03.09.2021

Presse muss ältere Beiträge anonymisieren

EGMR fällt Grundsatzentscheidung

Presse muss ältere Beiträge anonymisieren

EGMR fällt Grundsatzentscheidung

Es gibt keine allgemeine Regel, wie lange Artikel im Internet zur Verfügung gestellt werden dürfen. ©sebra - stock.adobe.com
Es gibt keine allgemeine Regel, wie lange Artikel im Internet zur Verfügung gestellt werden dürfen. ©sebra - stock.adobe.com

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat eine weitreichende Entscheidung zugunsten von Menschen getroffen, über die als Unfallverursacher in den Medien berichtet wird. Liegt das eigentliche Unglücksereignis schon Jahre zurück, müssen die Protagonisten im Internet und in Online-Archiven anonymisiert werden, fordert der EGMR in Straßburg (Az.: 57292/16). Konkrete zeitliche Vorgaben lassen sich die Richter nicht entlocken.

Das Recht, vergessen zu werden

Die Weiterentwicklung der Technik bringt auch neue Anforderungen im Bereich der Menschenrechte mit sich. Eines der neuen Grundrechte des Internetzeitalters ist das „Recht, vergessen zu werden“. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte kann es erforderlich machen, so der Gedanke, dass Informationen über eine Person nicht unbegrenzt lange gespeichert werden und frei zugänglich sind. Mit diesem Recht hat sich der EGMR im Fall Hurbain gegen Belgien auseinandergesetzt. Der Gerichtshof entschied, dass es nicht von der Pressefreiheit gedeckt ist, wenn der Name des Verursachers eines Verkehrsunfalls noch Jahre nach dem Ereignis online abrufbar ist und in Suchmaschinen gefunden werden kann.

Der Fall und seine Bewertung durch den EGMR

Der Fall betraf einen belgischen Arzt. Er hatte vor Jahren einen schweren Verkehrsunfall verursacht. Die große belgische Tageszeitung „Le Soir“ berichtete über den Fall – und nannte dabei den vollen Namen des Fahrers. Als die Zeitung Jahre später begann, eine Online- Ausgabe zu veröffentlichen, wurden die alten Artikel dort eingepflegt. Fortan stieß sehr schnell auf den Bericht über den Unfall, wer den Namen des Arztes in eine Suchmaschine eingab.


Dieser hatte seine Strafe lange verbüßt und bat die Zeitung, den Artikel aus ihrem Internetangebot zu entfernen oder ihn zumindest zu anonymisieren. Der Chefredakteur von „Le Soir“ weigerte sich. Der Mann ging vor Gericht – und gewann durch alles Instanzen. Die Gerichte verpflichteten den Chefredakteur von „Le Soir“, den Beitrag aus der Online-Ausgabe zu löschen. Der Journalist wandte sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Er machte geltend, die Verpflichtung zur Löschung des Artikels verletze sein Grundrecht auf Pressefreiheit.

Der EGMR wies die Beschwerde ab. Der Gerichtshof war der Auffassung, es liege zwar ein Eingriff in das Recht auf Pressefreiheit vor. Dieser Eingriff sei aber gerechtfertigt. Der EGMR wies darauf hin, dass auch das Persönlichkeitsrecht des Arztes grundrechtlich geschützt ist. Deshalb wog das Gericht zwischen den beiden Grundrechten ab.

Dabei hob das Gericht hervor, dass eine Veröffentlichung im Internet nicht unbedingt genauso zu beurteilen sei wie ein Artikel in einer klassischen Zeitung. Dadurch, dass ein Beitrag im Internet weltweit abrufbar sei und von einer praktisch unbegrenzten Zahl von Menschen gelesen werden könne, greife er viel weiter in das Persönlichkeitsrecht ein als ein Artikel, der lediglich in der Druckausgabe einer Zeitung erscheine.

Darüber hinaus sei zu unterscheiden zwischen der Veröffentlichung eines Artikels zu einem bestimmten Thema und der langfristigen Vorhaltung des Beitrags in der Online-Ausgabe einer Zeitung. Wenn eine Veröffentlichung rechtmäßig sei, so bedeute das nicht automatisch, dass diese auch langfristig im Internet angeboten werden dürfe.

Aus diesem Grund lehnte der EGMR die Beschwerde ab. Der Gerichtshof ging davon aus, dass der Artikel über den Unfall ursprünglich rechtmäßig gewesen sei. Als der Unfall sich ereignete, habe ein öffentliches Interesse an dem Bericht bestanden. Viele Bewohner der Region hätten sich über den Hergang informieren wollen. Das bedeute aber nicht, dass der Beitrag auch dauerhaft zugänglich bleiben dürfe. Da es sich trotz der tragischen Folgen letztlich nur um einen durchschnittlichen Verkehrsunfall gehandelt habe, sei das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Lauf der Zeit schwächer geworden. Deshalb sei es nunmehr gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers schwächer zu bewerten.

Unterschied zu anderen Fällen, öffentliches Interesse

Dies unterschied den Fall nach Ansicht des Gerichtshofs von dem Fall M.L. und W.W. gegen Deutschland, den der EGMR früher entschieden hatte. Er betraf die Mörder des Schauspielers Walter Sedlmayer. Sie sahen einen Verstoß gegen ihre Menschenrechte darin, dass ihr Name weiterhin in den Online-Ausgaben wichtiger Medien abrufbar war, nachdem sie ihre Strafe verbüßt hatten. Der EGMR lehnte die Beschwerde ab; es gebe weiterhin ein großes öffentliches Interesse an dem Fall, der die Gemüter so sehr erregt habe. Ein solches Interesse konnte der Gerichtshof im Fall Hurbain nicht mehr erkennen.

Der EGMR setzte sich auch mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall Google Spain auseinander. In diesem Urteil hatte sich der EuGH mit der Klage eines spanischen Staatsbürgers auseinandergesetzt, dessen Name vor Jahren im Zusammenhang mit einer Insolvenz in einer Zeitung genannt worden war. Wer den Namen des Mannes in eine Suchmaschine eingab, erhielt immer noch den Treffer „Insolvenz“. Der Mann versuchte einerseits die Löschung des Artikels zu erreichen; andererseits wollte der durchsetzen, dass Google den Treffer aus den Suchergebnissen entfernte. Der EuGH wies in seinem Urteil darauf hin, dass die Zeitung, die den Artikel veröffentlicht hatte, sich auf die Pressefreiheit berufen könne, Google dagegen nicht. Auch sei die wesentliche Ursache für die Unbill des Klägers nicht der Artikel, sondern dass er über die Suchmaschine in Zusammenhang mit der Insolvenz gefunden werde.

Der Chefredakteur von Le Soir berief sich beim EGMR auf dieses Urteil. Der richtige Ansprechpartner sei Google. Das überzeugte den EGMR nicht. Man dürfe nicht verkennen, so der Gerichtshof, dass die Zeitung es gewesen sei, die den Artikel über den Unfall veröffentlich habe. Die Zeitung sei es auch gewesen, die durch die Aufnahme des Beitrags in die Online-Ausgabe dafür gesorgt habe, dass der Name des Arztes jederzeit in Verbindung mit dem Unfall gebracht werde.

Fazit

Was folgt daraus? Es gibt keine allgemeine Regel, wie lange Artikel im Internet zur Verfügung gestellt werden dürfen. Maßgeblich ist immer eine Prüfung des Einzelfalles. Wichtig ist, dass auch Beiträge, die ursprünglich rechtmäßig waren, nach einiger Zeit in vielen Fällen gelöscht werden müssen. Es lohnt sich, dies bei der Entscheidung über die Veröffentlichung im Internet frühzeitig zu berücksichtigen und möglicherweise eine Löschung oder Anonymisierung vorzumerken.

 

Holger Hembach

Rechtsanwalt, Hembach Legal
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