27.10.2020

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

BAG differenziert Kriterien zur Wirksamkeit von Kopftuchverboten weiter

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

BAG differenziert Kriterien zur Wirksamkeit von Kopftuchverboten weiter

Der Streit um das Kopftuch wird uns weiter beschäftigen. | © Angela Wulf - Fotolia
Der Streit um das Kopftuch wird uns weiter beschäftigen. | © Angela Wulf - Fotolia

Um es vorweg zu sagen: Es war vorauszusehen.

Die Rechtsstreitigkeiten rund um das Verbot, ein Kopftuch bei der Arbeit zu tragen, sind nicht abgeebbt. Das Gegenteil ist der Fall, auch wenn man kurzfristig glaubte, die Sache sei ausdiskutiert. Schließlich hatten sich Arbeitsgerichte bis hin zum BAG, das BVerfG, der EuGH und der EGMR mit der Thematik beschäftigt. Grundsätzlich scheint die Gemengelage der abzuwägenden Rechtspositionen klar: Religions- und Meinungsäußerungsfreiheit, Direktionsrechte von Arbeitgebern, das AGG, das GG, das EMRK, die Grundrechtecharta. Alles will berücksichtigt, in Korrelation gesetzt und gewichtet werden.

Der Teufel steckt im Detail

Über den Daumen gepeilt schien für einige Zeit die Formel, dass ein Arbeitgeber ohne Einzelfalldiskriminierung bestimmen darf, dass am Arbeitsplatz kein Kopftuch getragen wird, rechtssicher zu sein. Der Teufel steckt allerdings im Detail und damit in den Einzelfallumständen.


Übertragen wir die Situation auf vergleichbare Szenarien: den sichtbar tätowierten Polizisten, den Schöffen, der bei einem Gerichtstermin die Kippa trägt, die Soldatin mit Nasenpiercings. Es gibt mannigfaltige Situationen, bei denen Weisungen und Direktionsrechte von Arbeitgebern entweder als berechtigt angesehen werden oder scheitern. Selbst Gesetzgebungen der Länder für den öffentlichen Dienst, die bestimmen, dass Referendariate mit bestimmten, nach außen dokumentierten Weltanschauungen so nicht oder jedenfalls nicht in Situationen, in denen ein Referendar den Staat öffentlich repräsentiert, abgeleistet werden können, sind umstritten. In den 60er Jahren wäre das Problem noch nicht einmal im Ansatz aufgekommen. Eine heute als Persönlichkeitseinschränkung empfundene „spießige Ordentlichkeit“ galt damals als gesellschaftlicher Konsens. Heute muss wesentlich klarer differenziert werden. Das BAG hat sich dazu auf den Weg gemacht.

Das Vorabentscheidungsverfahren des BAG zum EuGH

Erinnert sei an das Verfahren 10 AZR 299/18 (A) vom 30.1.2019, als das BAG in Kernfragen des Kopftuchverbots ein Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH auf den Weg brachte. Kommentatoren schrieben überwiegend, das BAG sähe in pauschalen Kopftuchverboten durch Arbeitgeber möglicherweise eine Verletzung der Religionsfreiheit.

Im konkreten Fall arbeitete die Arbeitnehmerin einer Drogeriemarktkette als Verkaufsberaterin und Kassiererin. Ihr wurde das Arbeiten in der Drogerie mit Kopftuch arbeitgeberseitig untersagt, weil die Kleiderordnung verletzt werde. Sämtlichen Arbeitnehmern war u.a. bei Tätigkeiten mit Kundenkontakt das „Arbeiten mit Kopfbedeckungen aller Art“ untersagt.

Ein klarer Fall von Direktionsrecht kontra Religionsfreiheit, denn die Kopfbedeckung im konkreten Fall war auch – so die betroffene Arbeitnehmerin – Ausdruck eines als Verpflichtung empfundenen religiösen Bekenntnisses.

Beim letztinstanzlichen BAG angekommen, nutzte das BAG Art. 267 AEUV, um dem EuGH höchst differenzierte Vorabentscheidungsfragen zu möglichen mittelbaren Ungleichbehandlungen wegen des in der Art der Kleidung deutlich manifestierten religiösen Bekenntnisses vorzulegen. Das BAG sah die bislang wegweisende „Achbita-Entscheidung“ des EUGH (C-157/15) aus 2017 nicht als ausreichend klärend im aktuellen Fall an. Dort hatte nämlich der EuGH interne Kleidungsvorschriften als von der Unternehmerfreiheit des Art. 16 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) gedeckt angesehen, wenn Arbeitgeber damit eine generelle Neutralitätspolitik betreiben.

Das BAG wollte zusätzlich geklärt wissen, ob eine allgemeine Anordnung privater Unternehmen, die auch das Tragen auffälliger religiöser Zeichen verbietet, aufgrund der von Art. 16 GRC geschützten unternehmerischen Freiheit diskriminierungsrechtlich stets gerechtfertigt ist oder ob die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin berücksichtigt werden müsse, die von der GRC und der EMRK sowie dem GG geschützt wird?

Das aktuelle BAG-Urteil: Der Berliner Fall

Diese Argumentationsentwicklung im Auge behaltend, ist mittlerweile ein weiteres „Kopftuchurteil“ des BAG (8 AZR 62/19 vom 27.8.2020) in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.

Der Fall enthält sämtliche Versatzstücke des typischen Verlaufs einer „Kopftuchauseinandersetzung“, dieses Mal außerhalb des rein privaten Rahmens.

Die Klägerin, eine Diplom-Informatikerin, bewarb sich beim beklagten Land Berlin für den Schuldienst als Quereinsteigerin. Die Klägerin selbst bezeichnete sich als gläubige Muslima und trug als Ausdruck ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Nach dem erfolgten Bewerbungsgespräch wies ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle auf die Rechtslage nach dem sogenannten „Berliner Neutralitätsgesetz“ hin.

§ 2 des Neutralitätsgesetzes lautet:

„Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallend religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht“.

Die Klägerin machte deutlich, dass sie nicht gedenke, im Unterricht ihr Kopftuch abzunehmen.

Nachdem ihre Bewerbung erfolglos geblieben war, nahm die Klägerin das beklagte Land auf Zahlung einer Entschädigung nach dem AGG in Anspruch. Sie trug vor, das Land Berlin habe sie entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihrer Religion benachteiligt und somit unzulässig diskriminiert. § 2 Neutralitätsgesetz sei keine zulässige Grundlage für das Handeln der Beklagten, da das pauschale Verbot, ein muslimisches Kopftuch im Dienst zu tragen gegen die in Art. 4 GG geschützte Glaubensfreiheit verstoße.

Die Beklagte hingegen hielt das Berliner Neutralitätsgesetz für verfassungsgemäß und unionsrechtskonform. Die unterschiedslos gleiche Regelung für alle Lehrkräfte und Pädagogen, im Dienst keine auffallend religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSd § 8 I AGG dar. Das Land sah sich auch in Übereinklang mit unionsrechtlichen Vorgaben und der „Achbita-Rechtsprechung“ des EuGHs. Eine Diskriminierung der Klägerin sei nicht erkennbar. Strikte Neutralität sei aus präventiven Gründen angesichts einer Vielfalt von Ethnien und Religionen im Land Berlin zur Wahrung des Schulfriedens erforderlich und betreffe alle gleichermaßen.

Differenzierte Abwägung

Der 8. Senat des BAG kam zu der Überzeugung, die Klägerin habe als erfolglose Bewerberin eine unmittelbare Benachteiligung iSd § 3 I AGG erfahren. Es bestehe eine von der Beklagten nicht widerlegte Vermutung, dass die Klägerin wegen ihrer Glaubensüberzeugung, zu der auch das Tragen eines Kopftuchs gehört, benachteiligt wurde. Diese Benachteiligung sei auch nicht nach § 8 I AGG gerechtfertigt.

Auf § 2 Berliner Neutralitätsgesetz können sich das Land nicht berufen, denn nach der Rechtsprechung des BVerfG führe eine pauschale und abstrakte gesetzliche Regelung wie in § 2 Neutralitätsgesetz zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG, sofern das Tragen des Kopftuchs – wie vorliegend der Fall – auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Etwas Anderes könne für die Fälle gelten, wenn begründet vorgetragen werde, dass das Tragen eines sogenannten „islamischen Kopftuchs“ tatsächlich zu einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führt. Derartige Indizien habe die Beklagte nicht vorgetragen. Insgesamt sei der erkennende Senat nach § 31 I BVerfGG an die Rechtsprechung des BVerfG gebunden.

Aus § 8 I AGG und aus den Art. 10 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergebe sich nichts Abweichendes. Den Bestimmungen in §§ 2 – 4 Berliner Neutralitätsgesetz fehle es bereits an der unionsrechtlich erforderlichen Kohärenz.

An dieser Stelle der Argumentation ist deutlich sichtbar, dass das BAG in „Kopftuchverfahren“ eine differenzierte, die Grundfreiheiten – seien sie deutschen oder europäischen Ursprungs – argumentativ abwägende Herangehensweise einfordert. Pauschale Regelungen, seien sie gesetzlich verankert oder als Direktionsrechte ausgekleidet, stellen nur eine ungenügende Grundlage für rechtssichere Entscheidungen dar.

Es bleibt zu sagen, was in Kopftuchstreitfällen seit Jahren noch immer konstatiert werden musste: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Der Kopftuchstreit wird uns weiter beschäftigen.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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