02.10.2020

Freiraumgovernance im Lichte von Eingriffsregel und kommunaler Landschaftsplanung

Ein Praxisbericht aus der Region Stuttgart

Freiraumgovernance im Lichte von Eingriffsregel und kommunaler Landschaftsplanung

Ein Praxisbericht aus der Region Stuttgart

Eine Verschlechterung des Zustands von Natur und Landschaft sollte unterbunden werden. | © lassedesignen - Fotolia
Eine Verschlechterung des Zustands von Natur und Landschaft sollte unterbunden werden. | © lassedesignen - Fotolia

Die Region Stuttgart hat in der letzten Dekade eine hohe Wachstumsdynamik erlebt, daher sollte auch der Freiraum aktiv entwickelt werden.

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Freiraumschutz in Normal-Landschaften

Die Eingriffsregel ist eine der Pionierleistungen, die in den 1970er Jahren im Zuge eines zunehmenden Umweltbewusstseins vom Bundesgesetzgeber gesetzlich verankert wurde. Die Regel trifft die kaskadierende Rahmensetzung, dass erhebliche Beeinträchtigungen der Naturhaushalte nach Möglichkeit vermieden und minimiert oder zumindest ausgeglichen werden müssen. Eine Verschlechterung des Zustands von Natur und Landschaft soll also unterbunden werden. Wesentlich ist, dass die Vorgabe auch in den ‚Normal-Landschaften‘ oder ‚Alltags-Landschaften‘ greift und damit „gerade dort zur Geltung gebracht wird, wo Vorhaben die Gestalt oder Nutzung von Grundflächen verändern“ (Breuer 2016: 357). Gerade die Flächendeckung gibt der Eingriffsregel eine besondere Rolle in der deutschen Freiraum-Governance.

Außerhalb des Siedlungskörpers sind in der Region Stuttgart auch die Regionalen Grünzüge nahezu flächendeckend ausgestaltet. Zusammen mit den Grünzäsuren erstrecken sie sich auf fast 75 Prozent der Regionsfläche. Grundüberlegung hinter der regionalplanerischen Festlegung war und ist, dass die Flächenkonkurrenzen im Ballungsraum so stark ausgeprägt sind, dass eine Mehrfachnutzung („Multicodierung“) von Grund und Boden angestrebt werden sollte. Neben anderen Aspekten werden mit dem Instrument daher auch Funktionen des Bodens, der Landwirtschaft, der Erholung und des Klimas unter Schutz gestellt. Als endabgewogenes Ziel der Raumordnung werden sie von der Bebauung freigehalten und schaffen damit eine wichtige Voraussetzung für überörtliche Verbundstrukturen.


Ferner geht die Region Stuttgart mit dem Landschaftspark auch über den Schutz hinaus und wirkt seit der erstmaligen Kofinanzierung im Jahr 2006 an Entwicklung und Gestaltung der Grüninfrastrukturen mit. In Ergänzung zur Erarbeitung teilraumbezogener Masterpläne mit den lokalen Stakeholdern werden jedes Jahr 1,5 Millionen Euro für die Realisierung konkreter Landschaftspark-Projekte ausgelobt. Auf diese Weise konnten etwa ökologisch aufwertende Maßnahmen wie die ‚Zugwiesen‘ in Ludwigsburg oder die ‚Neckaraue‘ in Marbach umgesetzt und mit einer Verbesserung der Naherholung verbunden werden.

Regionale Wachstumsdynamik

Die Region Stuttgart hat in der letzten Dekade eine hohe Wachstumsdynamik erlebt, mit deutlichen Folgen für den Freiraum: zwischen 2008 und 2018 wurden dem Freiraum rund 2.700 Hektar zugunsten von Siedlung und Infrastrukturen entzogen (vgl. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2020). Auch künftig besteht Spielraum für Entwicklungen und die damit verbundenen Eingriffe in ökologische Schutzgüter. Denn der Regionalplan und die Flächennutzungspläne enthalten insgesamt rund 4.000 Hektar planerisch abgestimmter Standorte und Flächen für Wohnen und Gewerbe sowie Freirauminfrastrukturen (Verkehr, Windkraft und Rohstoffabbau). Diese ‚geplante Flächeninanspruchnahme‘ entspricht rund einem Prozent der Regionsfläche bzw. knapp unter fünf Prozent der derzeitigen Siedlungs- und Verkehrsfläche (vgl. Jenssen 2019: 45).

Landschaftspläne in der Region Stuttgart

Als örtlicher Fachplan für den Naturschutz stellen die kommunalen Landschaftspläne das etablierte Instrumentarium dar, um Kompensationsmaßnahmen – aber selbstverständlich auch durch Haushalts- und/oder Fördermittel finanzierte Projekte – konzeptionell vorzubereiten und dadurch die Umsetzung zu unterstützen (vgl. Mengel et al. 2018: 203; Stein 2018: 76; Grünberg 2016: 258) und damit die Entwicklung des Freiraums voranzubringen. Eine eigene Rechtsverbindlichkeit haben die Pläne allerdings nicht, sondern erhalten diese erst durch Übernahme in den Flächennutzungsplan. Im Rahmen des RAMONA-Projektes[1] wurde im ersten Halbjahr 2019 für das Gebiet der Region Stuttgart eine Abfrage bei den Kommunen zum Stand der Landschaftsplanung durchgeführt.

Abb. 1: Altersstruktur der Landschaftspläne in der Region Stuttgart

Während knapp mehr als 40 Prozent der Kommunen über einen Landschaftsplan verfügen, der innerhalb der vergangenen 15 Jahre aufgestellt wurde, haben die Pläne bei etwas unter 40 Prozent der Kommunen den üblichen Zeithorizont bereits erreicht oder überschritten. Bei Letzteren ist davon auszugehen, dass Natur und Landschaft regelmäßig nicht mehr adäquat dargestellt werden. Bei 20 Prozent der Kommunen liegt sogar überhaupt kein Landschaftsplan vor. Abbildung 1 stellt die Altersstruktur der Landschaftspläne in der Region Stuttgart dar.

Die Abfrage zeigt weiterhin auf, dass die kommunalen Planungsträger sich im Zuge der Landschaftsplanung mehrheitlich mit der Eingriffsthematik auseinandersetzen (fast 70 Prozent). Gleichwohl erfolgt die Auseinandersetzung mit der Eingriffsregelung oft nur in Ansätzen und umfasst nicht das gesamte Themenspektrum. So thematisieren beispielsweise nur 40 Prozent die Möglichkeiten eines Ökokontos, eine quantitative Abschätzung des erwarteten Bedarfs an Kompensationsmaßnahmen und -flächen erfolgt gar nur im absoluten Ausnahmefall.

 

Abb. 2: Bearbeitung des Themas Kompensation in den Landschaftsplänen

Freiraumentwicklung durch Umsetzung

Wenngleich der Stand der Landschaftsplanung in der Region im Großen und Ganzen mit den bundesweiten Verhältnissen vergleichbar ist (vgl. Stein 2018: 78), besteht zweifelsohne ein Nachholbedarf. Denn nur bei Aktualität von Datenbasis und Planungsaussagen können Landschaftspläne (oder auch separate Suchraumkulissen für Kompensationsmaßnahmen) einen Kristallisationspunkt für eine kohärente und umsetzungsorientierte Entwicklung der Landschaft bilden. Insgesamt kommt es dabei vor allem auf die Verknüpfung schützender, konzeptioneller und umsetzungsorientierter Instrumente an. Denn das ‚klassische‘ Werkzeug allein reicht für eine Weiterentwicklung des Freiraums nicht aus, gerade im Ballungsraum und bei Wachstumsdruck. Insofern braucht es eine aktive und projektorientierte Freiraumentwicklung, auch in Kombination mit probierfreudigen Formaten – wie etwa der interkommunalen Remstal-Gartenschau –, um die freiräumliche und ökologische Qualität dauerhaft zu gewährleisten.

Literatur

  • Breuer, Wilhelm (2016): Eingriffsregelung. In: Riedel, Wolfgang; Lange, Horst; Jedicke, Eckhard; Reinke, Markus (Hrsg.): Landschaftsplanung, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 357-382
  • Grünberg, Kai-Uwe (2016): Landschaftsplan. In: Riedel, Wolfgang; Lange, Horst; Jedicke, Eckhard; Reinke, Markus (Hrsg.): Landschaftsplanung, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 251-266
  • Jenssen, Till (2019): Doppelter Wachstumsschmerz in der Region? Herausforderungen und Perspektiven für stadtregionale Kompensationsstrategien. In: PLANERIN, Heft 5/2019, S. 45-46
  • Mengel, Andreas; Müller-Pfannenstiel, Klaus; Schwarzer, Markus; Wulfert, Katrin; Strothmann, Thorsten; Haaren, Christina von; Galler, Christina; Wickert, Johanna; Pieck, Sonja; Borkenhagen, Jörg (2018): Methodik der Eingriffsregelung im bundesweiten Vergleich. Bonn: Bundesamt für Naturschutz
  • Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2020): https://www.statistik-bw.de/SRDB/?R=RV11, zuletzt zugegriffen am 4. Mai 2020
  • Stein, Christian (2018): Steuerungswirkung der kommunalen Landschaftsplanung. Ausgewählte Aspekte der Qualität und Struktur der Landschaft sowie des Landschaftswandels. Wiesbaden: Springer Spektrum

 

[1] Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung innerhalb der Fördermaßnahme Stadt-Land-Plus gefördert. RAMONA ist ein Akronym für Stadtregionale Ausgleichsstrategien als Motor einer nachhaltigen Landnutzung. Informationen zum Projekt siehe http://www.fona-ramona.de/.

 

Dr. Till Jenssen

Referent am Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg
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