03.07.2023

Polizeiflucht kein Einzelrennen

Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg

Polizeiflucht kein Einzelrennen

Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

In sog. Polizeiflucht-Fällen kommt eine Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB in Betracht, wenn auch festgestellt werden kann, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.

Die Einordnung derartiger Fälle kann auch nicht gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB erfolgen. Diese Norm setzt voraus, dass der Angeklagte als Kraftfahrzeugführer an Kraftfahrzeugrennen teilgenommen hätte. Kraftfahrzeugrennen ist ein Wettbewerb oder Wettbewerbsteil zur Erzielung von Höchstgeschwindigkeiten mit Kraftfahrzeugen, bei denen zwischen mindestens zwei Teilnehmern ein Sieger ermittelt wird, wobei es einer vorherigen Absprache der Beteiligten nicht bedarf.

Letzteres trifft allerdings nur insoweit zu, als vorbereitende ausdrückliche Verabredungen über Zeit, Ort oder Regeln nicht getroffen werden müssen, mithin eine „Organisation“ nicht erforderlich ist. Ein „Rennen“ selbst setzt aber stets die Kenntnis aller Teilnehmer voraus, denn ein Wettbewerb existiert begrifflich nur dort, wo er als solcher wahrgenommen wird. Oberlandesgericht Oldenburg (Urt. v. 14.11.2022 – 1 Ss 199/22 – Verlags- Archiv Nr. 2023-05-09)


StGB – § 315d

Sachverhalt

Dem Angeklagten wurde mit rechtzeitig angefochtenem Strafbefehl vorgeworfen, sich im Straßenverkehr als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt zu haben, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erzielen, Vergehen nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB.

Das Amtsgericht hatte sich vom Vorliegen einer Straftat nicht zu überzeugen vermocht und den Angeklagten lediglich wegen einer Ordnungswidrigkeit, nämlich vorsätzlicher Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage (Rotlichtdauer über 1 Sekunde) in Tateinheit mit einer vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 50 km/h, zu einer Geldbuße von 300,00 € verurteilt und ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat verhängt, wobei es wegen eines bereits in der Vergangenheit verhängten Fahrverbots von einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG abgesehen hat. Die hiergegen erhobenen Rechtsmittel der Berufung und Revision seitens der Staatsanwaltschaft zeitigten keinen Erfolg.

Aus den Gründen

Nach den Feststellungen des Landgerichts (LG) befuhr der Angeklagte am … 2021 mit seinem Pkw Audi A 4, amtliches Kennzeichen (…), die B 403 in Nordhorn in Richtung Neuenhauser Straße, als ihm ein Streifenwagen, in dem sich die Polizeibeamten BB und CC befanden, entgegenkam. Die Beamten wendeten den Streifenwagen und fuhren hinter dem Angeklagten her. Als der Angeklagte bemerkte, dass die Polizeibeamten ihren Wagen wendeten und hinter ihm herfuhren, beschleunigte er stark bis zu dem Ortsschild. Auch als der Angeklagte bemerkt hatte, dass die Polizeibeamten das Martinshorn einschalteten und ihm ein Anhaltesignal gaben, beschleunigte er zunächst weiter und bog dann links in die Neuenhauser Straße ein. Er missachtete an dem Kreuzungsbereich Neuenhauser Straße/Pestalozzistraße/E.straße das Rotlicht der Ampelanlage, das bereits seit mehr als 1 Sekunde lang für seine Fahrtrichtung rot anzeigte, und bog nach rechts in die außerorts belegene E.straße ein. Die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt 70 km/h. Der Angeklagte befuhr diese Straße mit mindestens 120 km/h. Hinter der Ampelkreuzung Neuenhauser Straße/Pestalozzistraße/E.straße bog der Angeklagte im Kreisverkehr rechts auf den Postdamm/Paradiesweg ein. Die Polizeibeamten konnten den Abstand nicht verringern und brachen zunächst die Verfolgung ab, nachdem ihr Fahrzeug mehrfach aufgesetzt hatte. Dass auch das Fahrzeug des Angeklagten beim Befahren des Paradiesweges aufsetzte, hat die Strafkammer nicht festzustellen vermocht.

Der Angeklagte fuhr sodann über den Fuchsweg zurück in Richtung Neuenhauser Straße, wo ihn schließlich die Beamten anhielten. Während der gesamten Fahrt war der Angeklagte der Auffassung, er hätte mit seinem Fahrzeug auf der ihm bekannten und in Teilen geraden Strecke schneller fahren können. Das Fahrzeug hatte 245 PS.

Dass der Angeklagte die Absicht hatte, auf einer nicht ganz unerheblichen Teilstrecke die situativ mögliche Höchstgeschwindigkeit zu erreichen, habe die Kammer nicht feststellen können. Voraussetzung hierfür sei, dass es dem Angeklagten bei seinem Handeln darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht vor der Polizei die nach den situativen Gegebenheiten höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Die Absicht müsse darauf gerichtet sein, die nach den Vorstellungen des Täters unter den konkreten situativen Gegebenheiten wie Motorisierung, Verkehrslage, Streckenverlauf, Witterung und Sichtverhältnisse maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen auf einer unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten nicht ganz unerheblichen Wegstrecke. Das von der Kammer festgestellte Verhalten des Angeklagten erfülle daher nicht den Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB.

Das Verhalten des Angeklagten sei auch nicht nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar. Um diesen Tatbestand zu erfüllen, sei Voraussetzung, dass der Angeklagte an einem Rennen i. S. d. Vorschrift teilgenommen hätte. Ein Rennen i. S. d. Vorschrift setze voraus, dass es sich um einen Wettbewerb oder ein Wettbewerbsteil zur Erzielung von Höchstgeschwindigkeiten mit Kraftfahrzeugen handele, bei dem zwischen mindestens zwei Teilnehmern ein Sieger ermittelt werde. Die besondere Gefährlichkeit von Kraftfahrzeugrennen liege darin, dass es zwischen den konkurrierenden Kraftfahrzeugführern zu einem Kräftemessen im Sinne eines Übertreffenwollens gerade in Bezug auf die gefahrene Geschwindigkeit komme.

Wesentlich sei mithin bei diesem Tatbestand, dass mindestens zwei Teilnehmer sich gegenseitig übertreffen wollten. Daran fehle es hier, denn jedenfalls die Beamten hätten weder zu dem Angeklagten in Konkurrenz treten noch diesen in Bezug auf die gefahrene Geschwindigkeit im Sinne eines Kräftemessens übertreffen wollen. Der Angeklagte habe sich allein wegen vorsätzlicher Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage bei einer Rotlichtdauer über 1 Sekunde in Tateinheit mit einer vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 50 km/h schuldig gemacht.

Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht zu einer Ablehnung einer Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB („verbotenes Einzelrennen“) gelangt ist, ist nicht zu beanstanden.

Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und vom Revisionsgericht daher in der Regel hinzunehmen. Eine revisionsrechtliche Beurteilung ist auf die Prüfung beschränkt, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denk- oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt, wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat (…) oder wenn sich die vom Tatrichter gezogenen Schlussfolgerungen so sehr von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass sie letztlich bloße Vermutungen sind, die nicht mehr als einen schwerwiegenden Verdacht begründen (…). Hieran gemessen sind die Erwägungen, mit denen die Strafkammer zu der Annahme gelangt ist, der Angeklagte habe angenommen, er hätte auf der ihm bekannten und in Teilen geraden Strecke schneller fahren können, nicht zu beanstanden.

Insbesondere verstoßen die Ausführungen des Landgerichts, wonach es sich bei dem vom Angeklagten geführten Fahrzeug um ein vom Modell und Typ her anderes als das der Polizeibeamten handelte, sodass allein aus dem Umstand, dass die Beamten – wegen des Aufsetzens ihres Fahrzeugs – auf dem Streckenabschnitt nicht schneller fahren konnten, nicht der Schluss gezogen werden könne, dies sei auch dem Angeklagten nicht möglich gewesen, nicht gegen die Denkgesetze. Zu beachten ist zudem, dass aus einer Fluchtmotivation, wie sie bei dem Angeklagten bestand, nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden kann, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Höchstgeschwindigkeit zu steigern (…). Unter Zugrundelegung der fehlerfrei getroffenen Feststellungen hat das Landgericht zutreffend das Vorliegen einer Straftat nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint.

Zwar kommt grundsätzlich auch eine Subsumtion der sog. „Polizeiflucht-Fälle“ unter diese Norm in Betracht (…). Dies gilt indes nur, wenn auch festgestellt werden kann, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Erforderlich dafür ist zwar nicht das Vorliegen der Absicht, das Fahrzeug mit objektiv höchstmöglicher Geschwindigkeit zu führen oder es bis an die technischen bzw. physikalischen Grenzen auszufahren. Gefordert ist aber ein Abzielen auf eine, angesichts der relevanten Komponenten wie fahrzeugspezifische Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigung, subjektives Geschwindigkeitsempfinden, Verkehrslage und Witterungsbedingungen, relative Höchstgeschwindigkeit.

Die Absicht des Erzielens einer höchstmöglichen Geschwindigkeit entfällt, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 05.10.2022 zutreffend hingewiesen hat, dann, wenn der Kraftfahrzeugführer unwiderlegbar behaupten kann, er sei der Auffassung gewesen, noch schneller fahren zu können, worauf er jedoch verzichtet habe. So liegt es hier. Darüber hinaus hat die Strafkammer zu Recht auch eine Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB abgelehnt.

Der von der Revision herangezogenen Entscheidung der 13. Strafkammer (Jugendkammer) des LG Osnabrück vom 22.12.2021 (…), wonach auch die Fälle der sogenannten Polizeiflucht – worunter das vorliegend festgestellte Verhalten des Angeklagten fällt – die Tatbestandsvariante der Teilnahme an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen i. S. d. § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllten, vermag der Senat nicht zu folgen.

Die 13. Jugendkammer des LG Osnabrück begründet ihre Ansicht damit, dass auch in diesen Fällen von einem spezifischen Renncharakter auszugehen sei, auch wenn das Ziel des Wettbewerbs hier nicht im bloßen Sieg, sondern in der gelungenen Flucht liege. Eine vorherige Absprache oder Organisation sei nicht erforderlich. Schließlich erfasse der Wortlaut der Strafvorschrift auch die Fälle, in denen nicht alle Teilnehmer unerlaubt handelten. Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass das „Rennen“ als solches mangels behördlicher Erlaubnis (§ 29 Abs. 2 StVO) unerlaubt ist, auch wenn die Polizeibeamten im Rahmen der Gefahrenabwehr und damit gerechtfertigt handeln (…).

Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB wäre aber weiter, dass der Angeklagte als Kraftfahrzeugführer an Kraftfahrzeugrennen teilgenommen hätte. Kraftfahrzeugrennen ist ein Wettbewerb oder Wettbewerbsteil zur Erzielung von Höchstgeschwindigkeiten mit Kraftfahrzeugen, bei denen zwischen mindestens zwei Teilnehmern ein Sieger ermittelt wird, wobei es einer vorherigen Absprache der Beteiligten nicht bedarf.

Letzteres trifft allerdings nur insoweit zu, als vorbereitende ausdrückliche Verabredungen über Zeit, Ort oder Regeln nicht getroffen werden müssen, mithin eine „Organisation“ nicht erforderlich ist. Ein „Rennen“ selbst setzt aber stets die Kenntnis aller Teilnehmer voraus, denn ein Wettbewerb existiert begrifflich nur dort, wo er als solcher wahrgenommen wird. Vereinbarungen können sich auch spontan und konkludent ergeben (…).

Insoweit weist aber bereits Krenberger in seiner Anmerkung zu der bezeichneten Entscheidung des LG Osnabrück (…) zutreffend darauf hin, dass schon der Teilnehmerbegriff auf den Fahrzeugführer des Polizeifahrzeugs nur schwerlich anzuwenden ist. Als Teilnehmer an einem Rennen ist zu qualifizieren, wer sich äußerlich den formellen oder informellen Regeln der Veranstaltung im Wesentlichen unterwirft und dabei subjektiv einen Platz im Wettbewerb einnehmen oder das Ziel der Veranstaltung fördern möchte. Der Polizeibeamte hat hier aber mitnichten einen Förderungswillen, sondern will das Rennen so schnell wie möglich beenden.

Damit fehlt es aber, wie auch König in seiner Anmerkung zu dem Urteil des LG Osnabrück (…) ausführt, an einer jedenfalls konkludenten Rennabrede. Zudem fehlt der Verfolgungsfahrt selbst der Wettbewerbscharakter, weil sie auf eine Beendigung der „Teilnahme“ des verfolgten Kraftfahrzeugführers abzielt (…). Nach alledem kommt deshalb eine rechtliche Einordnung der sog. „Polizeiflucht-Fälle“ als verbotenes Kraftfahrzeugrennen gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht in Betracht.

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv 5/2023, Lz. 351.

 

Dr. Matthias Goers

Vorsitzender Richter am Landgericht, Hof
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