01.11.2021

Nichtigkeit landesrechtlicher Corona-Eindämmungsvorschriften

Amtsgericht Weimar Urt. v. 11.1.2021 – 6 OWi 523 Js 202518/20

Nichtigkeit landesrechtlicher Corona-Eindämmungsvorschriften

Amtsgericht Weimar Urt. v. 11.1.2021 – 6 OWi 523 Js 202518/20

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
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Vorbemerkung: Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.

Am 24.4.2020 hielt sich der Betroffene in den Abendstunden zusammen mit mindestens sieben weiteren Personen im Hinterhof des Hauses X-Straße 1 in W. auf, um Geburtstag zu feiern. Die insgesamt acht Beteiligten verteilten sich auf sieben verschiedene Haushalte. Wegen eines Verstoßes gegen Vorschriften des Thüringer Landesinfektionsschutzrechts erging gegen den Betroffenen ein Bußgeldbescheid. Das Amtsgericht sprach den Betroffenen vom Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit frei.

Zum Urteil

Der Betroffene war aus rechtlichen Gründen freizusprechen, weil § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO verfassungswidrig und damit nichtig sind. Die tief in die Grundrechte eingreifenden Regelungen sind von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im IfSG nicht gedeckt. Gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG kann die Exekutive durch ein Gesetz ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Je wesentlicher Rechtsverordnungen oder andere Rechtsakte der Exekutive in Grundrechte eingreifen, umso genauer und intensiver müssen die Regelungen des ermächtigenden Gesetzes sein.


Ist im Hinblick auf bestimmte Normen einer Rechtsverordnung den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre durch das ermächtigende Gesetz nicht Genüge getan, führt dies zur Verfassungswidrigkeit der Normen der Verordnung. Rechtsgrundlage für das hier zur Rede stehende sog. allgemeine Kontaktverbot ist § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Der Gesetzgeber hatte als Eingriffsvoraussetzung für ein allgemeines Kontaktverbot vor der Schaffung von § 28a IfSG mit Gesetz vom 18.11.2020 lediglich in § 28 Abs. 1 IfSG bestimmt, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige etc. einer übertragbaren Krankheit festgestellt wurden und dass die Maßnahme nur „soweit und solange es zur Verhinderung der Krankheitsverbreitung erforderlich ist“, getroffen werden darf, wobei Letzteres nicht mehr als ein expliziter Verweis auf das ohnehin geltende Verhältnismäßigkeitsprinzip ist. Damit sind nur absolute Minimalvoraussetzungen geregelt.

Allgemeines Kontaktverbot verfassungskonform?

Soweit ein allgemeines Kontaktverbot überhaupt verfassungskonform sein kann, wäre dafür zumindest eine präzise Regelung der Anordnungsvoraussetzungen im Sinne einer genauen Konkretisierung der erforderlichen Gefahrenlage zu fordern, aber auch auf der Rechtsfolgenseite wären konkretisierende Regelungen notwendig. Dass § 28 IfSG hinsichtlich der tiefgreifenden Grundrechtseingriffe einschließlich eines Kontaktverbots durch die verschiedenen Corona-Verordnungen der Länder jedenfalls im Grundsatz nicht den Anforderungen der Wesentlichkeitsdoktrin genügt, ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen weitgehend Konsens. Der Gesetzgeber hat darauf zwischenzeitlich auch mit der Einfügung von § 28a IfSG zu reagieren versucht. Die Rechtsprechung hat aber, um einer sonst unvermeidlichen Verwerfung der Verordnungen zu entgehen, vielfach darauf verwiesen, dass anerkannt sei, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein könne, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen und auf diese Weise selbst sehr eingriffsintensive Maßnahmen, die an sich einer besonderen Regelung bedürften, vorübergehend zu ermöglichen. Es kann hier dahinstehen, ob die damit vorgenommene Relativierung der Geltung der Wesentlichkeitslehre mit der Rechtsprechung des BVerfG in Einklang zu bringen ist.

Soweit eingriffsintensive Maßnahmen, die an sich einer besonderen Regelung bedürften, unter Rückgriff auf Generalklauseln nur im Rahmen „unvorhergesehener Entwicklungen“ zulässig sein sollen, ist diese Voraussetzung vorliegend nicht erfüllt. Bereits im Jahr 2013 lag dem Bundestag eine unter Mitarbeit des Robert Koch-Instituts erstellte Risikoanalyse zu einer Pandemie durch einen „Virus Modi-SARS“ vor, in der ein Szenario mit 7,5 Millionen (!) Toten in Deutschland in einem Zeitraum von drei Jahren beschrieben und antiepidemische Maßnahmen in einer solchen Pandemie diskutiert wurden (BT-Drs. 17/2051). Der Gesetzgeber hätte daher im Hinblick auf ein solches Ereignis, das zumindest für „bedingt wahrscheinlich“ (Eintrittswahrscheinlichkeit Klasse C) gehalten wurde, die Regelungen des IfSG prüfen und ggf. anpassen können. Hinzu kommt – und dieses Argument ist gewichtiger –, dass am 18.4.2020, dem Tag des Erlasses der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO, weder in Deutschland im Ganzen betrachtet noch in Thüringen eine epidemische Lage bestand, angesichts derer es ohne die Ergreifung von einschneidenden Maßnahmen durch die Exekutive unter Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel bzw. die (den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre ebenfalls nicht genügenden) Spezialermächtigungen des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG zu „nicht mehr vertretbaren Schutzlücken“ gekommen wäre. Es gab keine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG), wenngleich dies der Bundestag mit Wirkung ab 28.3.2020 festgestellt hat.

Diese Einschätzung ergibt sich bereits allein aus den veröffentlichten Daten des Robert Koch-Instituts (wird ausgeführt). Da nach allem keine Situation bestand, die ohne einschneidende Maßnahmen zu „unvertretbaren Schutzlücken“ geführt hätte, sind § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO auch wenn man der Rechtsauffassung folgt, dass in einer solchen Situation ein Rückgriff auf Generalklauseln verfassungsgemäß ist, wegen Verstoßes gegen die Anforderungen der Wesentlichkeitslehre verfassungswidrig. Das allgemeine Kontaktverbot bzw. das Ansammlungsverbot gem. § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO ist aus materiellen Gründen verfassungswidrig, weil es die in Art. 1 Abs. 1 GG als unantastbar garantierte Menschenwürde verletzt.

Eingriff in die Bürgerrechte

Bei einem allgemeinen Kontaktverbot handelt es sich um einen schweren Eingriff in die Bürgerrechte. Es gehört zu den grundlegenden Freiheiten des Menschen in einer freien Gesellschaft, dass er selbst bestimmen kann, mit welchen Menschen (deren Bereitschaft vorausgesetzt) und unter welchen Umständen er in Kontakt tritt. Die freie Begegnung der Menschen untereinander zu den unterschiedlichsten Zwecken ist zugleich die elementare Basis der Gesellschaft. Der Staat hat sich hier grundsätzlich jedes zielgerichteten regulierenden und beschränkenden Eingreifens zu enthalten. Die Frage, wie viele Menschen ein Bürger zu sich nach Hause einlädt oder mit wie vielen Menschen eine Bürgerin sich im öffentlichen Raum trifft, um spazieren zu gehen, Sport zu treiben, einzukaufen oder auf einer Parkbank zu sitzen, hat den Staat grundsätzlich nicht zu interessieren. Mit dem Kontaktverbot greift der Staat – wenn auch in guter Absicht – die Grundlagen der Gesellschaft an, indem er physische Distanz zwischen den Bürgerinnen und Bürgern erzwingt („social distancing“).

Im Rahmen der wertenden Gesamtwürdigung ist die Frage zu beantworten, ob grundsätzlich Umstände denkbar wären, unter denen ein allgemeines Kontaktverbot dennoch als mit der Würde der Menschen vereinbar angesehen werden könnte. Da eine Tabuverletzung im Bereich grundrechtseingreifenden Handeln des Staates allenfalls zur Abwendung einer ganz außergewöhnlichen Notlage hinnehmbar erscheint, wäre dies nur bei einem allgemeinen Gesundheitsnotstand – einem drohenden flächendeckenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems durch Überlastung bzw. der Drohung von Todesfällen in vollkommen anderen Dimensionen als bei den regelmäßig vorkommenden Grippewellen – und auch nur dann gegeben, sofern von dem tabuverletzenden Grundrechtseingriff ein substanzieller Beitrag zur Abwendung oder Begrenzung des Notstandes zu erwarten wäre. Beides war nicht der Fall. Soweit der Auffassung, dass die hier zur Rede stehenden Normen die Menschenwürde verletzen, nicht gefolgt wird, genügen die Normen jedenfalls nicht dem Verhältnismäßigkeitsgebot.

Mit dem allgemeinen Kontaktverbot und dem Verbot von Ansammlungen wird in die allgemeine Handlungsfähigkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und in Spezialgrundrechte eingegriffen. Die Prüfung kann hier auf die Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit beschränkt werden, da bei Verneinung der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs auch die Eingriffe in die Spezialgrundrechte (soweit die Eingriffe nicht über den Regelungsinhalt des Kontaktverbotes hinausgehen) unverhältnismäßig sind. Um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, waren allerdings zum Zeitpunkt des Erlasses der 3. ThürSARSCoV- 2-EindmaßnVO die Verhängung eines allgemeinen Kontaktverbotes und auch sonstige Lockdown-Maßnahmen nicht erforderlich (wird ausgeführt). Soweit die Minimierung der Infektionen als eigenständiges Ziel, unabhängig von der Frage, ob eine Überlastung des Gesundheitssystems drohte, verfolgt wurde, ist das Kontaktverbot in Bezug auf dieses Ziel als erforderlich anzusehen, da ohne ein Kontaktverbot die Erreichung des Ziels nicht in gleicher Weise gefördert werden konnte. Es ist aber nicht verhältnismäßig im engeren Sinne.

Für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sind der Nutzen der Maßnahmen und die Kosten, die sich aus den Freiheitseinschränkungen und ihren Kollateralschäden und Folgekosten zusammensetzen, gegeneinander abzuwägen. Dafür müssen die Vorteile und die Nachteile beschrieben, gewichtet und bewertet werden. Als Nutzen des Lockdowns wäre die Zahl der verhinderten COVID-19- Todesfälle und schweren Erkrankungen anzusehen, wobei, präzise formuliert, nach dem Nutzen zu fragen ist, den der Verordnungsgeber zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses am 18.4.2020 unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraumes berechtigterweise erwarten durfte. Hierzu ist erneut darauf zu verweisen, dass der Verordnungsgeber wissen musste, dass die Zahl der Neuinfektionen bereits seit Mitte März sank, dass die effektive Reproduktionszahl seit Beginn des Lockdowns am 23.3.2020 um den Wert 1 schwankte und ein positiver Effekt des bereits dreieinhalb Wochen andauernden Lockdowns nicht erkennbar war. Auch die Grafik betreffend den Verlauf der Neuerkrankungen zeigte eine nahezu gleichmäßig abfallende Kurve ohne erkennbare Stufung, so dass auch an ihr ein Effekt des Lockdowns nicht ablesbar war. Dafür, dass die Zahl der Neuerkrankungen durch die Verlängerung des Lockdowns mit der Verordnung vom 18.4.2020 signifikant beeinflusst werden könnte, gaben die Daten des Robert Koch-Instituts keinerlei Anhaltspunkte. Der Verordnungsgeber konnte somit allenfalls eine sehr geringfügige Reduzierung der Zahl der Neuerkrankungen (und damit der Todesfälle) erwarten. Tatsächlich zeigte die Fortschreibung der Kurve der Neuerkrankungen in den Täglichen Situationsberichten dann auch nach dem 18.4.2020 keinen erkennbaren Effekt der Verlängerung des Lockdowns.

Kollateralschäden und Folgeschäden

Zu der unmittelbaren Wirkung der Freiheitseinschränkungen kommen die Kollateralschäden und Folgeschäden hinzu. Diese lassen sich wie folgt differenzieren (wird ausgeführt – Aspekte: ökonomisch bewertbare Schäden, Leben und Gesundheit der Menschen in Deutschland, ideelle Schäden, Folgekosten, gesundheitliche und ökonomische Schäden in Ländern des Globalen Südens). Nach dem Gesagten kann kein Zweifel daran bestehen, dass allein die Zahl der Todesfälle, die auf die Maßnahmen der Lockdown-Politik zurückzuführen sind, die Zahl der durch den Lockdown verhinderten Todesfälle um ein Vielfaches übersteigt. Schon aus diesem Grund genügen die hier zu beurteilenden Normen nicht dem Verhältnismäßigkeitsgebot.

Hinzu kommen die unmittelbaren und mittelbaren Freiheitseinschränkungen, die gigantischen finanziellen Schäden, die immensen gesundheitlichen und die ideellen Schäden. Das Wort „unverhältnismäßig“ ist dabei zu farblos, um die Dimensionen des Geschehens auch nur anzudeuten. Bei der von der Landesregierung im Frühjahr (und jetzt erneut) verfolgten Politik des Lockdowns, deren wesentlicher Bestandteil das allgemeine Kontaktverbot war (und ist), handelt es sich um eine katastrophale politische Fehlentscheidung mit dramatischen Konsequenzen für nahezu alle Lebensbereiche der Menschen, für die Gesellschaft, für den Staat und für die Länder des Globalen Südens.

Anmerkung:

Das Gericht konnte selbst über die Verfassungsmäßigkeit der in Frage stehenden Normen zu entscheiden, weil die Vorlagepflicht gem. Art. 100 Abs. 1 GG nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nur für förmliche Gesetze des Bundes und der Länder, nicht aber für Rechtsverordnungen gilt. Über deren Vereinbarkeit mit der Verfassung hat jedes Gericht selbst zu entscheiden.

Amtsgericht Weimar Urt. v. 11.1.2021 – 6 OWi 523 Js 202518/20

Anm. d. Red.: Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.

Erschienen im NPA 3/2021

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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