrechtskonforme Auslegung des Art. 8 Abs. 1 GG könnte aber zu einer Auslegung contra legem führen, denn es würde die Wortlautgrenze übersteigen, wollte man das Deutschengrundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG auch auf Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten ausweiten. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts verstieße eine unterschiedliche Behandlung von inländischen und ausländischen Personen jedoch gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot.

Es reicht daher nicht aus, dass Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten Deutschen einfachgesetzlich gleichgestellt sind. Vielmehr muss diesen jedenfalls im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG derselbe Schutz gewährleistet werden, der Deutschen durch Art. 8 Abs. 1 GG zukommt. Mit dem offenen Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG ist das vereinbar. Da sich K als Unionsbürgerin auf Art. 2 Abs. 1 GG mit der Schutzgewähr des Art. 8 Abs. 1 GG berufen kann, die genannte Auflage schwerwiegend in die derart geschützte Versammlungsfreiheit der Klägerin eingreift und dieser Eingriff typischerweise nur von so kurzer Dauer ist, dass gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren nicht rechtzeitig erreicht werden kann, sind die zuvor genannten Voraussetzungen erfüllt.

Die Klage ist begründet. Die versammlungsrechtliche Auflage und die Androhung unmittelbaren Zwangs waren rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten. Rechtsgrundlage der angefochtenen Auflage ist § 15 Abs. 1 VersG. Danach kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Diese Voraussetzungen lagen hier im maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung nicht vor. Zwar ist das VG zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der Veranstaltung der K um eine Versammlung handelte. Allerdings hat die Beklagte zu Unrecht eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bei Durchführung der Versammlung angenommen.

Bei der Veranstaltung der Klägerin handelte es sich um eine Versammlung. Eine Versammlung wird dadurch charakterisiert, dass eine Personenmehrheit durch einen gemeinsamen Zweck inhaltlich verbunden ist. Das die Versammlungsfreiheit für Unionsbürger schützende Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie § 15 Abs. 1 VersG schützen die Freiheit der Versammlung als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes.

Für die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit sowie des Anwendungsbereichs von § 15 Abs. 1 VersG reicht es wegen des Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind. Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. Versammlungen sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zu gemeinschaftlicher, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Diese Voraussetzungen werden von der Klägerin erfüllt, weil sie beabsichtigte, mit mehreren Personen eine stille Gebetmahnwache durchzuführen.

Die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG waren jedoch nicht erfüllt. Es fehlte an einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Diese umfasst den Schutz gewichtiger Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Eine unmittelbare Gefährdung ist bei einer Sachlage gegeben, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit führt. Mit Blick auf die grundlegende Bedeutung der Versammlungsfreiheit sind keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen.

Dies setzt konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte voraus; bloße Vermutungen genügen nicht. Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen. Haben sich bei Veranstaltungen an anderen Orten mit anderen Beteiligten Gefahren verwirklicht, so müssen besondere, von der Behörde bezeichnete Umstände die Annahme rechtfertigen, dass ihre Verwirklichung ebenfalls bei der nunmehr geplanten Versammlung zu befürchten sei. Die Darlegungs- und Beweislast liegt bei der Behörde. Anders als das VG vermag der Senat im konkret vorliegenden Fall eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht zu erkennen. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der schwangeren Frauen durch die Versammlung der Klägerin drohte nicht. Das in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht dient dem Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre und der Erhaltung ihrer Grundbedingungen, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen. Im Sinne eines Schutzes vor Indiskretion hat hiernach jedermann grundsätzlich das Recht, ungestört zu bleiben.

Allerdings führt nicht jeder Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zugleich zu einer Verletzung desselben. Vielmehr können gegenläufige Grundrechtspositionen im Rahmen der Bildung praktischer Konkordanz zu einer Rechtfertigung von Eingriffen führen. Dabei ist die besondere Bedeutung der für Unionsbürger in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit zu beachten, die als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend ist und insbesondere das Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst.

Bei der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen, die die Beratungsstelle aufsuchen, und der durch die Meinungs- und Religionsfreiheit unterstützten Versammlungsfreiheit kann nicht abstrakt festgestellt werden, dass jede Form der Versammlung zulässig oder unzulässig wäre. Es kommt darauf an, in welcher Art und Weise die Versammlung im Einzelfall stattfinden soll. Dabei ist davon auszugehen, dass eine Versammlung so lange zulässig ist, wie sie den die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen nicht die eigene Meinung aufdrängt und zu einem physischen oder psychischen Spießrutenlauf für sie führt. Dies wäre der Fall, wenn die die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen durch die Versammlung in eine unausweichliche Situation geraten, in der sie sich direkt und unmittelbar angesprochen sehen müssen.

Nach diesen Maßstäben drohte im vorliegenden Fall keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der schwangeren Frauen durch die Versammlung der Klägerin. Eine Blockade in unmittelbarer Nähe zum Eingang der Beratungsstelle hätte diese Versammlung nicht dargestellt. Denn allein aus der bloßen Dauer einer Versammlung und der Anzahl der Versammlungsteilnehmer lässt sich eine Blockadewirkung in der Regel nicht ableiten. Des Weiteren kann für die Begründung einer blockadeartigen Versammlung auch nicht auf vorausgehende Erfahrungen abgestellt werden, weil sich diese Versammlung direkt vor der Beratungsstelle befand.

Durch die Versammlung drohte auch keine Beeinträchtigung des Beratungskonzepts des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Denn die Beklagte konnte nicht nachvollziehbar darlegen, weswegen es durch die Versammlungen zu einer Beeinträchtigung des Beratungskonzepts kommen sollte. Sofern vorgetragen wird, dass schwangere Frauen durch die Versammlung von der Beratung abgeschreckt werden könnten, bleibt es wiederum bei der bloßen Behauptung. Konkrete Vorfälle konnten hierzu nicht angegeben werden. Unabhängig hiervon würden durch die Versammlung weder der Inhalt noch das Verfahren der Beratung beeinträchtigt. Insbesondere konnte durch die Versammlung auch die Anonymität der die Beratungsstelle aufsuchenden Frau nicht gefährdet werden.

Denn zum einen besteht das Recht auf Anonymität nicht gegenüber jedem beliebigen Dritten, sondern nur gegenüber der die Schwangere beratenden Person. Überdies hätten die an der Versammlung teilnehmenden Personen die die Beratungsstelle aufsuchende Person zwar sehen können. Jedoch geht dieser flüchtige Anblick, der zudem über einen Abstand von 17 Metern erfolgt, nicht über das hinaus, was jeder Teilnehmer am Straßenverkehr sehen kann. Die Identität der jeweiligen Frau könnte somit nur dann offengelegt werden, wenn die Frau einem Teilnehmer der Versammlung zufällig bekannt wäre.

Da II. A. Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten schon mangels einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtswidrig gewesen ist, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich auf die Fragen an, ob die Beklagte oder einzelne Mitarbeiter der Beklagten bei der Fertigung der Auflage gegen den Neutralitätsgrundsatz verstoßen haben und welche Folgen derartige Verstöße gegebenenfalls nach sich ziehen würden. Die unter II. A. Ziffer 2 des Bescheids der Beklagten angeordnete Androhung unmittelbaren Zwanges war ebenfalls rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten. Dies folgt bereits daraus, dass die der Androhung zugrundeliegende Grundverfügung rechtswidrig war und damit als unwirksam anzusehen ist.

Anmerkung

Der Senat hat unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BVerfG v. 4.11.2015 – 2 BvR 282/13 – festgestellt, dass Unionsbürgern der Schutzgehalt der durch Art. 8 Abs. 1 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit im Wege einer unionsrechtskonformen Interpretation der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG zusteht. Die unmittelbare Ausweitung des Deutschengrundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG auf Unionsbürger würde die Wortlautgrenze überschreiten. In einer Entscheidung v. 5.6.2018 – 17 K 1823/18 – hatte das VG Hamburg den Schutzbereich des Art. 8 GG Angehörigen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union noch unmittelbar zuerkennen wollen (vgl. Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, Versammlungsrecht, 5. Auflage 2020, S. 94). Dies könnte indes zu einer Auslegung contra legem führen.

 

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv 1/2023, Rn. 102.

 

Prof. Hartmut Brenneisen

Prof./Ltd. Regierungsdirektor a. D., Preetz
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