15.10.2011

Demokratie und Effizienz im Widerstreit

Zu den Urteilen des LVerfG M-V vom 18.08.2011 (LVerfG 21-23/10)

Demokratie und Effizienz im Widerstreit

Zu den Urteilen des LVerfG M-V vom 18.08.2011 (LVerfG 21-23/10)

Die bürgerschaftlich-demokratische Dimension kommunaler Selbstverwaltung gebietet überschaubare Landkreise. | © AHMAD FAIZAL YAHYA - Fotolia
Die bürgerschaftlich-demokratische Dimension kommunaler Selbstverwaltung gebietet überschaubare Landkreise. | © AHMAD FAIZAL YAHYA - Fotolia

Wir erinnern uns: Mit seinem Urteil vom 26. 07. 2007 (LVerfGE 18, 342, 370 ff.) hat das Landesverfassungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern (LVerfG M-V) die seinerzeit vorgesehene Bildung von fünf Regionalkreisen bei Einkreisung aller sechs bisherigen kreisfreien Städte in Mecklenburg-Vorpommern für unvereinbar mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung erklärt und als Kernaussage hervorgehoben, dass die bürgerschaftlich-demokratische Dimension kommunaler Selbstverwaltung überschaubare Landkreise gebietet.

In seinem Urteil vom 18. 08. 2011 (LVerfG 21/10) hat das LVerfG M-V hingegen den deutlich modifizierten Gesetzentwurf eines Kreisstrukturgesetzes (GVOBl. M-V 2010, 366) unter Hervorhebung des großen gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums mit 4:3 Richterstimmen nicht für verfassungswidrig erklärt, so dass die Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern am 04. 09. 2011 in Kraft treten konnte. Liegt in der zweiten Entscheidung gegenüber der ersten ein Paradigmenwechsel? Ist vom Gericht die erstmalige flächendeckende Bildung von Regionalkreisen nunmehr gebilligt worden? Gilt für die aufgrund der ersten Entscheidung hervorgehobene Stärkung des Ehrenamtes die bittere Erkenntnis: „Wie gewonnen, so zerronnen“? – Alle diese
Fragen sind mit einem klaren „Nein“ zu beantworten.

Veränderungen im Gebietszuschnitt

Von der Bildung eines Großkreises Westmecklenburg mit einer im ersten Neugliederungsverfahren vorgesehenen Flächenausdehnung von 6.997 km² (und einer Einwohnerzahl von knapp 500.000) wurde abgesehen (siehe Abb.). Auch der Landkreis Mecklenburgische Seenplatte wurde in seiner Ausdehnung kleiner dimensioniert, statt 5.809 km² umfasst er nunmehr – immer noch stattliche – 5.469 km². Als zweitgrößter Landkreis erreicht der Landkreis Südwestmecklenburg nunmehr eine Ausdehnung von 4.751 km². Von einer Einkreisung der kreisfreien Städte Schwerin und Rostock und damit einer Majorisierung des sie umgebenden kreisangehörigen Raumes, insbesondere des Landkreises Mittleres Mecklenburg durch die Hansestadt Rostock, wurde abgesehen, so dass auf der Kreisebene gegenüber derzeit 18 Einheiten künftig acht Einheiten und nicht – wie ursprünglich vorgesehen – nur fünf bzw. sogar nur vier Kreise bestehen.


Schließlich wurden mit den Hansestädten Wismar, Stralsund und Greifswald sowie Neubrandenburg vier bisher kreisfreie Städte eingekreist. Hinzu kommt ein veränderter konzeptioneller Ansatz, der die funktional-reformerischen Ausgangsüberlegungen in den Hintergrund treten ließ.

Kreisstrukturreform 2011

            An den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wie sie das LVerfG M-V in seiner Entscheidung vom 26. 07. 2007 herausgearbeitet hat, hat das Gericht in seiner nunmehrigen Entscheidung – von kleineren abweichenden Bewertungen abgesehen – zu Recht nicht gerüttelt:

     20 verfassungsrechtliche Kernsätze

1. Die kommunale Selbstverwaltung bedeutet Aktivierung der Bürger für ihre eigenen Angelegenheiten. Diese Aussage bezieht sich gleichermaßen auf Gemeinden und Kreise.
2. Leitbild der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie ist eine bürgerschaftliche Mitwirkung, die sich auch in einem politischen Gestaltungswillen niederschlägt.
3. Kreise sind keine Zweckschöpfungen des Gesetzgebers mit „schwächelnder Selbstverwaltungsgarantie“.
4. Für das Recht der Selbstverwaltung gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG gilt nichts grundsätzlich anderes als für die Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG.
5. Die Selbstverwaltung der Gemeinden und der Kreise bildent als kommunale Selbstverwaltung eine Einheit.
6. Für gute kommunale Selbstverwaltung ist neben rationeller Aufgabenerfüllung von Verfassungs wegen die bürgerschaftlich-demokratische Entscheidungsfindung ein Wesensmerkmal, das es verbietet, gute staatliche Verwaltung und gute Selbstverwaltung gleichzusetzen.
7. Bei einer Kreisgebietsreform muss die kommunale Selbstverwaltung mit dem ihr von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht einbezogen werden.
8. Dabei müssen die beiden tragenden Komponenten – die Leistungsfähigkeit im Sinne rationeller Aufgabenerfüllung einerseits und die bürgerschaftlich-demokratische Dimension andererseits – in den Blick genommen werden.
9. Eine Kreisgebietsreform, welche die strukturellen Anforderungen der Verfassung an Kreise verfehlen würde, wäre unzulässig.
10. Zu diesen Anforderungen gehört auch die Überschaubarkeit des Kreisgebiets.
11. Überschaubarkeit bedeutet, dass Kreistagsmitglieder sich auch über die Verhältnisse in entfernteren Bereichen des jeweiligen Kreises zumutbar eigene Kenntnis verschaffen können.
12. Kraftvolle Selbstverwaltung ist darauf angewiesen, dass Vertreter aus möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen sich zusammenfinden, um im Austausch der Meinungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kenntnisse und Erfahrungen lebensnahe, die Probleme bewältigende Entscheidungen zu treffen.
13. Die Arbeitslast vieler Kreistagsmitglieder wird beträchtlich höher sein wegen des größeren Zeitaufwandes für die Wege zwischen Wohnung und Sitz der Kreisverwaltung.
14. Gerade darauf, dass auch Bürger aus den entfernteren Bereichen zumutbar ein Kreistagsmandat wahrnehmen können, kommt es an.
15. Sonst bestünde die Gefahr, dass Probleme der häufig strukturschwächeren Randbereiche nicht genügend in den Blick genommen werden.
16. Zuwendungen an Fraktionen aus dem Kreishaushalt können das Problem der deutlich geminderten Überschaubarkeit der Verwaltungsräume nicht oder nur unwesentlich entschärfen.
17. Die Unterstützung durch hauptamtliches Personal kann auch bedeuten, dass sich eine Tendenz zur Professionalisierung der Entscheidungsfindung durch ehrenamtliche Kreistagsmitglieder entwickelt.
18. Die kommunale Selbstverwaltung könnte damit durch eine Wohltat in ihrem verfassungsrechtlich gesicherten Charakter geschmälert werden.
19. Der Kreis kann schwerlich als Schule der Demokratie wirken, wenn faktisch weite Kreise der Bevölkerung von der Tätigkeit im Kreistag ausgeschlossen sind.
20. Gleiches gilt, wenn diejenigen, die sie wahrnehmen, die Grundlagen für verantwortliche Entscheidungen nicht verlässlich gewinnen können, weil sie die Gemeinden mit ihren Besonderheiten nur noch schwer im Blick haben können.

Abweichender Kontrollmaßstab 2011

Aktuell ist das LVerfG M-V indes von einer deutlich eingeschränkten Kontrolldichte ausgegangen: „Diese deutliche Einschränkung der Kontrolldichte folgt daraus, dass die Bewältigung so komplexer Probleme wie bei einer Kreisgebietsreform vorrangig dem Parlament überlassen bleiben muss, auch weil ihm eine stärkere demokratische Legitimation zukommt als den Verfassungsgerichten.“

„Die nach Leitbild und Leitlinien vorgesehene Vergrößerung der Landkreise auf eine Regelmindestgröße von 175.000 Einwohnern (bezogen auf das Jahr 2020) bei einer Fläche von in der Regel bis zu 4.000 km² als solche überschreitet in Ansehung der Gegebenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern und des Gesamtgefüges der Neuregelungen in Form einer generell abstrakten Vorgabe die von Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV gezogenen Grenzen nicht.“

Dem Richtwert lasse sich nicht entgegenhalten, dass schonendere Alternativen, etwa die bei der Kreisgebietsreform in Sachsen-Anhalt zugrunde gelegten Richtgrößen von höchstens 2.500 km² Fläche und 150.000 Einwohner im Jahre 2025, nicht einbezogen worden seien. Abgestellt wird ausdrücklich auf die tatsächliche Ausnahmestellung Mecklenburg-Vorpommerns hinsichtlich der Bevölkerungsdichte, die daher umgekehrt schlicht auch zu einer Unübertragbarkeit auf andere Bundesländer führt, die alle weitaus dichter besiedelt sind. (Allein) auf dieser Grundlage wird das Ergebnis der Abwägung im Spannungsverhältnis zwischen dem Bestreben nach Schaffung nachhaltig tragfähiger und effektiver Verwaltungsstrukturen einerseits und der Notwendigkeit der Erhaltung der ehrenamtlich ausgeübten kommunalen Selbstverwaltung andererseits für „vertretbar“ erachtet.

Festzustellen ist allerdings, dass in der konkreten Umsetzung der Kreisgebietsreform zwei Landkreise geschaffen wurden, die den angestrebten Flächenrichtwert von 4.000 km² deutlich überschreiten (Südwestmecklenburg mit 4.751 km² und Mecklenburgische Seenplatte mit 5.469 km²).

Insoweit windet sich das LVerfG bei seiner 4:3-Entscheidung spürbar und stellt fest, dass mit den neu geschaffenen Landkreisen – oder zumindest in einzelnen von ihnen – die Kreisebene den sie prägenden Charakter als Teil der kommunalen Selbstverwaltung voraussichtlich nicht verlieren werde. „Dass Bürgernähe und Identifikation bei einer solchen flächenmäßigen Vergrößerung der Kreise gefährdet sein könnten, ist nicht belegt.“

Dieser, einer „Fahrt ins Blaue“ nahekommenden Weichenstellung wird im Minderheitsvotum richtigerweise deutlich widersprochen. Das LVerfG M-V erkennt durchaus die Problematik nachteiliger Auswirkungen übergroßer Kreise auf die ehrenamtliche Mandatsausübung, geht bei der Bewertung der Reformmaßnahme nunmehr allerdings davon aus, dass sich die verfassungsrechtliche Bewertung an denkbaren besonders gelagerten Einzelfällen nicht ausrichten müsse. So wird prognostiziert, dass die Bereitschaft zur Übernahme des Ehrenamtes nicht davon abhängen werde, ob Kreistagsmitglieder für die Fahrt zum Kreistag – als wenn es in der kommunalpolitischen Gestaltung vorrangig oder allein darum ginge – künftig beispielsweise 15 – 20 Minuten länger benötigten.

Fazit

In Mecklenburg-Vorpommern haben die Landkreise mit ihrem dritten Gebietszuschnitt seit der Wiedervereinigung nach den Kommunalwahlen vom 04. 09. 2011 in der Hoffnung auf dauerhaft verlässliche Strukturen ihre Arbeit aufgenommen und werden zunächst erneut beachtliche Integrationsleistungen nicht zuletzt mit Blick auf die vier bisher kreisfreien Städte zu erbringen haben. Dabei ist der Blick aber nach vorne zu richten.

Für die anderen Flächenländer lautet die Hauptbotschaft, dass die „Ausreißer“-Gebietsgrößen in Mecklenburg-Vorpommern, die ausschließlich der dünnen Besiedlung und der Topographie vor dem Hintergrund des demographischen Wandels geschuldet sind, in der Abwägung des Spannungsverhältnisses von Demokratie und Effizienz nicht auf andere Länder übertragen werden können.

 

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke

Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages, Berlin
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