25.10.2021

Gerichtliche Kontrolle automatisierter Verwaltungsakte (1)

Allgemeine Parameter verwaltungsgerichtlicher Kontrolle –¬ Teil 1

Gerichtliche Kontrolle automatisierter Verwaltungsakte (1)

Allgemeine Parameter verwaltungsgerichtlicher Kontrolle –¬ Teil 1

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Gegenstand des Beitrags sind allein automatisierte Verwaltungsakte im Sinne des § 35 a VwVfG. Um automatisierte Informationsauswertungsprozesse (etwa von Nachrichtendiensten oder in Form von automatischer Kennzeichenerfassung), (teil-)automatisiertes staatliches Informationshandeln (etwa in Form der Corona-Warn-App oder der Notfallwarn- App NINA) sowie um automatisierte Beschaffungsvorgänge und sonstige automatisierte Realakte ohne VA-Qualität soll es nicht gehen. Überdies geht es allein um automatisiert erlassene Verwaltungsakte und nicht um solche, die ihrerseits automatisierte Prozesse regeln (zum Beispiel Abschaltalgorithmen in Genehmigungsbescheiden für Windräder oder etwa Schallimmissionsalgorithmen im Schienenverkehr).

Einführung1

 Vorab lässt sich feststellen, dass ein gesonderter rechtlicher Maßstab für die gerichtliche Kontrolle automatisiert erlassener Verwaltungsakte nicht existiert. Insbesondere findet kein Abstrich von dem Prinzip des effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG statt. Die sich stellenden Fragen sind vor diesem Hintergrund vor allem rechtspraktischer Natur. Dabei geht es insbesondere darum, wie sich die Effektivität des Rechtsschutzes sicherstellen lässt angesichts von neuartigen Verfahren und Verfahrensgestaltungen. Außerdem ist zu überlegen, ob ein Bedarf an weiterer rechtlicher Regelung oder auch an einer verbesserten technischen Ausstattung der Gerichte besteht. Insgesamt sind die nachfolgenden Überlegungen angesichts der bisher geringen gerichtlichen Erfahrungswerte mit tatsächlich vollautomatisiert erlassenen Verwaltungsakten teilweise eher hypothetischer Natur.2 Im Übrigen erheben sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Allgemeine Parameter verwaltungsgerichtlicher Kontrolle

Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle automatisierter Verwaltungsakte wird maßgeblich durch die allgemeinen Kontrollparameter geprägt, die sich in unterschiedlicher Weise auswirken können. Insgesamt lässt sich allerdings schon vorab festhalten, dass die Automatisierung des Verwaltungsverfahrens nur eingeschränkt auf die Gerichte durchschlagen dürfte. Das wichtigste Prinzip, das bei automatisierten Verwaltungsakten betroffen sein kann, ist der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1 VwGO. Wie bei allen anderen Verfahrensgegenständen sind die Verwaltungsgerichte gehalten, den Sachverhalt von Amts wegen erschöpfend aufzuklären. Das betrifft auch technische Vorgänge und im Grunde auch automatisierte Verfahren, soweit sich hierzu entscheidungserhebliche Fragen stellen. Anders als beispielsweise im Unionsrecht findet keine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle komplexer technischer Beurteilungen statt.3


Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle an den Grenzen des Erkenntnisstandes der ökologischen Wissenschaft und Praxis4 dürfte nicht übertragbar sein. Selbst wenn automatisierte Entscheidungsalgorithmen technisch komplex sein können, dürften sie sich überwiegend nicht jenseits der Grenzen der Erkenntnis bewegen. Umgekehrt kommen die allgemeinen Beschränkungen der Amtsaufklärungspflicht ebenso bei automatisierten Verwaltungsakten zur Anwendung. Insbesondere gilt auch bei ihnen grundsätzlich die Maxime aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, keine ungefragte Fehlersuche zu betreiben, die das eigentliche Rechtsschutzbegehren aus dem Auge verliert.5 Vielmehr ist auch hier die Handhabung der richterlichen Fehlersuche eine Frage des Fingerspitzengefühls im Einzelfall.6 Eine revisibele Verletzung der Pflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass sich weitere Ermittlungen ohne ein entsprechendes Hinwirken der Verfahrensbeteiligten hätten aufdrängen müssen.7 Insoweit gelten für digitale Verfahren keine Besonderheiten.

Die Entscheidungserheblichkeit von Verfahrensautomatisierungen wird allerdings dadurch begrenzt, dass Verfahrensfehler im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur begrenzte Auswirkungen haben. Nach § 46 VwVfG kann zum einen ein Verwaltungsakt nicht wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben werden, wenn es offensichtlich an der Kausalität des Fehlers für das Ergebnis fehlt. Dies ist regelmäßig bei gebundenen Entscheidungen der Fall.8 Eine verfahrensfehlerhafte Automatisierung kann sich hier in aller Regel nicht auswirken. Zum anderen sind isolierte Rechtsbehelfe gegen Verfahrenshandlungen nach § 44 a VwGO regelmäßig ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund scheidet beispielsweise ein selbstständiger Rechtsschutz gegen Defizite der Sachverhaltsermittlung seitens der Behörden nach § 24 VwVfG regelmäßig aus. Überdies ist Rechtsschutz gegen den Einsatz bestimmter Algorithmen oder technischer Anlagen grundsätzlich nur im Zusammenhang mit einer Sachentscheidung zu erlangen. Maßgeblich für die (aktuell) nach geltendem Recht geringen Auswirkungen einer Verfahrensautomatisierung auf die gerichtliche Kontrolle sind schließlich die unterschiedlichen Kontrollmaßstäbe für gebundene Entscheidungen einerseits und solchen mit behördlichen Entscheidungsspielräumen (Ermessen oder Beurteilungsspielräume) andererseits.

Bei gebundenen Verwaltungsakten findet regelmäßig nur eine Kontrolle der Ergebnisrichtigkeit statt. Der Ausgangsverwaltungsakt ist letztlich für die gerichtliche Entscheidung nicht maßgeblich,9 sodass ein richtiges Ergebnis auf Grundlage eines falschen Verfahrens – in den Grenzen der Nichtigkeit – grundsätzlich rechtmäßig ist. Im Extremfall könnte das sogar im Fall des zufällig das richtige Ergebnis erwürfelnden Amtsträgers zutreffen. Umgekehrt ist bei Ermessenentscheidungen oder Beurteilungsspielräumen in den jeweiligen Grenzen der einzelnen Rechtsinstitute auch das Entscheidungsverfahren relevant, während im Gegenzug nur eine reduzierte Kontrolle des Ergebnisses stattfindet. Angesichts der Beschränkung des § 35 a VwVfG in der aktuell geltenden Fassung auf gebundene Entscheidungen sind damit die technischen Einzelheiten der Vollautomatisierung einer gerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogen.

Automatisierte Verwaltungsakte de lege lata

Für die nähere Betrachtung von automatisierten Verwaltungsakten in verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach geltendem Recht ist zunächst eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen dem vollständig automatisierten Erlass und dem Erlass „mithilfe automatischer Einrichtungen“. Nur der erstere Fall soll hier behandelt werden. Dabei geht es um Anwendungsfälle des Anfang 2017 in das Verwaltungsverfahrensgesetz eingeführten § 35 a VwVfG, bei denen eine Automatisierung des gesamten Verwaltungsverfahrens einschließlich der Sachverhaltsermittlung, -auswertung und -verifizierung stattfindet. Umgekehrt existieren mithilfe automatischer Einrichtungen erlassene Verwaltungsakte, bei denen eine Automatisierung nur der Rechtsanwendung und/ oder Bescheidformulierung stattfindet, beispielsweise durch Berechnung der Leistungshöhe nach Eingabe in eine Maske und automatischem Auswurf eines fertig formatierten Bescheids, seit vielen Jahren.10 Dies wirft keine neuartigen Probleme auf, die hier angesprochen werden sollten.

Ausdrückliche Ermächtigungen zum Erlass vollständig automatisierter Verwaltungsakte durch Rechtsvorschrift existieren bislang nur wenige. Als Beispiele können § 15b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der Fahrzeugzulassungsverordnung und § 10 a des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags11 genannt werden. Allerdings existieren schon bislang verschiedene Verwaltungsakte, die ohne ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage mehr oder weniger automatisiert erlassen werden, wie beispielsweise automatische Verkehrssteuerungsanlagen, automatisiert erlassene Abgabenbescheide oder ggf. auch – aus jüngster Zeit – Subventionsentscheidungen wie etwa die Corona- Soforthilfe im Land Berlin.12 Es stellt sich die Frage, wie mit solchen Verwaltungsakten seit der Existenz des § 35 a VwVfG umzugehen ist. Dies ist bislang noch umstritten. In der Literatur wird teilweise vertreten, § 35 a VwVfG teleologisch zu reduzieren, soweit es um Verwaltungsverfahren ohne echte Sachverhaltsermittlung geht, bei der Angaben des Betroffenen verifiziert und auf Plausibilität überprüft werden (müssen). 13 Eine teleologische Reduktion des § 35 a VwGO begegnet jedoch angesichts des klaren Wortlauts und der fehlenden Anhaltspunkte für einen vom Gesetzgeber ausdrücklich oder – angesichts einer Regelungslücke – stillschweigend gebilligten reduzierten Anwendungsbereich verfassungsrechtlichen Bedenken.14 Jedenfalls bei denjenigen Akten, die unstreitig unter § 35 a VwVfG fallen (sollen), stellt sich überdies die Frage, welche Folgen das Fehlen einer entsprechenden Rechtsgrundlage oder inhaltliche Defizite dieser haben. Hierzu existieren wiederum unterschiedliche Auffassungen. Dafür, dass es sich um einen Scheinverwaltungsakt handeln könnte, der rechtlich nicht existent gewordenen ist,15 spricht angesichts der (anzunehmenden) äußeren Gestaltungsform und der Herkunft aus der Sphäre einer Behörde wenig.16

Auch Nichtigkeit dürfte kaum anzunehmen sein. Ein besonders schwerwiegender Fehler im Sinne des § 44 Abs. 1 VwVfG dürfte jedenfalls nicht (generell) vorliegen.17 Im Ergebnis spricht vieles dafür, dass ein automatisierter Verwaltungsakt mit defizitärer Ermächtigung (materiell) rechtswidrig ist. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim entgeht der Frage jedenfalls für solche Verwaltungsakte, bei denen ein Vorverfahren vorgeschrieben ist, dadurch, dass er auf den – nicht automatisiert erlassenen – Widerspruchsbescheid abstellt, in dessen Gestalt der angefochtene Verwaltungsakt gem. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens wird.18 Abgesehen von der Rechtsgrundlage, können mögliche Fehler beim Erlass automatisierter Verwaltungsakte im ersten Zugriff grob unterteilt werden in (1.) Ermittlungs- und Übertragungsfehler, (2.) Subsumtionsfehler sowie (3.) Fehler bei der Ausfertigung/dem Zugang. Ein Fehler der ersten Kategorie kann entstehen, wenn schon der Sachverhalt durch eine automatische Anlage, etwa ein Kamera- oder Messsystem, falsch erfasst worden ist oder wenn die erfassten Daten durch die automatische Anlage in fehlerhafter Weise an den Entscheidungsalgorithmus übertragen worden sind. Solche Fehler dürften regelmäßig auf die – jedenfalls bei belastenden Verwaltungsakten – gebotene Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen19 durchschlagen.

Auch darüber hinaus lässt sich die Ergebnisrichtigkeit durch das Verwaltungsgericht regelmäßig nicht überprüfen, wenn der der Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt fehlerhaft erfasst und damit wohl regelmäßig auch fehlerhaft gespeichert worden ist. Wenn für das Vorliegen eines solchen Ermittlungs- oder Übertragungsfehlers Anhaltspunkte bestehen oder von einem Beteiligten substanziiert vorgebracht werden, muss das Gericht dem ggf. auch unter Prüfung der eingesetzten Technik nachgehen. Subsumtionsfehler, d. h. eine fehlerhafte Programmierung, die bei einem richtig erfassten Sachverhalt ein rechtlich fehlerhaftes Ergebnis produziert, sind demgegenüber vom Gericht selbstständig ohne Kenntnis des eingesetzten Algorithmus bzw. der technischen Anlagen überprüfbar. Hier besteht kein Unterschied zu den Gedanken, die sich der jeweilige Sachbearbeiter ggf. gemacht hat und die das Gericht zur rechtlichen Bewertung der getroffenen Entscheidung nicht kennen muss. Entsprechendes gilt schließlich für Fehler bei der Ausfertigung und dem – ggf. ebenfalls elektronischen – Zugang automatisierter Verwaltungsakte. Hierbei sind keine spezifischen Probleme erkennbar, die sich gerade durch den automatisierten Erlass stellen.

 

Ein Beitrag aus dem BDVR-Rundschreiben 1/2021

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

1 Der Beitrag beruht auf einem Vortrag des Verfassers auf dem (digitalen) 29. Deutschen EDV-Gerichtstag vom 23. Bis 25.09.2020. Den Moderatoren des Arbeitskreises „Gerichtliche Kontrolle digitaler Verwaltung“, Frau Dr. Astrid Schumacher und Herrn Prof. Dr. Uwe-Dietmar Berlit, sei herzlich für die Einladung dazu gedankt. Der Beitrag gibt allein die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Der Vortragsstil wurde weitestgehend beibehalten. 2 Die wenigen Entscheidungen, die jeweils nach Erstellung des Vortrags veröffentlicht oder getroffen wurden, betreffen vor allem den vollautomatisierten Erlass von Rundfunkbeitragsbescheiden. Vgl. VG Frankfurt (Oder), Urt. v. 09.09.2020 – 3 K 616/17 – juris; VGH BW, Beschl. v. 13.11.2020 – 2 S 2134/20 – juris.

3 Vgl. etwa EuG, Urt. v. 17.09.2007 – T-201/04 – juris Rn. 88, st. Rspr.

4 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.10.2018 – 1 BvR 2523/13 – juris Rn. 18ff.

5 Vgl. BVerwG, Urt. v. 17.04.2002 – 9 CN 1/01 – juris Rn. 43.

6 Vgl. BVerwG, Urt. v. 17.04.2002 – 9 CN 1/01 – juris Rn. 44.

7 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.05.2020 – 7 B 13/19 – juris Rn. 20.

8 Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 46 Rn. 52ff.

9 Vgl. Riese, in: Schoch/Schneider (Hrsg.), VwGO, 39. EL Juli 2020, § 114 Rn. 10.

10 Vgl. § 28 Abs. 2 Nr. 4, § 37 Abs. 5 und § 39 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG.

11 Vgl. dazu VG Frankfurt (Oder), Urt. v. 09.09.2020 – 3 K 616/17 – juris; VGH BW, Beschl. v. 13.11.2020 – 2 S 2134/20 – juris.

12 Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 a Rn. 22.

13 Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 a Rn. 22f.; dagegen Windoffer, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2019, § 35 a Rn. 27.

14 Vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschl. v. 14.06.2007 – 2 BvR 1447/05 – juris Rn. 121.

15 Vgl. von Alemann/Scheffzcyk, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, 49. Edition, Stand: 01.10.2020, § 35 Rn. 41f.

16 Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 a Rn. 55; Stegmülller, NVwZ 2018, 353, 356.

17 Vgl. Prell in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, 49. Edition, Stand: 01.10.2020, § 35 a Rn. 11 b; Windoffer, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2019, § 35 a Rn. 31.

18 Vgl. VGH BW, Beschl. v. 13.11.2020 – 2 S 2134/20 – juris Rn. 15 f.

19 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018 – 1 BvR 142/15 – juris Rn. 156ff.

 

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Die Serie: Gerichtliche Kontrolle automatisierter Verwaltungsakte

 

 

 

Dr. Florian von Alemann

Richter am Verwaltungsgericht und stellvertretender richterlicher IT-Beauftragter, Berlin; Kassenwart des Bunds Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR) und des Deutschen Verwaltungsgerichtstags e.V.
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