17.07.2023

Asyl: Rückkehrhilfen gegen alsbaldige Verelendung

Wie nachhaltig muss die Rückkehrförderung bei Abschiebungsverboten sein?

Asyl: Rückkehrhilfen gegen alsbaldige Verelendung

Wie nachhaltig muss die Rückkehrförderung bei Abschiebungsverboten sein?

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © emmi - Fotolia / RBV

Rückkehrprämien werden in asylgerichtlichen Entscheidungen immer häufiger zur Begründung für oder gegen die Feststellung der Gefahr einer humanitären Notlage angeführt. Das Bundesverwaltungsgericht hat nun den Volltext einer Grundsatzentscheidung zu diesem Thema veröffentlicht: Maßgeblich ist danach, ob Rückkehrhilfen eine „alsbaldige“ Verelendung verhinderten; eine nachhaltige Existenzsicherung sei unerheblich. Zugleich gesteht das Bundesverwaltungsgericht indirekt ein, dass die langfristige Wirkung der Hilfen berücksichtigt werden muss.

Seit dem „Sommer der Migration“ 2015 wurden in Deutschland und Europa Maßnahmen der Rückkehrförderung abgelehnter Asylsuchender intensiviert. Die alimentierte Ausreise wird politisch als freiwillige Rückkehr und damit als humanere und kostengünstigere Alternative zu Abschiebungen gerahmt. Durch eine finanzielle Förderung der Reisekosten in Verbindung mit einer Starthilfe werden Anreize gesetzt, dass Menschen Deutschland verlassen, bevor sie zwangsweise zurückgeführt werden.

125.229 Menschen erhielten seit 2016 Rückkehrprämien im Rahmen des umfassendsten Programms REAG/GARP, das 2017 erweitert wurde durch StarthilfePlus. Die genauen Fördersätze hängen vom Herkunftsstaat ab und werden jedes Jahr aktualisiert. Derzeit erhalten Rückkehrer:innen bis zu 2.700 Euro, fallabhängig kommen Mittel für medizinische Zusatzkosten und eine Wohnhilfe hinzu. Flankiert werden die Prämien durch die „gemeinsame Rückkehrinitiative“ der Bundesministerien des Innern und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMI und BMZ), die den Ausreisefokus der Innenpolitik um die Reintegration der Betroffenen ergänzt, die mithilfe von Entwicklungszusammenarbeit gelingen soll.


Diese Rückkehrmaßnahmen verschieben sich immer mehr vor oder in das Asylverfahren: So erhalten Asylsuchende bereits vor der Antragsstellung Rückkehrinformationen in den Unterkünften, und die Prämie fällt höher aus, wenn man im noch laufenden Verfahren zurückkehrt. Ein weiteres, bisher kaum beachtetes Beispiel für diese Verschiebung ist, dass die Verwaltungsgerichte Rückkehrhilfen in den Entscheidungsgründen zu nationalen Abschiebungsverboten zunehmend berücksichtigen.

Dazu hat das Bundesverwaltungsgericht bereits im April eine wegweisende Entscheidung getroffen, deren Begründung nun veröffentlicht wurde (BVerwG 1 C 10.21).

Abschiebungsverbote und Rückkehrhilfen

Das nationale Abschiebungsverbot ist ein ergänzender Schutzstatus neben der Flüchtlingseigenschaft und dem subsidiären Schutz. Bei Letzteren ist (zielgerichtetes) menschliches Handeln als Ursache einer Menschenrechtsverletzung die zentrale tatbestandliche Voraussetzung, etwa eine Verfolgungshandlung aufgrund eines individuellen Merkmals der Verfolgten beim Flüchtlingsstatus.

Im Gegensatz dazu schützt das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG auch vor extremer materieller Not ohne direkte Akteursverursachung. Ausgangspunkt ist Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Schutz vor unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Bedingung ist laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte „ein sehr außergewöhnlicher Fall, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind“ (N. v. UK). § 60 Abs. 7 schützt außerdem vor erheblicher konkreter Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, spielt in der Entscheidungspraxis aufgrund des dafür geltenden strengeren Maßstabs aber nur noch eine Nebenrolle (vgl. BT-Drs. 20/2309, S. 20). Aus beiden Normen folgt der gleiche Schutzstatus.

Mangelnde Auseinandersetzung mit Rückkehrprogrammen

Ausgehend von dieser Rechtsprechung, nehmen die Gerichte eine Gesamtbetrachtung der humanitären Lage im Herkunftsland vor und bewerten insbesondere den Zugang zu Unterkunft, Nahrungsmitteln und sanitärer bzw. medizinischer Versorgung („Bett, Brot, Seife“). In dieser Konkretisierung der abstrakten Maßstäbe des EGMR fließt zunehmend die „Berücksichtigung von Rückkehrhilfen“ ein.

Viele Verwaltungsgerichte nennen dann kurz die einschlägigen Rückkehrprämien und -programme und argumentieren, dass nicht zuletzt aufgrund dieser Hilfen ein Leben am Rande des Existenzminimums möglich und die Rückkehr deshalb zumutbar ist. Mit der konkreten Umsetzung oder der Wirksamkeit der Programme setzen sie sich in der Regel nicht auseinander. Eine Ausnahme dazu stellt das Afghanistan-Urteil des VGH Baden-Württemberg von Dezember 2020 (A 11 S 2042/20) dar, das nun vom Bundesverwaltungsgericht revidiert wurde.

In einer im Vergleich zu anderen Tatsachengerichten differenzierten Argumentation stellte der VGH fest, dass Rückkehrhilfen zwar den „unmittelbaren Eintritt einer unmenschlichen Behandlung“ verhindern mögen, ihnen dahingehend allerdings „keine nachhaltige Bedeutung“ zu-komme (Rn. 111). Der Aufbau einer eigenständigen Existenz, um langfristig einer materiellen Notlage zu entgehen, sei durch sie nicht möglich. Darüber hinaus setzte sich das Gericht mit einer Evaluation der Rückkehrprämien auseinander und schließt daraus, dass insbesondere für Afghanistan die reibungslose Auszahlung der Gelder alles andere als gesichert ist (Rn. 97).

Auf der Suche nach dem Maßstab: „alsbaldige“ Verelendung vs. nachhaltige Existenzsicherung

Die Antwort des Bundesverwaltungsgerichts auf diese Argumentation lässt sich kurz und knapp so zusammenfassen: Ob Rückkehrhilfen zu einer nachhaltigen Existenzsicherung beitragen, spiele bei der rechtlichen Bewertung materieller Notlagen keine Rolle. Maßgeblich sei allein, ob die Hilfen verhinderten, dass die Rückkehrer:innen „alsbaldig“ verelenden.

Die Gefahr eines schutzrelevanten Schadens sei nicht schon dann gegeben, „wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht“ (Rn. 25). Es gehe lediglich darum, dass Rückkehrer:innen ihre „elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum“ befriedigen könnten. „Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist“ (Rn. 25). Das Gericht schließt mit dieser Begründung an die bereits länger bestehende Dogmatik eines „Zurechnungszusammenhangs“ (Rn. 21) zwischen Abschiebung und Verelendung an: Nur Menschenrechtsverletzungen, die sich in unmittelbarer Folge der Rückkehr realisieren, sind bei der Bewertung humanitären Schutzes zu berücksichtigen.

Formelhaft steht dafür das Wörtchen „alsbald“, das sich spätestens seit den späten 1990er-Jahren in der höchstgerichtlichen deutschen Rechtsprechung zu Abschiebungsverboten festgesetzt hat. Es geht wiederum zurück auf die Metapher des Gerichts, ein Abschiebungsverbot könne nur erteilt werden, wenn ein Mensch ansonsten „sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde. Die Logik lautet also: Nur, was im direkten zeitlichen Zusammenhang mit der Rückführung liegt, kann das „sehende Auge“ noch erfassen.

Abschiebungsverbot schon zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung

Mit dieser buchstäblich kurzsichtigen Argumentation wird die Frage nach der nachhaltigen Wirksamkeit von Rückkehrhilfen obsolet, das Bundesverwaltungsgericht schiebt sie als rechtlich irrelevant beiseite. Einerseits. Denn andererseits findet sich im gleichen Urteil ein weiteres Argument, mit dem das Gericht die Logik des Zurechnungszusammenhangs teilweise dekonstruiert. Obwohl es zwar klarstellt, dass der zu beurteilende Zeitraum direkt nach der Rückkehr beginnt, legt es im gleichen Absatz einen zweiten Startpunkt fest, nämlich nachdem die Rückkehrhilfen aufgebraucht sind.

Ein Abschiebungsverbot könne demnach auch dann ausgesprochen werden, „wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht“ (Rn. 25).

Darüber hinaus sei der Maßstab der Wahrscheinlichkeit einer eintretenden Verelendung davon abhängig, wie lange sich ein Mensch durch Rückkehrhilfen über Wasser halten könne: „Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein“ (Rn. 25).

(…)

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der BDVR 4/2022, S. 32.

 

Valentin Feneberg

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Integrative Research Institute Law & Society der Humboldt-Universität zu Berlin
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