15.10.2011

Rechtsabenteuer NABEG

Übereiltes Gesetzgebungsverfahren zum Ausbau der Hochspannungsnetze

Rechtsabenteuer NABEG

Übereiltes Gesetzgebungsverfahren zum Ausbau der Hochspannungsnetze

NABEG– Verfassungsrechtlich problematisch, da der Bund seine Verwaltungskompetenzen überspannt? | © koep - Fotolia
NABEG– Verfassungsrechtlich problematisch, da der Bund seine Verwaltungskompetenzen überspannt? | © koep - Fotolia

Ende Juni 2011 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zum beschleunigten Ausbau der Stromnetze – „NABEG” – beschlossen. Das Gesetzgebungsverfahren dauerte drei Wochen. Seit 1949 dürfte es kaum ein bedeutendes Dossier gegeben haben, das in so kurzer Zeit beschlossen worden wäre – sieht man von den Banken- und Staatenrettungsaktionen der letzten Jahre ab.

Anlass für das NABEG: Der Atomausstieg Deutschlands

Am 11. 03. 2011 wurde das am Pazifik gelegene Atomkraftwerk (AKW) Fukushima von einem Erdbeben und einer Überschwemmung getroffen. Der atomare Prozess geriet außer Kontrolle. In der Folge wurden gravierende Fehler und Mängel bei der Ansiedlung und Überwachung des AKW bekannt – was man gerade im Falle Japans, einer führenden Hochtechnologienation, nicht erwartet hätte. Der Verlust des Vertrauens in die jahrzehntelangen Beteuerungen und Zusagen der Atomwirtschaft, die Kernenergie sei technisch beherrschbar und sicher, dürfte der Hauptgrund für den Entschluss des Bundeskabinetts gewesen sein, die nicht einmal ein Jahr zuvor verkündete Verlängerung der AKW-Laufzeiten aufzugeben.

Per staatlicher Anordnung wurden kurzfristig sieben AKW „vom Netz genommen”, wobei der Bundesumweltminister offen erklärte: „Wir lösen uns von der Gesetzeslage” (Rüthers und Höpfner haben dies in der FAZ vom 26. 08. 2011 einen „gezielten Verfassungsbruch von Seiten der Regierung” genannt). Die Bundesregierung entschied sich abrupt zu einer grundlegenden Energiewende hin zu Windkraft, Solar und (vor allem) Gas.


Im Sommer 2011 gab es dann, wie Botho Strauß in der FAZ schrieb, „keine Parteien mehr, es gab nur noch Atomaussteiger”. Der Gesetzgeber entzündete ein regelrechtes „Feuerwerk” und änderte in mehreren Gesetzespaketen das Energierecht (BGBl. I S. 1554, 1634, 1702). Auch die bauplanungsrechtlichen Vorschriften „zur Förderung des Klimaschutzes” wurden novelliert (BGBl. I S. 1509). Mit erneuter (13.) Änderung des Atomgesetzes verkürzte der Bundestag die „Restlaufzeiten” der AKW und legte sie auf spätestens Ende 2022 fest (BGBl. I S. 1704). Und schließlich hat der Bundestag am 30. 06. 2011 ein völlig neues Raumordnungs- und Planfeststellungsrecht für bestimmte Hochspannungsleitungen geschaffen – in einem einzigartigen gesetzgeberischen Parforceritt. Genese und verfassungsrechtliche Bedenklichkeit dieses „Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetz (NABEG)” (BGBl. I S. 1690) sollen nachfolgend beleuchtet werden.

Das dreiwöchige Gesetzgebungsverfahren

Am 06. 06. 2011 brachte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf „Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze” in den Bundesrat ein (Drucksache (Drs.) 342/11). In dem Gesetzentwurf wird eine umfassende Neuregelung des Raumordnungs- und Fachplanungsrechts bezüglich des „Transports von Elektrizität mit europäischer oder überregionaler Bedeutung, insbesondere bundesländerübergreifende Höchstspannungsleitungen” vorgeschlagen. Die nach Art. 85 ff. GG für den Netzbau und -ausbau zuständigen Verwaltungsbehörden der Länder sollen vom Vollzug ausgeschlossen sein. Vielmehr wird laut Begründung eine „bundeseinheitliche Prüfung der Raumverträglichkeit und Planfeststellung durch die Bundesnetzagentur unter Einbeziehung aller in diesem Verfahren relevanten gesetzlichen Vorschriften, insbesondere derjenigen Regelungen, die die Umweltverträglichkeit sowie sonstige raumplanungs- und naturschutzrechtliche Belange betreffen”, angestrebt. Das Dossier wurde (entgegen Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG) schon drei Tage später, am 09. 06. 2011, im Innenausschuss des Bundesrats behandelt. Den Innenverwaltungen der Länder, die für das Planfeststellungsrecht (§§ 72 ff. VwVfG) zuständig sind, blieben eineinhalb Werktage für die Prüfung und inhaltliche Abstimmung der Positionen zu dem (vorher nicht bekannten) Gesetzentwurf. Obwohl „durchgesickert” war, dass es eine „politische Verständigung” der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten über den Atomausstieg gegeben haben sollte, gelangte der Innenausschuss des Bundesrates am 09.06. mit großer Mehrheit zur Ablehnung des Gesetzentwurfs: Er sei nicht geeignet, die Genehmigungsverfahren wirksam zu beschleunigen; der Bund solle durch Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes oder des Energieleitungsausbaugesetzes die Weiterentwicklung des Netzentwicklungsplans zu einem Bedarfsplan des Bundes normieren; an den Verwaltungsverfahren in der Zuständigkeit der Behörden der Länder solle festgehalten werden; bei länderübergreifenden Trassenführungen solle der Bundesregierung in den Genehmigungsverfahren eine Mitwirkungsmöglichkeit eingeräumt werden. Der Bundesrat hat dieses Votum in seiner 884. Sitzung am 17. 06. 2011 übernommen und gemäß Art. 76 Abs. 2 GG entsprechend Stellung genommen (Drs. 342/11 (Beschluss)).

Ebenfalls am 06. 06. 2011 hatten die Fraktionen von CDU/CSU und FDP einen gleichlautenden Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht (Drs. 17/6073). Beide Gesetzentwürfe wurden im federführenden Bundestagsausschuss für Wirtschaft und Technologie am 29. 06. 2011 abschließend beraten, nachdem dieser am 27. 06. 2011 eine „Sachverständigenanhörung” veranstaltet hatte (Drs. 17/6366). Der Ausschuss empfahl dem Bundestag einige Änderungen zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP sowie die Erledigungserklärung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung. Den Bedenken und Änderungsvorschlägen des Bundesrates, welche dieser zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung beschlossen hatte, folgte der Wirtschaftsausschuss weitgehend nicht, insbesondere nicht der Empfehlung, ganz auf das NABEG zu verzichten und stattdessen die geltenden Gesetze über die Stromtrassen fortzuschreiben.

Einen Tag später, am 30. 06. 2011, beschloss der Bundestag das NABEG in der Form des Gesetzentwurfs von CDU/CSU und FDP unter Berücksichtigung der Änderungsvorschläge des Wirtschaftsausschusses (Plenarprotokoll 17/117, S. 13407 f.). Der Bundesrat beschloss außerdem am 08. 07. 2011 trotz anderslautenden Votums der Ausschüsse (Drs. 394/1/11), den Vermittlungsausschuss nicht anzurufen (Plenarprotokoll 885, S. 335).

Obwohl Bundespräsident Wulff in einem „ZDF-Sommerinterview” zunächst Zweifel an der Verfahrensgestaltung und dem Inhalt der Atomausstiegsgesetze öffentlich gemacht und eine sorgfältige Prüfung angekündigt hatte, fertigte er die Gesetze am 28.07. (NABEG) bzw. 31.07. (Atomgesetz) aus.

Gesetzgebungsmanagement ist bedenklich

Die doppelte Einbringung des NABEG war ein gesetzgeberischer Kunstgriff, um den Gesetzentwurf im Juni 2011 durchzusetzen. Ein Jahr mindestens benötigt normalerweise ein solches Gesetzgebungsvorhaben, in dem es um die Versorgungssicherheit Deutschlands und um wesentliche Abweichungen vom bisher einschlägigen Raumordnungs- und Fachplanungsrecht geht (§§ 43 ff. EnWG). Offenbar war man an einer breiten Diskussion der rechtlichen Rahmenbedingungen sowie der technischen und wirtschaftlichen Eckpunkte des Stromnetzausbaus nicht interessiert. Auch angesichts der AKW-Laufzeiten bis 2022 bestand indes kein Anlass, ein solch wichtiges Gesetz wie das NABEG in einem Monat „durchzupeitschen”. Das Verfahren steht in Widerspruch zu manchen Verlautbarungen zum Thema „Stuttgart 21”: Von einer breiten gesellschaftspolitischen, technischen und wirtschaftlichen Diskussion, bei dem seit 20 Jahren öffentlich erörterten Bau eines lokalen Bahnhofs und Tunnels vehement gefordert (nachdem allerdings der Planfeststellungsbeschluss rechtsgültig war und die Bagger rollten, vgl. auch PUBLICUS 2010.2, Seite 4), konnte beim NABEG nicht die Rede sein. Dass die Länder sich auf dieses Gesetzgebungsmanagement eingelassen haben, mag überraschend erscheinen, denn mit dem eigentlichen Atomausstieg hat das NABEG nichts zu tun.

Verwaltungskompetenzen der Bundesnetzagentur

Inhaltlich liegt das vergleichsweise geringste Problem in dem von dem Sachverständigen Säcker benannten rechtsförmlichen Mangel, dass mit dem NABEG eine neue Stammnorm für einen Teilbereich des – fortbestehenden und im Übrigen per Änderungsgesetz ebenfalls geänderten – Regelungskomplexes des EnWG und des EnLAG erlassen wurde. Falls das für diese Fragen federführend zuständige Bundesministerium der Justiz beteiligt wurde, wird es sich mit (berechtigten) Bedenken aus seinem „Handbuch der Rechtsförmlichkeit”, sollte es sie geäußert haben, wohl nicht durchgesetzt haben.

Das Gesetz enthält wesentlich Bedenklicheres, und an erster Stelle ist insoweit die einfachrechtlich begründete Verwaltungskompetenz der Bundesnetzagentur für die Planfeststellung (§§ 2 Abs. 2 und 18 ff. NABEG) zu nennen. Diese ist aus meiner Sicht evident verfassungswidrig. Der Verwaltungsvollzug auf unterer und mittlerer Stufe ist Sache der Länder (Art. 83, 87 Abs. 3 GG), es sei denn, Bundeskompetenzen oder -ingerenzen sind grundgesetzlich ausdrücklich eröffnet, wie im Fall der Bundeseigenkompetenz für die Eisenbahnverwaltung oder bei der Bundesauftragsverwaltung (die eine Form der Landesverwaltung ist). Verfassungsrechtlich zugewiesene Verwaltungskompetenzen des Bundes für den Netzausbau sind nicht gegeben; angesichts des funktionierenden Ländervollzugs kann von irgendeinem Bedarf für eine ausnahmsweise Bundeskompetenz (Art. 87 Abs. 3 GG) keine Rede sein.

Da Kompetenzen nicht disponibel sind, ändert der auf Vorschlag des Wirtschaftsausschusses eingefügte Verordnungsvorbehalt gemäß § 2 Abs. 2 NABEG nichts an diesem Befund. Die „Hochzonung” der Verwaltungszuständigkeit für die Raumordnung, mag man sie auch für verfassungsrechtlich zulässig halten (so erwogen bei Durner, DVBl. 2011, 858), erscheint als unfreundlicher Akt gegenüber den Ländern. Was die verwaltungsorganisatorische Seite angeht, muss die Bundesnetzagentur Raumordnungs- und Fachplanungssachverstand erst mühsam aufbauen – was mag dies mit „Beschleunigung” zu tun haben? Sie wird vermutlich versuchen, tüchtige Beamte der Länder abzuwerben, die dort für Infrastrukturplanungen fehlen. Dies mag eine Entsprechung finden in der nicht belegten (und m. E. auch nicht belegbaren) Behauptung im Gesetzentwurf, die bisher zuständigen Behörden der Länder seien nicht ausreichend sachkundig, Planung und Bau der Leitungen möglichst rasch durchzuführen. Was die Raumordnungs- und Planfeststellungsbehörden Nordrhein-Westfalens angeht, ist diese Behauptung zurückzuweisen.

Überhaupt könnte wohl anhand zahlreicher Verfahrensakten nachgewiesen werden, dass Verzögerungen beim Infrastrukturausbau so gut wie nie an der Unfähigkeit oder dem fehlenden Willen der federführenden Behörden liegen, sondern an unzureichenden Fachvorschriften, an fehlenden Mitteln oder an Einflussnahmen der Politik.

Zweistufiges Verfahren, Betroffenenrechte, Enteignungsregelung

Das am 30. 06. 2011 beschlossene NABEG weicht in wesentlichen Punkten von den materiellen und formellen Regelungen der §§ 43 ff. EnWG und der §§ 72 ff. VwVfG ab. Wie unsicher Bundesregierung und Bundestag bei der Austarierung der Verfahrensgestaltung und der Betroffenenrechte waren, zeigt der Umstand, dass das Gesetz insoweit wesentliche Abweichungen zu den im März bzw. Mai 2011 (dem Vernehmen nach nur an „ausgewählte” Empfänger) informell gestreuten „Eckpunkten” bzw. Vorentwürfen des Bundeswirtschaftsministeriums enthält, vor allem beim Prüfprogramm zur Festlegung der Trassenkorridore (§ 5 Abs. 1 NABEG). Durner hat dies i. E. untersucht (DVBl. 2011, 853 ff.).

Hier fehlt der Raum, darauf näher einzugehen, zwei Erwägungen sollen indes nicht unterschlagen werden: Erstens sieht das NABEG eine zweistufige Bundesfachplanung unter Ausschluss von Raumordnungsverfahren vor (§§ 4, 5, 15). Dieses Modell ist seit langem umstritten, was das Beschleunigungspotenzial und die angemessene Beteiligung Betroffener angeht. Unabhängig davon, wie man sich inhaltlich zu seinen Vor- und Nachteilen stellt, ist mit langjährigen Rechtsstreitigkeiten um Grundsätze und Details zu rechnen. Dies ist wohl kaum mit dem Beschleunigungsziel von Bundeskabinett und Bundestag vereinbar. Zweitens sieht § 27 NABEG vor, dass der Vorhabenträger nicht nur beantragen kann, dass nach Abschluss des planfeststellungsrechtlichen Anhörungsverfahrens eine vorzeitige Besitzeinweisung durchgeführt wird; er kann zu diesem Zeitpunkt sogar ein vorzeitiges Enteignungsverfahren verlangen; dies wird auch von Enteignungsbehörden für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten.

NABEG – quo vadis?

Bundesregierung und Bundestag ist bescheinigt worden, dass dem Beschleunigungsgedanken durch sinnvolle Detailänderungen im Netzausbaurecht besser Rechnung getragen worden wäre; ferner hätte man sich tatkräftig an die Durchsetzung der vorhandenen – im Jahre 2009 erst novellierten – gesetzlichen Instrumente im Verwaltungsvollzug machen sollen (Durner). Was dies angeht, warten Nothungs Späne immer noch auf ihren jungen Siegfried; erst einmal wurde versucht, große Rechtspolitik zu betreiben. Das NABEG könnte jedoch eher als überstürztes Rechtsabenteuer erscheinen, das mehr Fragen aufwirft als löst. Vor allem fällt auf, dass der Bund wieder einmal signalisiert, der Ländervollzug von Bundesgesetzen (Art. 83 f. GG) sei im Grunde ein fortdauerndes Ärgernis, das es zu korrigieren gelte, wo immer dies möglich sei. Schon einmal, im Fall der – vom Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich nicht beanstandeten – Planfeststellung durch Gesetz, haben sich große Erwartungen an neue Verfahren beim Infrastrukturausbau indes nicht erfüllt. Ob dem NABEG ein ähnliches Schicksal zu prophezeien ist?

Ministerialrat Dr. jur. Klaus Schönenbroicher

Dr. Klaus Schönenbroicher

Leitender Ministerialrat, Gruppenleiter im Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, Honorarprofessor an der Ruhr-Universität Bochum
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