15.10.2011

EU-Recht geht Art. 19 Abs. 3 GG vor

BVerfG: Juristische Personen aus dem EU-Ausland sind grundrechtsfähig

EU-Recht geht Art. 19 Abs. 3 GG vor

BVerfG: Juristische Personen aus dem EU-Ausland sind grundrechtsfähig

Unternehmen aus anderen EU-Ländern können sich auf die deutschen Grundrechte berufen. | © Hero - Fotolia
Unternehmen aus anderen EU-Ländern können sich auf die deutschen Grundrechte berufen. | © Hero - Fotolia

Die primär dem Schutz von natürlichen Personen gegenüber der Staatsgewalt dienenden Grundrechte gelten gemäß Art. 19 Abs. 3 GG „auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind“. Neben den sich aus der Wesensklausel ergebenden Einschränkungen (Stichworte: „personales Substrat“ bzw. „grundrechtstypische Gefährdungslage“; regelmäßig keine Grundrechtsfähigkeit von juristischen Personen des öffentlichen Rechts) führt die Inlandsklausel in Bezug auf ausländische juristische Personen dazu, dass diese mit Ausnahme der sog. Justizgrundrechte überhaupt nicht grundrechtsfähig sind.

Denn sowohl der Wortlaut als auch der Sinn und Zweck von Art. 19 Abs. 3 GG verbieten eine ausdehnende Auslegung auf ausländische juristische Personen. Ob hiervon für juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland eine Ausnahme zu machen ist, war im Schrifttum bislang umstritten und wurde vom BVerfG nunmehr erstmals ausdrücklich bejaht.

Begriff „Inland“

Ebenso wie der verfassungsrechtliche Begriff der „juristischen Person“ losgelöst vom einfachen Recht eigenständig aus dem Grundgesetz heraus zu entwickeln ist – und z. B. neben der GmbH und AG ebenfalls die GbR, oHG und KG erfasst –, sind auch die sich aus dem Inlandserfordernis des Art. 19 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen verfassungsautonom zu bestimmen. Da juristische im Gegensatz zu natürlichen Personen allerdings über keine Staatsan-, sondern nur über eine Staatszugehörigkeit verfügen, lässt sich Art. 116 Abs. 1 GG insofern freilich nicht fruchtbar machen, der den verfassungsrechtlichen Begriff des „Deutschen“ definiert. Vielmehr besteht im Ergebnis weitgehend Einigkeit darüber, dass eine juristische Person dann als „inländisch“ zu qualifizieren ist, wenn sich der Mittelpunkt ihrer tatsächlichen Tätigkeit im Inland befindet. Auf den satzungsmäßigen Sitz ihrer Hauptverwaltung kommt es im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG dagegen ebenso wenig an wie auf die Staatsangehörigkeit der „hinter“ ihr stehenden natürlichen Personen, wobei Letzteres bzgl. der Geltendmachung von Deutschengrundrechten durch sog. Ausländervereine allerdings streitig ist.


Ähnliche Rechtslage bei natürlichen Personen

Diese Differenzierung zwischen In- und Ausländern ist nicht auf juristische Personen beschränkt, sondern findet schon auf Ebene der natürlichen Personen ihr Vorbild, wo sie sich bis zum römischen Recht hin zurückverfolgen lässt. So sind die mit besonderer politischer bzw. sozialer Sprengkraft behafteten Grundrechte etwa des Art. 8 Abs. 1 GG (Versammlungsfreiheit) und des Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) als Deutschengrundrechte ausgestaltet, wohingegen der persönliche Schutzbereich beispielsweise des die physische Existenz des Menschen sichernden Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) jedem offensteht.

Ausdehnung der Deutschengrundrechte auf EU-Ausländer

Wenngleich diese Unterscheidung zwischen Jedermanns- und Deutschengrundrechten dadurch abgeschwächt wird, dass sich eine ausländische oder staatenlose natürliche Person im sachlichen Schutzbereich eines Deutschengrundrechts auf das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit berufen kann, so bleibt dieser durch Art. 2 Abs. 1 GG mit seinem einfachen Gesetzesvorbehalt gewährte Schutz dennoch regelmäßig hinter demjenigen Niveau zurück, welches den deutschen Staatsangehörigen zuteil wird. War an der insoweit mithin zu konstatierenden graduellen Schlechterbehandlung von Aus- gegenüber Inländern bei Inkrafttreten des Grundgesetzes allenfalls verfassungspolitische Kritik angebracht, so stellt sich nunmehr dagegen das Rechtsproblem, wie diese im Anwendungsbereich des EUV und AEUV nach Art. 28 ff. AEUV (Grundfreiheiten) bzw. – subsidiär – nach Art. 18 Abs. 1 AEUV (allgemeines Diskriminierungsverbot) verbotene (offene) Diskriminierung von EU-Ausländern gegenüber deutschen Staatsangehörigen mit dem nach wie vor unveränderten Wortlaut der Deutschengrundrechte in juristisch-methodisch „sauberer“ Weise in Einklang zu bringen ist:

Im Schrifttum bislang vertreten wurde insofern vorwiegend (1) eine europarechtskonforme „Auslegung“ des Begriffs „Deutscher“, unter den ebenfalls EU-Ausländer zu subsumieren seien, (2) die Nichtanwendung der im persönlichen Schutzbereich der Deutschengrundrechte enthaltenen Einschränkung auf die eigenen Staatsangehörigen im Anwendungsbereich des EUV und AEUV sowie (3) – unter selbiger Prämisse – eine Übertragung der Schranken des sachlich jeweils einschlägigen Deutschengrundrechts (z. B. der zu Art. 12 Abs. 1 GG entwickelten sog. „Drei-Stufen-Theorie“) auf den allen Ausländern offenstehenden Art. 2 Abs. 1 GG.

Übertragung auf juristische Personen mit Sitz in der EU

Dass für juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland mutatis mutandis nichts anderes gilt als für EU-Ausländer im Bereich der Deutschengrundrechte (namentlich Art. 18 Abs. 1 AEUV gilt auch für Gesellschaften), d. h. die Geltung der materiellen Grundrechte für juristische Personen aus dem EU-Ausland nicht bereits an der Inlandsklausel des Art. 19 Abs. 3 GG scheitert, wird in Teilen der Literatur schon seit Längerem vertreten. Nachdem das BVerfG diese Frage in jüngeren Kammerbeschlüssen noch offengelassen hatte, hat das Gericht mit Beschluss vom 19. 07. 2011 (Az. 1 BvR 1916/09) im Hinblick auf eine Möbel produzierende Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach italienischem Recht (Società per azioni, S.p.A.) mit Sitz in Italien nunmehr judiziert, dass auch diese Trägerin von Grundrechten des Grundgesetzes ist.

Anwendungsvorrang des EU-Rechts

Da der Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG bzgl. des Inlandskriteriums eindeutig ist – „es würde die Wortlautgrenze übersteigen, wollte man […] eine Deutung des Merkmals ,inländische‘ als ,deutsche einschließlich europäische‘ juristische Personen stützen“; auch gehört das Territorium der übrigen EU-Mitgliedstaaten nicht zum „Inland“ –, verweist das BVerfG zur Begründung seiner Entscheidung zutreffend auf den Anwendungs- (nicht: Geltungs-)Vorrang des supranationalen Unionsrechts vor dem nationalen Recht einschließlich des deutschen Bundesverfassungsrechts, der „mit der vertraglichen Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zu den Vorläuferregelungen zu Art. 18 AEUV und zu den Grundfreiheiten unter Wahrung der Grenzen des Art. 79 Abs. 2, 3 GG […] mit der von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG geforderten Mehrheit gebilligt“ wurde.

Voraussetzungen für Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus dem EU-Ausland

Danach wird die in Art. 19 Abs. 3 GG vorgesehene Beschränkung der Grundrechtsgeltung nur für inländische juristische Personen insoweit zurückgedrängt, d. h. erstreckt sich die Grundrechtsgeltung auch auf juristische Personen aus der EU, sofern dies veranlasst ist, „um im Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der Grundrechtsträgerschaft zu vermeiden“.

Dies wiederum „setzt voraus, dass die betroffenen juristischen Personen aus der EU im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden. Der Anwendungsbereich der Verträge richtet sich insoweit nach dem jeweiligen Stand des Primär- und Sekundärrechts der EU und damit nach den ihr in den europäischen Verträgen übertragenen Hoheitsrechten (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EUV). Insbesondere ist er bei der Verwirklichung der Grundfreiheiten des [AEU-]Vertrags und dem Vollzug des Unionsrechts eröffnet“. „Voraussetzung der Berufungsmöglichkeit auf die Grundrechte ist [zudem] ein hinreichender Inlandsbezug der ausländischen juristischen Person, der die Geltung der Grundrechte in gleicher Weise wie für inländische juristische Personen geboten erscheinen lässt. Dies wird regelmäßig dann der Fall sein, wenn die ausländische juristische Person in Deutschland tätig wird und hier vor den Fachgerichten klagen und verklagt werden kann“ (BVerfG, a.a.O.).

Fazit

Über den Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG hinaus sind unter dessen übrigen Voraussetzungen nicht nur juristische Personen mit Sitz im Inland, sondern auch solche mit Sitz im EU-Ausland fähig, sich auf ein in Abschnitt I des Grundgesetzes normiertes Grundrecht zu berufen. Wäre eine derart pointierte Aussage zur Entscheidung der konkreten, im Übrigen unbegründeten Verfassungsbeschwerde nicht zwingend erforderlich gewesen, so bekräftigt und verdeutlicht das BVerfG hiermit – in Anknüpfung an die Entscheidungen in Sachen „Vertrag von Lissabon“ und „Mangold“ – den Anwendungsvorrang des EU-Rechts auch gegenüber kollidierendem bundesdeutschen Verfassungsrecht.

Prof. Dr. iur. Mike Wienbracke

Prof. Dr. iur. Mike Wienbracke, LL. M.

Hochschullehrer für Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Verwaltungsrecht sowie Europarecht, Fachhochschule Gelsenkirchen
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