27.07.2023

Familienversicherung ohne Altersgrenze

§ 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V

Familienversicherung ohne Altersgrenze

§ 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V

Viele Menschen mit Behinderungen, die in der Familienversicherung ohne Altersgrenze versichert sind, beziehen Leistungen nach dem SGB XII | © Robert Kneschke - stock.adobe.com
Viele Menschen mit Behinderungen, die in der Familienversicherung ohne Altersgrenze versichert sind, beziehen Leistungen nach dem SGB XII | © Robert Kneschke - stock.adobe.com

Menschen mit Behinderungen sind oft ohne Altersgrenze familienversichert. Bei diesen sogenannten „ruhigen Akten“ kommt vor, dass das Ausscheiden des Hauptversicherten aus der Krankenversicherung verpasst wird und die Familienversicherung durch den Tod erlischt – und damit die Frist zur Beantragung einer freiwilligen Versicherung.

Sehr viele Menschen mit Behinderungen, die in der Familienversicherung ohne Altersgrenze versichert sind, beziehen Leistungen nach dem SGB XII. Hinsichtlich der Krankenversicherung (KV) sind das „ruhige Akten“, denn es ist kein Beitrag zu entrichten/zu überweisen und regelmäßig vom Sozialhilfeträger auch nichts Konkretes zu veranlassen, wie bei freiwillig Versicherten, bei denen der Beitrag bei Erhöhungen (meist 1x pro Jahr) im System angepasst und die Höhe der Überweisungen geändert werden muss.

Bei Familienversicherungen ohne Altersgrenze besteht daher die Gefahr, dass bei Ausscheiden des Hauptversicherten (z. B. durch Tod) der familienversicherte Angehörige dies nicht erfährt, die Familienversicherung durch den Tod erlischt und dann die 3-Monats-Frist zur Beantragung einer freiwilligen Versicherung verstrichen ist. Eine rückwirkende „Stornierung“ der Familienversicherung ist in diesen Fällen nicht möglich, wenn es einen Bescheid über die Familienversicherung gibt (BSG, Urteil vom 7. 12. 2000 – B 10 KR 3/99 R.1https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/legacy/2730?modul=esgb&id=2730.


Weiterhin erlischt eine Familienversicherung nicht „einfach so“, sondern das Ende muss festgestellt werden („kein Selbstvollzug des Gesetzes“, BSG, Urteil vom 16. 11. 1995 – 4 RK 1/94).2https://www.prinz.law/urteile/bundessozialgericht/BSG_Az_4-RK-1-94—1994-01-12. Die pure Aushändigung bzw. Übersendung der Versichertenkarte ist kein Verwaltungsakt (VA) (BSG, Urteil vom 7. 12. 2000 – B 10 KR 3/99).3https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/legacy/2730?modul=esgb&id=2730. Das Begrüßungsschreiben mit der Übersendung der Versichertenkarte, in dem explizit steht „familienversichert ist das Kind xy/der Ehegatte z, ist allerdings ein VA.

Die meisten Krankenkassen versenden inzwischen aber die Versichertenkarte ohne diesen Zusatz (damit wäre es dann kein VA). Von daher sollte zu Beginn oder auch im Laufe einer bestehenden Familienversicherung eine schriftliche Bestätigung über das Bestehen der Familienversicherung und deren Beginn von der Krankenkasse angefordert werden. Diese Bestätigung stellt dann einen Bescheid und damit einen VA dar. Eine Aufnahme in die Familienversicherung ohne Altersgrenze bei den Krankenkassen durchzusetzen, macht im Regelfall erhebliche Probleme.

Die Krankenkassen machen weniger Probleme, wenn die nachfolgenden Kriterien vorliegen:

  • es liegt eine so starke Behinderung – vor, dass das Kind noch nicht einmal in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) tätig sein kann,
  • es liegt ein Bescheid über eine Schwerbehinderung mit einem GdB 100 vor oder
  • es liegt ein Bescheid über Kindergeld über das 25. (früher 27.) Lebensjahr hinaus ohne altersmäßige Begrenzung vor.

Allerdings sind diese Voraussetzungen keinesfalls unabdingbare Voraussetzungen! Was steht im Gesetz?

§ 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V:

„Kinder sind versichert …

ohne Altersgrenze, wenn sie als Menschen mit Behinderungen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches) außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind innerhalb der Altersgrenzen nach den Nummern 1, 2 oder 3 familienversichert war oder die Familienversicherung nur wegen einer Vorrangversicherung nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 ausgeschlossen war.“

Menschen mit Behinderungen

§ 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V verweist auf § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX:

Hiernach „sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“

Die Feststellung einer Behinderung obliegt gem. § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX den zuständigen Behörden: „Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest.“ I. d. R. sind dies die Versorgungs- oder Landesversorgungsämter (und nicht der MD [medizinischer Dienst; bis 31. 12. 2019 MDK = medizinischer Dienst der Krankenkassen]).

In den Versorgungsämtern arbeiten Ärzt*innen, die auf die Feststellung von Behinderungen spezialisiert sind. Die ärztlichen Feststellungen werden von den Verwaltungskräften dann mit Verwaltungsakten beschieden. Für mich ist der Satz 1 im § 152 SGB IX eindeutig. Es erschließt sich mir nicht, warum die Krankenkassen an diese Feststellungen nicht gebunden sein sollen und im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht eigene Feststellungen treffen sollen bzw. dürfen. Zudem wird im § 275 Abs. 2 SGB V abschließend aufgezählt, in welchen Fällen die Krankenkassen den MD einschalten müssen.

Die Feststellung der Familienversicherung ohne Altersgrenze ist dort nicht aufgeführt. Die ist noch nicht einmal im Absatz 3 aufgeführt („Die Krankenkassen können in geeigneten Fällen durch den Medizinischen Dienst prüfen lassen …“).

Behinderung – Schwerbehinderung

Das Gesetz verlangt lediglich eine Behinderung, keine Schwerbehinderung. Ein Bescheid des Versorgungsamtes mit einem GdB von 50 oder mehr ist daher nicht zwingend nötig, es genügt, dass ein GdB festgestellt wurde. Liegt kein Bescheid des Versorgungsamtes vor (oder nur für bestimmte Zeiten), können hilfsweise auch andere Unterlagen, z. B. ein Gutachten (amtsärztlicher Dienst, Arbeitsagentur, DRV), in dem die Behinderung festgestellt wird, eingereicht werden. Eine dauerhafte Behinderung ist nicht Voraussetzung (s. o. Definition), daher ist auch eine Feststellung der Behinderung mit zeitlicher Begrenzung ausreichend für die Familienversicherung ohne Altersgrenze (die dann entsprechend befristet wird).

Alle ehemaligen Leistungsbeziehenden Alg II, die vom Jobcenter an den Sozialhilfeträger verwiesen werden, weil sie länger als 6 Monate nicht erwerbsfähig sind, erfüllen die Voraussetzung des § 2 Abs. 1 SGB IX.

Wer in einer WfbM tätig war und aus dieser ausscheidet ist auf jeden Fall behindert, weil die Behinderung Voraussetzung für die Aufnahme in die WfbM ist. Die DRV erstellt zur Feststellung der Erwerbsminderung ein Gutachten. Oft kann eine Behinderung auch aus diesen Gutachten nachgewiesen werden.

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der ZfF 12/2022, S. 265.

 

Claudia Mehlhorn

Dipl.-Verwaltungswirtin (FH), Berlin
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  • 1
    https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/legacy/2730?modul=esgb&id=2730.
  • 2
    https://www.prinz.law/urteile/bundessozialgericht/BSG_Az_4-RK-1-94—1994-01-12.
  • 3
    https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/legacy/2730?modul=esgb&id=2730.
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