09.10.2020

Obdachlosen-Unterbringung

Ein lukratives Geschäftsmodell?

Obdachlosen-Unterbringung

Ein lukratives Geschäftsmodell?

Eine bundesweite Debatte über ganzheitliche Handlungskonzepte bei der Obdachlosenunterbringung, unabhängig von der förmlichen Zuständigkeitsverteilung, ist überfällig. | © Eisenhans - Fotolia
Eine bundesweite Debatte über ganzheitliche Handlungskonzepte bei der Obdachlosenunterbringung, unabhängig von der förmlichen Zuständigkeitsverteilung, ist überfällig. | © Eisenhans - Fotolia

Angenommen, Sie sind Eigentümer einer Wohnung. Eine Behörde bietet Ihnen an, die Wohnung für 133,75 € je Quadratmeter anzumieten. Damit meint sie wohlgemerkt die Monatsmiete je Quadratmeter, nicht etwa die Jahresmiete. Ihr Mietausfallrisiko ist gleich Null, denn Behörden sind immer zahlungsfähig. Sie halten das Angebot für einen schlechten Scherz? Dann sollten Sie sich damit vertraut machen, wie erpressbar Kommunen inzwischen sind, wenn sie Obdachlose unterbringen müssen!

„Plötzlich obdachlos“ – ein Problem auch für Familien

Wer den Begriff „Obdachloser“ hört, denkt spontan meist an mehr oder weniger ungepflegte Männer, die ihr Leben im Freien verbringen. Solche Menschen gibt es natürlich. Typische Obdachlose sehen aber anders aus. Eine aktuelle Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen bietet dafür ein gutes Beispiel.

Obdachlos war dort eine fünfköpfige Familie. Sie besteht aus der alleinerziehenden Mutter, zwei minderjährigen Töchtern von 10 Jahren und 16 Jahren und zwei Töchtern, die bereits volljährig sind. Diese Familie konnte sich die bisherige Mietwohnung nicht mehr leisten. Eine bezahlbare Wohnung fand sie nicht. Deshalb stand sie irgendwann (vermutlich nach einer Zwangsräumung) ohne Wohnung und Unterkunft da. Damit war die Familie obdachlos. Die zuständige Kommune musste sie unterbringen.


Tendenz: weiter steigend

Ein Einzelfall ist so etwas nicht. In Großstädten geht es um hunderte derartige „Fälle“ (richtiger: menschliche Schicksale) pro Jahr. Tendenz seit Jahren steigend. Der völlig überhitzte Immobilienmarkt lässt grüßen. Die frohe Kunde der Wirtschaftspresse, dass selbst Corona den Preisen für Wohnimmobilien bisher nichts anhaben konnte, garantiert geradezu, dass der Trend weiter anhalten wird.

„Hotel“ mit Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad

Eine stadteigene Unterkunft für Obdachlose war nicht frei. Deshalb schlug die Kommune der Familie vor, sie möge sich in einem von der Kommune vermittelten „Hotel“ doch in eigenem Namen Räume anmieten. Dies sah so aus: Das „Hotel“ war bereit, der Familie zwei Zimmer von insgesamt 30 m² zu vermieten. Eine eigene Küche und ein eigenes Bad waren für die Familie nicht vorgesehen. Es gab lediglich eine Gemeinschaftsküche und ein Gemeinschaftsbad, das sie jeweils zusammen mit anderen „Hotelgästen“ benutzen konnten.

Monatsmiete: 4012,50 € für 30 m²

Eine Wahl hatte die Familie nicht. Also akzeptierte sie den Vorschlag der Kommune wohl oder übel. Jeden Monat erhielt sie vom „Hotel“ eine fette Rechnung für die Unterkunft. Sie sah wie folgt aus:

  • Pro Person stellte das „Hotel“ täglich 26,75 € in Rechnung.
  • Das ergab eine Tagesmiete von 133,75 € für fünf Personen.
  • Daraus errechnete sich eine Monatsmiete von sage und schreibe 4012,50 €, wenn man für den Monat 30 Tage zugrunde legt.

Letztlich belastet: der Steuerzahler

Es liegt auf der Hand, dass die Familie sich dies aus eigenen Mitteln niemals leisten könnte. Wäre dies der Fall, könnte sie sich auch unter den heutigen Bedingungen des großstädtischen Mietmarktes eine gut gelegene Komfortwohnung anmieten und wäre niemals obdachlos geworden. Dass die Familie das „Hotel“ selbst bezahlen würde, stand jedoch auch nie zur Debatte. Vielmehr gab man ihr von Anfang an zu verstehen, dass sie die Rechnung jeweils an den zuständigen Sozialleistungsträger weiterreichen könne und dass der den Betrag dann entweder an die Familie erstatten oder direkt an das „Hotel“ überweisen werde.

„Gewerbliche OBG-Unterkunft“ – Lösung oder Teil des Problems?

Im NRW-Verwaltungsjargon heißt die geschilderte Vorgehensweise „Unterbringung in einer gewerblichen OBG-Unterkunft“. OBG steht dabei für das Ordnungsbehördengesetz NRW. § 14 Abs.1 OBG enthält für Nordrhein-Westfalen die „polizeirechtliche Generalklausel“. Sie bildet bekanntlich die Grundlage dafür, dass die zuständige Kommune Obdachlosen eine Unterkunft verschaffen muss. Die Kommune beseitigt damit die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und/oder Ordnung, die durch das Obdachlos-Werden von Menschen entstanden ist. In allen Bundesländern gibt es eine solche Generalklausel.

Kriterien für die Eignung einer Obdachlosen-Unterkunft

Vor die Verwaltungsgerichte kam der Fall, weil die Unterkunft aus der Sicht der Familie völlig unzureichend war, nicht nur wegen der geringen Fläche, sondern weil ihr die Verhältnisse dort insgesamt nicht zumutbar erschienen. Insbesondere rügte sie, dass den Familienmitgliedern jegliche individuelle Rückzugsmöglichkeit fehle.

Das Oberverwaltungsgericht NRW sah dies genauso. Deshalb verurteilte es die zuständige Kommune, der Familie eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, die nach Maßgabe der Gründe der gerichtlichen Entscheidung den Maßstäben für die Unterbringung von Obdachlosen genügt. Diese Formulierung des Gerichts kann man kritisieren. Denn so muss die Kommune sich aus den Entscheidungsgründen selbst heraussuchen, was im konkreten Fall als eine ordnungsgemäße Obdachlosenunterkunft anzusehen ist. Ein guter Entscheidungstenor nach Lehrbuch sieht gewiss anders aus.

Andererseits gibt das Gericht in seiner Begründung deutlich zu erkennen, woran es vorliegend fehlt. Erforderlich ist eine größere Nutzfläche. Und vor allem sind Rückzugsmöglichkeiten nötig, zum einen für die minderjährigen Töchter (vor allem zur Anfertigung von Hausaufgaben!) aber auch für die Mutter, die gesundheitlich angeschlagen ist. Dagegen muss die Kommune nicht zwingend dafür sorgen, dass auch die beiden volljährigen Töchter mit ihren Schwestern und der Mutter in gemeinsamen Räumen leben können. Die beiden volljährigen Töchter kann die Kommune auch anderswo unterbringen.

Unheilige Allianz von Ordnungsverwaltung, Sozialverwaltung und Geschäftemachern

Doch das sind alles Aspekte des konkreten Einzelfalls. Vergleichbare Einzelentscheidungen zur Eignung einer Unterkunft gibt es viele. Die aktuelle Entscheidung fügt sich hier in eine lange Reihe ein. Allgemeines Interesse verdient die Entscheidung aus einem anderen Grund. Sie deckt – soweit ersichtlich erstmals – gerichtlich dokumentiert auf, wie es inzwischen am Markt der Unterbringung von Obdachlosen aussieht. Die Verhältnisse lassen sich zugespitzt so zusammenfassen:

  • Der „ordnungsrechtliche Teil“ der Verwaltung weiß nicht mehr, wie er mit den steigenden Fallzahlen fertig werden soll. Eigene Obdachlosenunterkünfte der Kommune stehen nicht annähernd in ausreichender Zahl zur Verfügung. Also greift man auf das zurück, was der gewerbliche Markt eben hergibt. Das sind Unterkünfte mieser Qualität für teures Geld, etwa „Hotels“, die ein wirklicher Hotelgast nie buchen würde.
    Dass die Ordnungsverwaltung die Räume nicht selbst anbietet, sondern eine unmittelbare Anmietung durch die Obdachlosen vermittelt, hat seinen Grund im Kommunalabgabenrecht. Es kennt für die Erhebung von Nutzungsgebühren bei öffentlichen Einrichtungen den „Satzungsvorbehalt“. Würde die Ordnungsverwaltung die Räume selbst anmieten und dort dann Obdachlose einweisen, könnte sie von den Obdachlosen Nutzungsgebühren nur auf der Basis einer Gebührensatzung verlangen. Die inzwischen üblichen Preise ließen sich in einer solchen Satzung niemals adäquat abbilden. Sie könnte in der Regel nur das als Nutzungsgebühr vorsehen, was auf dem regulären Mietmarkt in etwa für eine vergleichbare Wohnung zu zahlen wäre. Die Differenz zu den realen Forderungen der „Hotelbetreiber“ wäre aus dem Etat der Ordnungsverwaltung zu finanzieren.
  • Der „sozialrechtliche Teil“ der Verwaltung akzeptiert die Kostenfolgen, die ihm die untergebrachten Obdachlosen präsentieren, weil er auch keinen anderen Ausweg weiß. Da die Unterkunft von der Ordnungsverwaltung vermittelt wurde, muss die Sozialverwaltung die Kosten wohl oder übel als angemessen ansehen. Sie übernimmt diese Kosten und verschiebt so die Belastung aus dem relativ überschaubaren Etat der Ordnungsverwaltung in den Riesen-Etat der Sozialverwaltung. Dort fallen sie allenfalls noch als Haushalts-Spitzen auf.
  • Geschäftemacher räumen ab, was eben geht. Wucher kann man ihnen nicht vorwerfen. Denn von geschäftlicher Unerfahrenheit kann bei den beteiligten Behörden keine Rede sein. Und dass die öffentliche Hand das Problem Obdachlosigkeit nicht durch eigene Maßnahmen energisch angeht (etwa durch den Bau von eigenen Unterkünften), kann man ebenfalls nicht ihnen zum Vorwurf machen. Gleichwohl plündern sie in verwerflicher Weise öffentliche Kassen aus, mag dies auch formal legal sein.

Das Ergebnis: ein Fiasko in jeder Hinsicht

Zufriedenstellen kann diese Situation auf keinen Fall. Es ist mehr als zurückhaltend, wenn das OVG Nordrhein-Westfalen formuliert, es bestünden „sich objektiv aufdrängende Bedenken gegen ein solches Vorgehen der Verwaltung.“ Dies trifft schon wegen der völlig unverhältnismäßigen Kosten zu, die dabei entstehen. Noch wichtiger ist jedoch ein zweiter Punkt, den das Gericht dankenswerter Weise ebenfalls hervorhebt: Jegliche Bemühungen eines Obdachlosen, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften sicherzustellen, sind bei Unterkunftskosten in dieser Höhe von vornherein sinnlos. Das erzieht den Obdachlosen zur Unselbstständigkeit. Ein Gefühl des „es ist eh alles egal“ stellt sich ein. Die psychologischen Folgen sind verheerend.

Keineswegs nur „Kölner Verhältnisse“

Sicher stellen Sie sich als Leserin oder Leser die Frage, ob hier lediglich „Kölner Verhältnisse“ oder zumindest nur „nordrhein-westfälische Verhältnisse“ geschildert werden. Kommt so etwas also andernorts nicht vor? Wenn es nur so wäre! Die Realität ist weitaus betrüblicher. Jedenfalls für Bayern und Baden-Württemberg berichtet die Praxis glaubwürdig von ähnlichen Situationen, durchaus auch außerhalb von Großstädten in deren „Speckgürtel“.

Ein Appell an alle Ratsmitglieder

„Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat“, fordert eine bekannte römische Rechtsformel, wobei mit den „consules“ die römischen Konsuln gemeint waren. Das mittelalterliche Latein versteht unter diesem Begriff jedoch auch die „Ratsherren“, was sich unter den heutigen Verhältnissen natürlich problemlos auch auf die Damen im Stadtrat ausdehnen lässt. Ihnen sei deshalb, ob Dame oder Herr, in freier Übersetzung der alten Rechtsformel zugerufen: „Mögen die Mitglieder des Rats endlich zusehen, dass das städtische Gemeinwesen durch solche Praktiken nicht weiter Schaden nimmt!“ Eine bundesweite Debatte über ganzheitliche Handlungskonzepte bei der Obdachlosenunterbringung, unabhängig von der förmlichen Zuständigkeitsverteilung, ist überfällig.

Die Fallschilderung beruht auf dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6.3.2020-9 B 187/20. Er ist bei Eingabe des Aktenzeichens im Internet problemlos zu finden, beispielsweise in der Rechtsprechungsdatenbank der Gerichte in Nordrhein-Westfalen.

 

Dr. Eugen Ehmann

Regierungspräsident
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