01.09.2023

Mehr Freiräume, neue Herausforderungen

Reform der AGVO in Kraft getreten

Mehr Freiräume, neue Herausforderungen

Reform der AGVO in Kraft getreten

Verfälschungen des Wettbewerbs und Beeinträchtigungen des Handels zwischen EU-Mitgliedstaaten sollen grundsätzlich verhindert werden. | © bluedesign - stock.adobe.com
Verfälschungen des Wettbewerbs und Beeinträchtigungen des Handels zwischen EU-Mitgliedstaaten sollen grundsätzlich verhindert werden. | © bluedesign - stock.adobe.com

Lange hat die Europäische Kommission mit sich gerungen, im März 2023 war es endlich so weit: die jüngste Reform der für das EU-Beihilferecht wichtigen sog. Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) wurde beschlossen. Am 01. Juli 2023 sind die Neuerungen in Kraft getreten. Die Möglichkeiten der öffentlichen Hand zur sog. notifizierungsfreien Förderung wurden einerseits grundsätzlich erweitert. Andererseits wird die Anwendung der Freistellungstatbestände herausfordernder. Die Autorin gibt einen Überblick.

I. Bedeutung der AGVO im EU-Beihilferecht

Grundsätzlich ist es den Mitgliedstaaten nach Art. 107 Abs. 1 AEUV verboten, Beihilfen zu gewähren. Damit sollen (drohende) Verfälschungen des Wettbewerbs und Beeinträchtigungen des Handels zwischen Mitgliedstaaten verhindert werden. In bestimmten Fällen können staatliche Beihilfen jedoch auf der Grundlage des Artikels 107 Abs. 2 oder 3 AEUV oder des Art. 106 Abs. 2 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sein. Eine besondere Bedeutung hat dabei Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV. Danach kann eine Beihilfemaßnahme erlaubt sein, wenn die Beihilfe einen Wirtschaftszweig fördert und dabei die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändert, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft.

Beihilfen sind grundsätzlich bei der Europäischen Kommission anzumelden (sog. Notifizierungspflicht, Art. 108 Abs. 3 Satz 1 AEUV). Solange eine anmeldepflichtige Beihilfe nicht von der Europäischen Kommission genehmigt wurde, darf sie nicht gewährt werden (sog. Durchführungsverbot, Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV). Notifizierungsverfahren sind typischerweise arbeitsintensiv und zeitaufwendig – was gerade für am Maßstab des Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV zu bewertenden und kleinere Fördervorhaben unverhältnismäßig sein kann. Außerdem hat die Kommission für einige Typen von Beihilfen („Gruppen“) festgestellt, dass diese regelmäßig keine wettbewerblichen Bedenken aufwerfen.


Für typische und einfache Fälle, in denen die Kommission regelmäßig keine wettbewerblichen Bedenken identifiziert, hat die Kommission daher in der AGVO Ausnahmen von der Notifizierungspflicht vorgesehen (sog. „Freistellung“). Entsprechen Beihilfen den in der AGVO niedergelegten Freistellungskriterien, sieht die Kommission keine Einzelfallprüfung vor.

Solche Beihilfen müssen also nicht notifiziert werden. Die Mitgliedstaaten haben bei einer Freistellung nur Melde- und Berichtspflichten. Für Beihilfegeber und -empfänger bedeutet das eine erhebliche Beschleunigung des Verfahrens für die Bewilligung der Förderung. Die AGVO hat daher eine große Bedeutung in der Gestaltung einer beihilfenkonformen Förderung und bestimmt häufig Art und Ausmaß der Förderung eines Vorhabens mit.

II. Hintergrund der Reform

Die Reform der AGVO, insbesondere im Lichte der Ziele des EU Green Deals und zur Anpassung an Änderungen sonstiger Beihilfevorschriften (Leitlinien), war schon länger geplant, verzögerte sich aber immer wieder.

Mit dem EU Green Deal aus Dezember 2019 hat sich die Kommission ambitionierte Ziele für die Senkung von Treibhausgasemissionen gesetzt. Dies führte bereits im Juli 2021 zu kleineren Änderungen bei ausgewählten Freistellungstatbeständen (Verordnung (EU) 2021/1237). Diese Mini-Reform war jedoch nur als schnelle Übergangslösung gedacht. Denn kurz darauf legte die Kommission bereits im Oktober 2021 den ersten umfassenderen Reformvorschlag für die AGVO vor.

Jedoch zwang der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die EU, ihre Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu überdenken und den Übergang zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Energiequellen noch schneller voranzutreiben. Die bisher vorgeschlagene AGVO-Reform wurde insofern als nicht ausreichend erachtet.

Vor diesem Hintergrund schlug die Kommission im Februar 2023 einen Industrieplan für den Green Deal („Green Deal Industrial Plan“) vor, der eine Reihe von Maßnahmen vorsieht. Nach den Vorstellungen der Kommission sollen die Mitgliedstaaten der EU insbesondere die Transformation der Wirtschaft hin zu einer CO2-neutralen Industrie unterstützen. Um den Mitgliedstaaten jeweils die Mühen eines Notifizierungsverfahrens ersparen zu können, wurden die Reformvorschläge vom Oktober 2021 noch einmal umfassend erweitert. Daneben verabschiedete die Kommission auch einen neuen Befristeten Krisen- und Transformationsrahmen (Temporary Crisis and Transition Framework – TCTF), der bei notifzierungspflichtigen Beihilfen zusätzliche Hilfestellungen für die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Beihilfeprogramme bieten soll und der als Rechtsrahmen selbständig neben der AGVO steht.

III. Die wichtigsten Änderungen im Überblick

Im März 2023 war es dann so weit: die AGVO-Reform wurde von der Kommission beschlossen und anschließend als Verordnung (EU) 2023/1315 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Die Änderungsverordnung umfasst rund 90 Seiten, die AGVO schwillt um rund 135% an. Kaum ein Freistellungstatbestand ist nicht von der Reform betroffen.

Die Autorin beschränkt sich daher auf grundlegende, mehrere Freistellungstatbestände betreffenden Änderungen (dazu III.1) sowie auf (subjektiv) ausgewählte besondere Freistellungstatbestände im Energiesektor (dazu III.2), zur Förderung von Forschung und Entwicklung (dazu III.3) und betreffend die Anpassung an wichtige beihilferechtliche Leitlinien (dazu III.4).

1. Verlängerung der AGVO und Erhöhung von Anmeldeschwellenwerten

Das Wichtigste vorneweg: Die AGVO, die eigentlich Ende 2023 ausgelaufen wäre, gilt jetzt bis zum 31.12.2026. Auch wenn an der Fortsetzung der AGVO nie wirklich Zweifel bestanden – für Rechtssicherheit ist erst einmal gesorgt.

Ferner wurden bei vielen bereits existierenden Freistellungstatbeständen die sog. Anmeldeschwellenwerte angehoben. Denn die Freistellung der AGVO gilt nur, wenn bestimmte Schwellenwerte, z.B. hinsichtlich Förderhöhen oder Förderintensitäten, nicht überschritten werden. Beispielsweise galt für die Freistellung von lokalen Infrastrukturen nach Art. 56 AGVO bislang, dass die Beihilfe maximal 10 Mio. EUR und die Gesamtkosten für die Infrastruktur maximal 20 Mio. EUR betragen durfte. Nach der AGVO 2023 darf die Beihilfe nun bis zu 11 Mio. EUR betragen und die Gesamtkosten dürfen bis zu 22 Mio. EUR betragen. Hier und auch bei anderen Freistellungstatbeständen zeigt sich jedoch, dass damit kaum eine echte Erweiterung des Förderspielraums einhergeht, sondern dass es sich nur um eine Art „Inflationsausgleich“ für bereits in die Jahre gekommener Schwellenwerte handelt.

Der administrative Aufwand wird erhöht, indem bei mehr Einzelbeihilfen eine gesonderte Veröffentlichungspflicht besteht. Während der Schwellenwert bisher bei 500.000 EUR lag, müssen künftig in der Regel bereits Beihilfen in Höhe von 100.000 EUR veröffentlicht werden (Art. 9 Abs. 1 Abs. 1 AGVO). So soll die Transparenz verbessert werden. Der damit verbundene erhöhte administrative Aufwand dürfte bei den Mitgliedstaaten jedoch auf wenig Begeisterung stoßen.

2. Die „grüne“ AGVO – Anpassung an die KUEBLL

Mit dieser AGVO-Reform nimmt die Europäische Kommission Änderungen vor, die infolge der Fortschreibung diverser beihilferechtlicher sog. Leitlinien der Kommission erforderlich geworden waren. Dies betraf insbesondere die Leitlinien für Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfen (sog. KUEBLL) aber auch weitere Leitlinien (dazu III.4).

In den KUEBLL teilt die Kommission mit, wie sie Beihilfemaßnahmen zur Förderung des Klima- und Umweltschutzes sowie des Energiesektors am Maßstab des Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV prüfen wird, wenn sie ihr im Notifizierungsverfahren zur Prüfung vorgelegt werden.

Als die KUEBLL am 27. Januar 2022 in Kraft traten, gingen sie in vielerlei Hinsicht über ihre Vorgängerregelung hinaus. Verbunden mit der Verzögerung der AGVO-Reform hatte dies zur Folge, dass kurzzeitig die KUEBLL der AGVO in Teilen „voraus“ war, also neue Definitionen und Bewertungsmaßstäbe in den KUEBLL schon festgehalten, in der AGVO aber noch nicht gespiegelt waren. Nun sind die Freistellungsvoraussetzungen der AGVO und die KUEBLL im Wesentlichen aufeinander abgestimmt.

Dies bedeutet insbesondere, dass die AGVO-Bestimmungen typischerweise enger gefasst sind als ihr Pendant in den KUEBLL. Beispielsweise setzt die Freistellung einer Investitionsbeihilfe für Lade- oder Tankinfrastruktur nach Art. 36a AGVO voraus, dass die Beihilfeintensität für nicht im Wege der Ausschreibung gewährte Beihilfen maximal 65 % betragen darf (Art. 36a Abs. 6 AGVO). Dies bedeutet, dass die Beihilfe nur 65 % der beihilfefähigen Kosten (vor Abzug von Steuern und sonstigen Abgaben) decken darf. Wird die Freistellung der Beihilfe nicht angestrebt, lassen die KUEBLL eine Beihilfeintensität von bis zu 75 % für diese Konstellation zu, dann aber nur im Wege der Notifzierung (KUEBLL, Rn. 202).

Der „grüne Anstrich“ der AGVO zeichnet sich auch durch die grundlegende Überarbeitung dieser neuen oder grundlegend überarbeiteten Freistellungstatbestände aus:

  • Investitionsbeihilfen für den Umweltschutz einschließlich Dekarbonisierung (Art. 36 AGVO),
  • Investitionsbeihilfen für Lade- oder Tankinfrastruktur (Art. 36a AGVO),
  • Investitionsbeihilfen für den Erwerb sauberer oder emissionsfreier Fahrzeuge und die Nachrüstung von Fahrzeugen (Art. 36b AGVO),
  • Investitionsbeihilfen für nicht gebäudebezogene Energieeffizienzmaßnahmen (Art. 38 AGVO),
  • Investitionsbeihilfen für gebäudebezogene Energieeffizienzmaßnahmen (Art. 38a AGVO),
  • Investitionsbeihilfen zur Begünstigung von Energieleistungsverträgen (Art. 38b AGVO),
  • Investitionsbeihilfen für gebäudebezogene Energieeffizienzprojekte in Form von Finanzinstrumenten (Art. 39 AGVO),
  • Investitionsbeihilfen zur Förderung von erneuerbaren Energien, von erneuerbarem Wasserstoff und von hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung (Art. 41 AGVO),
  • Betriebsbeihilfen zur Förderung von Strom aus erneuerbaren Energien (Art. 42 AGVO),
  • Betriebsbeihilfen zur Förderung von erneuerbaren Energien und von erneuerbarem Wasserstoff im Rahmen von kleinen Vorhaben und von Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften (Art. 43 AGVO).

Vielfach hatte die Europäische Kommission in den vergangenen Jahren bereits am Maßstab der Leitlinien Entscheidungen zu solchen Beihilfemaßnahmen getroffen. An vielen Stellen ist erkennbar, dass die im Rahmen dieser Entscheidungspraxis gewonnene Erfahrung in die Gestaltung der Freistellungstatbestände eingeflossen ist.

3. Förderung von Forschung und Entwicklung

Die Europäische Kommission hat auch hier bestehende Freistellungstatbestände erweitert und auch neue eingeführt. Die Möglichkeiten der Förderung werden dadurch differenzierter. Betroffen sind insbesondere diese Freistellungstatbestände:

  • Beihilfen für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben (Art. 25 AGVO),
  • Investitionsbeihilfen für Forschungsinfrastrukturen (Art. 26 AGVO),
  • Investitionsbeihilfen für Erprobungs- und Versuchsinfrastrukturen (Art. 26a AGVO),
  • Beihilfen für Innovationscluster (Art. 27 AGVO).

Die Änderungen können insbesondere für Kommunen relevant sein, wenn sie Innovationszentren vor Ort fördern wollen. Gerade dort, wo solche Fördervorhaben bereits laufen, sollte geprüft werden, ob der neue Freistellungsrahmen nicht neue Möglichkeiten schafft und die Förderung daher neu aufgestellt werden sollte. Ist keiner dieser Freistellungstatbestände in der Sache einschlägig, besteht weiterhin die Möglichkeit der Förderung als „lokale Infrastruktur“ nach dem insofern subsidiären Art. 56 AGVO.

Hinweis: Gerade bei solchen lokalen Vorhaben sollte vorab kritisch geprüft werden, ob überhaupt eine Beihilfe vorliegt. Hat ein Vorhaben nämlich nur lokale Auswirkungen, fehlt es am grenzüberschreitenden Bezug und damit an den für Art. 107 Abs. 1 AEUV relevanten Auswirkungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten. Das EU-Beihilferecht findet dann keine Anwendung. Die Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission und der Unionsgerichte ist hier stark einzelfallgeprägt, sodass das Tätigkeitsgebiet des Begünstigten und das wettbewerbliche Umfeld der geförderten Tätigkeiten genau untersucht werden müssen.

4. Anpassung an weitere beihilferechtliche Leitlinien

Einen weiteren Schwerpunkt der Reform bildet die Anpassung der AGVO an die seit 2022 geltenden neuen Leitlinien für Regionalbeihilfen. Damit geht insbesondere eine Erleichterung der Berechnung des relevanten Anmeldeschwellenwerts einher (siehe Art. 4 Abs. 1 lit. a AGVO). Außerdem wurde die AGVO an die überarbeiteten Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Förderung von Risikofinanzierungen angepasst, die ebenfalls seit dem 01. Januar 2022 gelten.

IV. Fazit zur Reform: es ist mehr möglich, aber einfacher wird es damit nicht

Die AGVO-Reform wurde lange herbeigesehnt und wird in weiten Teilen sicherlich von den Anwendern willkommen geheißen. Wer sich jedoch eine weitreichende Erweiterung des Förderspielraums erhofft hatte, wird enttäuscht.

Die Erhöhung der Anmeldeschwellenwerte ist in Teilen eine zwingende Folge der Inflation der letzten Jahre und dürfte insbesondere die in Deutschland gestiegenen Bau- und Materialkosten nicht ausreichend auffangen.

Zwar werden zahlreiche neue Freistellungstatbestände aufgenommen und die damit verbundene Befreiung von der Notifizierungspflicht wird die Förderprozesse erheblich beschleunigen können. Gleichzeitig ist jedoch zu beachten, dass die Freistellungsvoraussetzungen immer komplexer werden. Wo es früher an vielen Stellen noch möglich war, mit ausgewählten Beihilfeempfängern maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln, ist beispielsweise heute eine Ausschreibungspflicht für die Beihilfengewährung vorgesehen und die Aufsetzung einer Beihilferegelung (in Abgrenzung zur sog. Einzelbeihilfe) die Regel.

Während einerseits also neue Handlungsspielräume geschaffen werden, werden gleichzeitig die Daumenschrauben angezogen. Dies mag einer möglichst sinnvollen Verwendung staatlicher Fördermittel zuträglich sein, verkompliziert jedoch potentiell die Anwendung der Freistellungstatbestände. Es wird sich in der Praxis zeigen, ob dieser Ansatz dem Anspruch einer vereinfachten Gewährung von Beihilfen gerecht wird.

 

Valentine Lemonnier

Rechtsanwältin bei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB, Brüssel
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