08.11.2021

Interview mit Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

„Es wird höchste Zeit, Kinderrechte in unserem Grundgesetz besser sichtbar zu machen.“

Interview mit Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

„Es wird höchste Zeit, Kinderrechte in unserem Grundgesetz besser sichtbar zu machen.“

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

 

Die Schließung der Schulen und Kitas im ersten und nun auch im zweiten Lockdown hat zu einer neu entbrannten Diskussion über Kinderrechte geführt und insbesondere auch zu der Frage, ob es ein spezifisches Recht auf Bildung gibt. Im Grundgesetz ist dies nicht ausdrücklich vorgesehen. Halten Sie eine Verankerung von Kinderrechten für notwendig?

Lambrecht: Die Corona-Pandemie hat uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass Kinder besondere Bedürfnisse haben. Es wird deshalb höchste Zeit, Kinderrechte in unserem Grundgesetz besser sichtbar zu machen. Ich bin sehr froh, dass wir uns im Koalitionsausschuss auf einen Regelungstext geeinigt haben, der sich harmonisch ins Grundgesetz einfügt. Der Vorschlag sieht vor, das Recht des Kindes auf Achtung und Schutz seiner Grundrechte ausdrücklich im Grundgesetz zu verankern. Dazu gehört auch das Recht auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit.

Darüber hinaus soll das Kindeswohlprinzip ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen werden, um deutlich zu machen, dass dieses bei jedem staatlichen Handeln angemessen berücksichtigt werden muss. Auch wollen wir den Anspruch des Kindes auf rechtliches Gehör im Grundgesetz bekräftigen. Kinder sollen die Gelegenheit haben, sich zu äußern, wenn Gerichte oder Behörden Entscheidungen über ihre Lebenssituation treffen. Schließlich stellen wir klar, dass die Rechtsstellung der Eltern, insbesondere das Verhältnis von Eltern und Staat, unberührt bleibt. Die Rechte und Pflichten der Eltern bleiben bestehen. Diese vier Elemente machen den Kern des Vorhabens aus. Das Verhältnis zwischen Staat, Eltern und Kindern ist sorgsam austariert, das will ich ganz bewusst nicht antasten.


Jetzt müssen zügig die nächsten Schritte folgen, damit wir die Grundgesetzänderung noch in dieser Legislaturperiode realisieren können. Um die nötigen Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat zu erzielen, brauchen wir eine konstruktive Haltung auf allen Seiten.

Im Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof moniert, dass die deutschen Staatsanwaltschaften nicht unabhängig seien und daher keine europäischen Haftbefehle ausstellen können. Könnte das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Neutralität der Ermittler durch eine Begrenzung des Weisungsrechts gegenüber den Staatsanwaltschaften gestärkt werden?

Lambrecht: Die Staatsanwaltschaften in Deutschland sollen weiterhin ein vollwertiger Partner bei der Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der EU bleiben. In meinem Haus wird deshalb aktuell eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes erarbeitet, mit der ministerielle Einzelweisungen an die Staatsanwaltschaften im Bereich der europäischen strafrechtlichen Zusammenarbeit ausgeschlossen werden. Damit tragen wir dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von justiziellen Entscheidungen Rechnung und schaffen Rechtssicherheit. Auf nationaler Ebene soll es bei der Möglichkeit ministerieller Einzelweisungen bleiben. Dadurch wird die demokratische Rückbindung der Staatsanwaltschaften an die Parlamente gewährleistet. Gleichzeitig möchten wir aber die Transparenz bei der Ausübung des Weisungsrechts erhöhen und die engen rechtlichen Grenzen des Weisungsrechts gesetzlich klar zum Ausdruck bringen.

Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat das BMJV einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema Digitalisierung der Justizgesetzt. Wie kann es aus Ihrer Sicht gelingen, dass die Gerichte die Chancen der Digitalisierung in der Praxis tatsächlich nutzen, um insbesondere in Zeiten der Pandemie den Zugang zur Justiz zu verbessern?

Lambrecht: Die Ausschöpfung der Potenziale der Digitalisierung für eine Verbesserung des Zugangs zum Recht ist unser erklärtes gemeinsames Ziel. Auch die Corona-Pandemie hat den Be- darf für eine weitere Digitalisierung der Justiz verdeutlicht und gleichzeitig das Interesse der Praxis an der Weiterentwicklung digitaler Anwendungen verstärkt. Wir prüfen daher gegenwärtig die zukunftsfeste und praxistaugliche Gestaltung des Zivilprozesses unter Berücksichtigung der Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung.

Das Beispiel der bereits heute rechtlich möglichen Videoverhandlungen zeigt: Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen und der erforderlichen technischen Ausstattung kommt es aber natürlich auch darauf an, Hemmschwellen abzubauen, die ganz normal sind, wenn sich gewohnte Verfahrensweisen ändern. Das kann durch Informationen und Schulungen gelingen und sicher auch dadurch, dass nach und nach immer mehr Richterinnen und Richter mit gutem Beispiel vorangehen. Wir sind außerdem dabei, für die Videoverhandlungen in Zusammenarbeit mit den Ländern möglichst bundeseinheitliche Lösungen zu entwickeln. Beim Einsatz neuer Technik gilt es, in kleinen Schritten auch einmal bislang ungewohnte Verfahrensweisen zu erproben. Meist zeigt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten dann schnell, wie viele Vorteile für alle Seiten damit einhergehen können, neue Wege zu gehen.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat darüber hinaus das Thema Rechtsstaatlichkeit in Europa weit oben auf die Agenda gesetzt. Ist der nunmehr gefundene Kompromiss zum neuen Rechtsstaatsmechanismus in Ihren Augen ein Erfolg?

Lambrecht: Ja, es ist ein großer Erfolg, dass wir einen wirkungsvollen Rechtsstaatsmechanismus schaffen konnten. Die Rechtsstaatlichkeit ist ein Fundament Europas, das wir entschieden gegen Anfeindungen und Attacken verteidigen müssen. Die Europäische Union hat nun ein effektives Instrument, das greift, wenn europäische Grundwerte infrage gestellt werden. Künftig werden EU-Mittel stärker an die Garantie rechtsstaatlicher Grundsätze und einer unabhängigen Justiz geknüpft sein. Dort, wo Gerichte nicht mehr frei und unbeeinflusst entscheiden können, drohen oft auch Korruption und Missbrauch von europäischen Steuergeldern. Daher knüpft der Mechanismus an dieser Stelle an. Jetzt ist vor allem die Europäische Kommission gefordert, das neue Instrument zu nutzen. Das hat die Kommissionspräsidentin zugesagt.

Vor Kurzem erweckte ein Gesetzesentwurf zum Insolvenzrecht aus Ihrem Hause Aufsehen, der zunächst nur mit weiblichen Endungen formuliert war. War dies eine bewusste Initiative, um die Debatte um geschlechtergerechte Sprache anzustoßen?

Lambrecht: Das Gesetz soll bedrängten Unternehmen gerade in der Corona-Pandemie neue Formen der Sanierung ermöglichen und ist inzwischen bereits in Kraft getreten. Unsere erste Fassung hat allerdings noch aus einem anderen Grund für große Aufmerksamkeit gesorgt. Dazu muss man wissen: Das Gesetz betrifft Unternehmen. Wir gingen hier zunächst davon aus, dass es üblich sei, für Aktiengesellschaften oder GmbHs die weibliche Form zu verwenden; so ist es jedenfalls in Gerichtsurteilen. Das war für uns der Anlass zu sagen: Wir formulieren auch das Gesetz einheitlich in der weiblichen Form.

Es war also eine ganz pragmatische Entscheidung, die zugleich aber auch eine Botschaft haben sollte: Warum muss die Mehrheit der Bevölkerung, nämlich die Frauen, sich in Gesetzestexten immer mitgedacht fühlen, wenn die männliche Form verwendet wird? Ich habe im Jurastudium erlebt, welche Stilblüten die juristische Sprache hervorbringt: Das Zeugnisverweigerungsrecht wird bis heute dem „Verlobten des Beschuldigten“ gewährt, womit vor allem Frauen gemeint sind. Unternehmen generell als Gläubigerinnen oder Schuldnerinnen zu bezeichnen, ist jedoch keinesfalls üblich, wie unsere abschließende Rechtsund Sprachprüfung festgestellt hat. Hier unterscheidet sich die generell abstrakte Gesetzessprache von der auf konkrete Fälle bezogenen Gerichtssprache.

Rechtsextremistisch motivierte Mordtaten wie etwa der Mord am Regierungspräsidenten Walter Lübcke oder die Vorfälle in Hanau und Halle haben die Öffentlichkeit erschüttert und die Debatte um eine Verschärfung des Waffenrechts neu angefacht. Sind die getroffenen Regelungen aus Ihrer Sicht ausreichend?

Lambrecht: Wir haben vor dem Hintergrund rechtsextremistisch motivierter Mordtaten das Waffenrecht gerade erst im Jahr 2020 verschärft. So führt nach der geänderten Rechtslage beispielsweise nunmehr bereits die bloße Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung oder deren Unterstützung regelmäßig zur waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit. Dabei muss die Waffenbehörde eine solche Mitgliedschaft bzw. Unterstützung nicht bis ins letzte Detail nachweisen, sondern es genügt für die Annahme der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit schon das Vorliegen eines entsprechenden tatsachengegründeten Verdachts. Außerdem haben wir eine Regelabfrage der Waffenbehörden bei den Verfassungsschutzbehörden, einschließlich einer Nachberichtspflicht der Verfassungsschutzbehörden an Erstere, eingeführt, um so Extremisten besser identifizieren zu können, die Zugang zu Waffen erhalten wollen. Sollte sich zeigen, dass weitere Maßnahmen notwendig sind, um Extremisten von legalen Waffen fernzuhalten, werden wir sicherlich über eine weitere Anpassung des Waffenrechts reden müssen.

Das BMJV ist als Herausgeber des Handbuchs der Rechtsförmlichkeit auch für die Verständlichkeit von Rechtstexten zuständig. Aktuell ist beispielsweise die sich ständig ändernde Rechtssetzung in der Corona-Krise für viele Bürger kaum nachvollziehbar. Wie kann die Verständlichkeit von Rechtstexten verbessert werden?

Lambrecht: Das Handbuch der Rechtsförmlichkeit ist seit seiner ersten Auflage 1991 das grundlegende Regelwerk zur Gestaltung von Rechtsvorschriften. Es wird derzeit eine 4. überarbeitete Neuauflage vorbereitet. Der Verständlichkeit von Rechtsvorschriften wird darin ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt, und es werden die Erfahrungen der seit 2009 im Bundesjustizministerium bestehenden Gesetzesredaktion einfließen. Die hier beschäftigten Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler unterziehen alle Regelungsentwürfe, die innerhalb der Bundesregierung ausgearbeitet werden, einer Verständlichkeitsprüfung. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass vor allem eine rechtzeitige und intensive Zusammenarbeit mit dieser Gesetzesredaktion die besten Ergebnisse hervorbringt.

Wie ist aus Ihrer Sicht der Balanceakt zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit in der Rechtssetzung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie bisher gelungen? Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial?

Lambrecht: Die Corona-Krise hat die Bundesregierung bei der Rechtssetzung vor extreme Herausforderungen gestellt. Viele Vorhaben liefen parallel, und es mussten in kürzester Zeit neue Weichen gestellt werden, um die Folgen der Pandemie für die Bürgerinnen und Bürger, die Selbstständigen und die Unternehmen abzufangen. Fristgebundene Vorhaben zur Umsetzung von EU-Richtlinien und von Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag durften deswegen jedoch nicht zurückgestellt werden und sollten auch inhaltlich und handwerklich in guter Qualität ausgearbeitet werden. Wenn man aus dieser Sondersituation eine Lehre für normale Zeiten ziehen will, heißt das vor allem, dass bestimmte Verfahrensschritte dem Zeitdruck nicht zum Opfer fallen dürfen. Im Interesse der Verständlichkeit und Anwendbarkeit der Regelungen sollte immer genügend Zeit für eine gründliche Gesetzesredaktion eingeplant werden.

Die Corona-Maßnahmen wurden maßgeblich durch die Exekutive vollzogen. Wie kann es gelingen, die Parlamente hinreichend zu beteiligen?

Lambrecht: Wesentliche Fragen muss natürlich das Parlament entscheiden, und das hat es auch getan. Die getroffenen Entscheidungen über die Anordnung von Schutzmaßnahmen beruhen ja auf einem Gesetz, nämlich auf dem Infektionsschutzgesetz. Das Infektionsschutzgesetz wurde im November 2020 noch einmal nachgeschärft. Dabei wurden die Erfahrungen aus den ersten Monaten der Pandemie berücksichtigt. Dazu gehört auch, dass der Gesetzgeber die zulässigen Schutzmaßnahmen und deren Voraussetzungen konkreter benannt hat. Es wurden auch Maßnahmen genannt, bei denen eine besonders strenge Prüfung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten angezeigt ist. Ferner wurden eine Befristung und ein Begründungserfordernis vorgesehen. Selbstverständlich können sich die Parlamente der Länder weiterhin auch jederzeit mit den Verordnungen ihrer jeweiligen Regierungen nach dem IfSG befassen. Sie können diese Verordnungen gegebenenfalls auch aufheben oder durch ein Gesetz ablösen.

Als langjährige Bundestagsabgeordnete, Justizministerin und berufstätige Mutter sind Sie ein Vorbild vor allem für Juristinnen. Was würden Sie einer jungen Richterin raten, die sich für die immer noch statistisch überproportional durch männliche Kollegen besetzten Beförderungsstellen interessiert? Was ist Ihr Erfolgsrezept?

Lambrecht: In unserem Land gibt es ausreichend exzellent ausgebildete Juristinnen, darunter hoch qualifizierte Richterinnen, die motiviert sind und Führungsverantwortung übernehmen wollen. Frauen sichern mit hoher Qualifikation und Leistungsbereitschaft die Qualität der Justiz, und das muss sich auch in den Beförderungsämtern widerspiegeln. Mit der jüngst im Kabinett beschlossenen Mindestbeteiligung von Frauen in Vorständen von börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen haben wir die notwendigen Voraussetzungen für eine stärkere Beteiligung von Frauen in den Führungsetagen von großen Unternehmen geschaffen. Das war längst überfällig. Aber auch in der Justiz ist noch Luft nach oben. Ich kann jungen Frauen nur raten, sich auf das zu konzentrieren, was ihnen wichtig ist, und gut darin zu sein. Dann sollten sie stets das Recht einfordern, entsprechende Funktionen oder Posten zu bekommen.

 

Ein Beitrag aus dem BDVR-Rundschreiben 1/2021

 

 

Dr. Karoline Bülow

Richterin am Verwaltungsgericht, Berlin
 

Britta Schiebel

Richterin, Berlin
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