15.10.2011

Rechtsfragen der „Euro-Rettung“

Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Recht der EU

Rechtsfragen der „Euro-Rettung“

Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Recht der EU

Vor neuen Rettungsmaßnahmen ist die Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestags einzuholen. | © Digipic - Fotolia
Vor neuen Rettungsmaßnahmen ist die Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestags einzuholen. | © Digipic - Fotolia

Die anstehenden und künftig erwogenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Europäischen Währungsunion werfen verfassungs- wie unionsrechtliche Zweifelsfragen auf. Sie werden auch durch das Urteil des BVerfG vom 7. September 2011 nicht abschließend beantwortet. Dies ist der Begrenzung des Verfahrensgegenstands wie des Prüfungsmaßstabs geschuldet.

Prüfungsmaßstab für Verfassungsbeschwerden – kein neues„Elfes“-Urteil

Es ging um den temporären Rettungsschirm ESFS als eines, wie das BVerfG durchgehend betont, vorübergehend angelegten internationalen Mechanismus zur Erhaltung der Liquidität von Staaten der Währungsunion (Tz. 107 der Entscheidungsgründe). Auch erging die Entscheidung im Verfahren der Verfassungsbeschwerde. Hier sind die vom Gericht in Anspruch genommenen Prüfungsmaßstäbe begrenzt.

Im Ansatz allerdings hält der Senat gegen Kritik im Schrifttum ausdrücklich daran fest, das Wahlrecht des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG um eine materielle Komponente zu ergänzen: Der wahlberechtigte Bürger hat ein Recht nicht nur auf Beteiligung am Wahlakt, sondern darauf, dass das gewählte Parlament mit substanziellen Befugnissen ausgestattet bleibt.


Er kann sich gegen eine mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbare Entäußerung von Kompetenzen zur Wehr setzen (Tz. 100 f.). Wenn andererseits das Grundgesetz kein weitergehendes Rügerecht vorsieht, so müssen Verfassungsverstöße unterhalb der Schwelle des Art. 79 Abs. 3 GG wie auch generell Verfassungsverstöße, die nicht vom Rügerecht nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst werden, unberücksichtigt bleiben – das Gericht hat kein neues Elfes-Urteil erlassen.

Stabilitätsmechanismus und EU – auf dem Weg zur Haftungs- und Transferunion

So bleibt auch Unionsrecht ausgeklammert. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass mit dem temporären Rettungsschirm EFSF gegen Primärrecht der EU verstoßen wurde, insbesondere gegen die bail-out-Klausel des Art. 125 AEUV, nach der weder die Union noch die Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats eintreten oder die Haftung übernehmen dürfen. Eben dies aber ist Gegenstand des EFSF. Die Ausnahmebestimmung des Art. 122 Abs. 2 AEUV dürfte nicht einschlägig sein. Die Schuldenkrise ist weder auf „Naturkatastrophen” zurückzuführen, noch auch auf „außergewöhnliche Ereignisse”, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaats entziehen, sondern auf die Haushalts- und Finanzpolitik der Euro-Peripheriestaaten, und sind von ihnen zu verantworten. Der Vertragsbruch betrifft die Union in ihren Grundlagen als Rechtsgemeinschaft.

Das BVerfG hebt zu Recht die Bedeutung der bail-out-Klausel als zentrale Bestimmung der Währungsunion zur Sicherung des Demokratiegebots hervor (Tz. 129). Mit dem ab 2013 vorgesehenen permanenten Stabilitätsmechanismus ESM soll jedoch eine Abmilderung oder Aufweichung eben dieser Klausel einhergehen.

Ein neu einzufügender Art. 136 Abs. 3 AEUV soll die Euro-Staaten ermächtigen, einen Stabilitätsmechanismus einzurichten, „um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren”.

Die Forderung, dass die „Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen…strengen Auflagen unterliegen” soll, dürfte angesichts bisheriger Erfahrungen im Krisenfall Makulatur sein. Zweifellos ist die Vertragsänderung erforderlich für eine annähernd tragfähige unionsrechtliche Grundlage des ESM. Sie darf allerdings nicht im vereinfachten Verfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV vorgenommen werden. Dass die Kompetenzen der EU durch die Vertragsänderung nicht erweitert werden, mag bei formaler Betrachtungsweise der Fall sein. Der ESM soll durch völkerrechtlichen Vertrag der Euro-Staaten als zwischenstaatliche Einrichtung und damit als selbständiges Völkerrechtssubjekt zur Entstehung kommen; seine Organe und nicht die der EU werden also die Entscheidungen treffen.

Doch bedeutet die Aufgabe des Einstandsverbots einen Integrationsschritt, der den Charakter der Union grundsätzlich verändert in Richtung auf eine Transfer- und Haftungsgemeinschaft. Das BVerfG spricht für den Bundesstaat des Grundgesetzes von einem „bündischen Prinzip des Einstehens füreinander”, das sich im bundesstaatlichen Finanzausgleich verwirklicht (so im Urteil zum Finanzausgleich; BVerfG, Urt. v. 24. 06. 1986, BVerfGE 72, 330, 387). Ein permanenter Rettungsschirm würde einen weiteren Schritt in Richtung auf einen europäischen Bundesstaat bedeuten.

Zur Notwendigkeit verfassungsändernder Mehrheiten

Wie die vorgesehene „Öffnung” des bail-out-Verbots im Hinblick auf das Demokratiegebot des Grundgesetzes zu beurteilen sein wird, ist auch nach der Entscheidung vom 7. September offen. Wie immer die Chancen und Risiken eines dauerhaften Rettungsschirms eingeschätzt werden mögen: er verändert die Union nachhaltig in ihrer Struktur und ihrer Ausrichtung. Der ESM selbst wird nicht im Primärrecht der Union verankert werden, sondern entsteht, wie ausgeführt durch völkerrechtlichen Vertrag. Dieser bedarf der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat, ebenso wie eine Änderung des AEUV. Grundsätzlich ist hierfür die einfache Mehrheit in Bundestag und Bundesrat ausreichend. Wenn allerdings eine Vertragsänderung so intensiv in das Verfassungsgefüge der Bundesrepublik eingreift, dass sie auf nationaler Ebene nur mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen werden könnte, sind nach Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG verfassungsändernde Mehrheiten erforderlich. Dafür könnte sprechen, dass der EMS je nach seiner konkreten Ausgestaltung die verfassungsrechtliche Budgethoheit des Parlaments als ein wesentliches und prägendes Element der parlamentarischen Demokratie nachhaltig verkürzen würde, die Beschränkung dieses parlamentarischen Ur-Rechts aber bereits in der Aufhebung (oder „Öffnung”) der bail-out-Klausel des Art. 125 AEUV angelegt wäre. Auch sind es gerade Haushalts- und Finanzverfassung, die nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG die nationale Verfassungsidentität bestimmen.

Self-restraint des BVerfG, aber keine Generalermächtigung

Der Bundestag darf weder eine Generalermächtigung für die Zukunft erteilen noch auf sein Budgetrecht dauerhaft verzichten. Der Verfassungswidrigkeit einer nur nachträglichen Unterrichtung, wie sie für den derzeitigen temporären Rettungsschirm vorgesehen ist, begegnet das Gericht mit einem eher beiläufigen Hinweis auf eine verfassungskonforme Auslegung (Tz. 141). Die bloße Unterrichtung über den Gesetzesvollzug soll u. a. wegen der zeitlich begrenzten Geltung des Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes noch hinnehmbar sein(Tz. 139).

Das BVerfG betont die Einschätzungsprärogative der politisch verantwortlich handelnden Organe, etwa in der Fälligkeitswahrscheinlichkeit von Bürgschaften. Es hält sich gleichwohl weitergehende Kontrollkompetenzen offen, zieht Grenzlinien für einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus und weitere Instrumente wie z. B. Euro-Bonds. Gewährleistungen, die, wie bei Euro-Bonds, zu einer „Vergemeinschaftung” von Staatsschulden führen können, dürfen nicht ohne konstitutive Zustimmung des Bundestags übernommen werden (Tz. 105), doch wird auch dem Bundestag selbst nicht „plein pouvoir” erteilt. Er darf sich durch Eingehen von Verpflichtungen – „und seien es auch nur Gewährleistungen” – seiner Gestaltungsmöglichkeiten nicht dauerhaft begeben (Tz. 134).

Wo die Grenze zu ziehen ist, bleibt offen. Die Höhe der Gewährleistungssumme soll nicht allein ausschlaggebend sein, die kühne Einschätzung, auch Verluste von 170 Mrd. Euro und damit mehr als der Hälfte des Bundeshaushalts seien „refinanzierbar”, wird nicht beanstandet (Tz. 135). Ob dies auch bei Haftungsrisiken von etwa 400 Mrd. Euro (einschließlich der nicht offen gelegten Zinsrisiken) gelten kann, wie sie derzeit im Raum stehen und bereits wieder als unzureichend bezeichnet werden, ist fraglich.

Dass auch die „Schuldenbremse” des Grundgesetzes, die sich nach überwiegender Auffassung nicht auf Gewährleistungen erstreckt, tangiert sein könnte, wird zumindest erwogen (Tz. 131). Die Bundesregierung sieht sie ja schon deshalb nicht als einschlägig, weil die Bundesrepublik mit der Beteiligung am ESM einen Gegenwert für die aufzuwendenden Haushaltsmittel erhalte. Haushaltsrisiken von schwer überschaubarer Größenordnung liegen andererseits mit Sicherheit nicht in der Intention der „Schuldenbremse”.

Auch ist die Prognosefreiheit des Gesetzgebers jedenfalls in dem Maße zu begrenzen, in dem längerfristig oder unbefristet geltende Instrumente bereitgestellt werden. Es darf keinen „Automatismus” geben, wie etwa, je nach ihrer Ausgestaltung, im Fall von gemeinsamen Euro-Anleihen.

Bilanz

Es bleibt abzuwarten, ob die Politik die von der Rechtsordnung und von der Verfassungsrechtsprechung gezogenen Grenzlinien überschreiten wird – wofür angesichts bisheriger Erfahrungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht –, und ob das Bundesverfassungsgericht, wovor es bisher zurückgeschreckt ist, Konsequenzen aus seiner Rechtsprechung zieht und seine Maßstäbe durchsetzt oder aber sie wie bisher fallbezogen zurücknimmt.

 

Prof. Dr. Christoph Degenhart

Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht, Universität Leipzig; Mitglied des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs
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