15.12.2022

Fehlerfolgen und Fehlerbehebung im elektronischen Rechtsverkehr

Umgang und Lösungen für prozessuale Formfehler

Fehlerfolgen und Fehlerbehebung im elektronischen Rechtsverkehr

Umgang und Lösungen für prozessuale Formfehler

Rechtsanwälte müssen seit 1. Januar 2022 ihre Schriftsätze bei Gericht in elektronischer
Form einreichen. © mast3r – stock.adobe.com
Rechtsanwälte müssen seit 1. Januar 2022 ihre Schriftsätze bei Gericht in elektronischer Form einreichen. © mast3r – stock.adobe.com

Fehler geschehen überall dort, wo Menschen arbeiten. Der Umgang mit ihnen ist zumeist eine Frage der Führungs- und Fehlerkultur. Auch der Gesetzgeber hat sich mit Fehlerfolgen zu beschäftigen; besonders interessant ist, wie er mit prozessualen Formfehlern im elektronischen Rechtsverkehr umgeht. Der Beitrag zeigt die Fehleranfälligkeit aufgrund der gravierenden Veränderung von geübten, hergebrachten Arbeitsschritten bei der Digitalisierung gerichtlicher Verfahren und bietet Lösungen an.

Aktive Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs

Seit dem 1. Januar 2022 besteht die aktive Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs. Rechtsgrundlage für deren Einführung beispielsweise in der Sozialgerichtsbarkeit ist § 65d SGG, und zwar an sämtlichen deutschen Sozialgerichten in allen drei Instanzen. Für die anderen Fachgerichtsbarkeiten finden sich die entsprechenden Regelungen in den einzelnen Verfahrensordnung: §§ 130d ZPO, 55d VwGO, § 52d FGO, § 46 g ArbGG, § 14b FamFG und § 32 d StPO.[1]

Der sachliche Anwendungsbereich der aktiven Nutzungspflicht umfasst vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen. Nicht erfasst ist dagegen die Vorlage von Beweismitteln. Diese werden zur Erhaltung ihres Beweiswertes grundsätzlich in der Form vorgelegt, in der sie durch die Behörde geführt werden; also durchaus auch weiterhin analog, wenn es sich um Papierakten handelt.[2]


Der persönliche Anwendungsbereich der aktiven Nutzungspflicht erfasst ab 1. Januar 2022 zunächst alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse.

Von der aktiven Nutzungspflicht nicht erfasst sind dagegen im ersten Schritt ab 2022:

  • die in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit häufig als Prozessvertreter auftretenden Verbände und Gewerkschaften, Rentenberaterinnen und Rentenberater, nicht anwaltlich vertretene Bürgerinnen und Bürger sowie privatrechtliche Unternehmen (bspw. als Arbeitgeber in der Arbeitsgerichtsbarkeit),
  • Steuerberaterinnen und Steuerberater, die vorwiegend in der Finanzgerichtsbarkeit auftreten sowie
  • weitere Personen im Umfeld eines Gerichtsverfahrens, bspw. Dolmetscherinnen und Dolmetscher, Sachverständige oder ehrenamtliche Richterinnen und Richter.

Erst zum 1. Januar 2026 (bzw. für Steuerberater ab 1. Januar 2023) weitet sich die aktive Nutzungspflicht auch auf viele andere sog. professionelle Verfahrensbeteiligte aus. Nicht Zwang und zeitlicher Druck stehen im Vordergrund, sondern auch eine hohe Dynamik in den Rechtsänderungen. Entsprechend groß ist die Unsicherheit der Rechtsanwender, im Umgang mit der neuen, nicht grundständig erlernten Materie.

Die auf den ersten Blick größte Sorge ist dabei noch die tatsächlich und rechtlich unproblematischste: Wenn die elektronische Einreichung verpflichtend, eine digitale Übermittlung aber nicht möglich ist (z. B. aufgrund von Stromausfall, Internetstörung, Defekt des Computers etc.), stellt sich die Frage, ob die Rechtspflege stillstehen muss. Die Antwort ist einfach und heißt: Nein! Der Gesetzgeber hat Mechanismen zur Problemlösung unmittelbar in das Gesetz aufgenommen. Diese rechtlichen Rettungsanker sollten bekannt sein. Sie sind großzügig, nicht alle sind aber ohne Tücken im Detail.

Die elektronische Übermittlung schlägt fehl: Ersatzeinreichung gem. § 130d S. 2–3 ZPO

Kommt es zu Störungen des elektronischen Rechtsverkehrs, sieht das Gesetz eine Ersatzeinreichung nach § 130d S. 2–3 ZPO vor. Die Einreichung eines Schriftstücks bei Gericht kann also auf einem beliebigen anderen prozessrechtlich vorgesehenen Wege erfolgen – per Post, Fax oder Bote. Die Störung muss nach dem Wortlaut der Norm und ihrem Sinn und Zweck vorübergehender Natur sein. Professionelle Einreicher können sich daher nicht auf § 130d ZPO berufen, wenn ein zugelassener Übermittlungsweg noch nicht in Betrieb genommen oder eingerichtet worden ist,[3] selbst wenn dies kurz vor Eintritt der aktiven Nutzungspflicht noch in Angriff genommen, aber nicht abgeschlossen ist.

§ 130d S. 2–3 ZPO kann daher keine Nachlässigkeit absichern. Der vermeidbare Grundfehler war daher, schlicht den Kopf in den Sand zu stecken. Die Ursache der Störung muss technischer Natur sein. Nicht zwingend ist dagegen, dass sie nicht aus der Sphäre des Einreichers stammt. Der Gesetzgeber beabsichtigt durch diese Norm gerade eine „prozessuale Wohltat“ zur Förderung der Nutzerakzeptanz im elektronischen Rechtsverkehr. Grundsätzlich soll gelten, dass jede Form eines technischen Ausfalls nicht zum Nachteil des Einreichers gereicht. So können etwa auch Fehlbedienungen und vergessene Passwörter das Merkmal der technischen Störung erfüllen.[4]

Fehlendes Verschulden des Einreichers ist keine Voraussetzung – eine wirklich seltene normative Großzügigkeit. Im Falle einer vorsätzlichen Herbeiführung der Unmöglichkeit zum Zwecke der Ermöglichung einer Ersatzeinreichung dürfte nach allgemeinen Regeln ein rechtsmissbräuchliches Verhalten anzunehmen sein, so dass sich der Einreicher auf seine Privilegierung nicht berufen kann. Die Störung muss zur Unmöglichkeit der elektronischen Einreichung führen. Unvermögen des Einreichers genügt nach dem Sinn und Zweck der Norm hierfür.

Die vorübergehende Unmöglichkeit ist stets bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Das ArbG Lübeck hat hierzu in einer vielbeachteten Entscheidung[5] gefordert, dass die Glaubhaftmachung der Störung stets erforderlich sei, selbst wenn das Gericht Kenntnis von der Störung habe. Zur Feststellung von Störungen empfiehlt es sich, den EGVP-Newsletter (elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach) zu abonnieren, um per E-Mail über Störungen informiert zu werden. Auch ein Screenshot oder Log-Dateien der eingesetzten Anwaltssoftware kommen zur Glaubhaftmachung in Betracht.[6]

Auf Anforderung ist ein elektronisches Dokument nachzureichen, wodurch den Gerichten Scanaufwände erspart werden sollen. Welche Mittel zur Glaubhaftmachung der Störung geeignet sind, ist noch nicht geklärt. Zu beachten ist, dass das LAG Schleswig-Holstein[7] objektive Nachweise gefordert hat (dort Screenshot). Abstrakt in Betracht kommen eine anwaltliche bzw. eidesstattliche Versicherung, die Vorlage des EGVP-Newsletters, aus dem sich eine generelle Störung ergibt, Screenshots von Fehlermeldungen oder Protokollierungsdateien (bspw. des Internet-Routers).

Das Gericht meint, das Dokument nicht erhalten zu haben: Nachweis durch die Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO

Für die elektronische Postausgangskontrolle zeichnet sich ab, dass die Rechtsprechung vor allem verlangt, dass der Erhalt der Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 Satz 2 kontrolliert wird.[8] Die über das beA versandte Nachricht lässt sich – einzeln – bspw. bei Rechtsanwälten aus dem beA-Webclient exportieren. Die dadurch erzeugte .zip-Datei dient dem Nachweis des erfolgreichen Versands, einschließlich Nachweisen über:

  • den versandten Inhalt (die übersandte Datei ist enthalten),
  • den Versandzeitpunkt (die Eingangsbestätigung des Gerichts befindet sich in der Datei „x_export.html“) und
  • eine gültige qualifizierte elektronische Signatur, sofern erforderlich.

Die Kontrolle der Eingangsbestätigung darf sich nicht auf den Ausschluss technischer Fehlermeldungen beschränken, sondern erstreckt sich auch auf den Versand der richtigen Datei an den richtigen Empfänger.[9] Die Kontrolle und Aufbewahrung dieser automatisierten Eingangsbestätigung ist nach der Rechtsprechung des BGH[10] Teil der anwaltlichen Sorgfaltspflicht[11] beim elektronischen Nachrichtenversand und entsprechend in der Kanzleiorganisation zu berücksichtigen. Die Eingangsbestätigung soll dem Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind. Hat der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erhalten, besteht Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war. Bleibt sie dagegen aus, muss dies den Rechtsanwalt zur Überprüfung und gegebenenfalls erneuten Übermittlung veranlassen.

Der VGH München[12] meint, es gehöre auch zur anwaltlichen Sorgfalt, dass die Vollständigkeit des Schriftsatzes vor dem Absenden kontrolliert werde. Diese Anforderung überzeugt nicht, weil sie unverhältnismäßig die Möglichkeiten eines Rechtsanwalts zur Delegation der Postausgangskontrolle an Mitarbeitende einschränkt. Der BGH[13] meint ferner, bei der Signierung eines ein Rechtsmittel oder eine Rechtsmittelbegründung enthaltenden fristwahrenden elektronischen Dokumentes gehöre es zu den nicht auf das Büropersonal übertragbaren Pflichten eines Rechtsanwalts, das zu signierende Dokument zuvor selbst sorgfältig auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu prüfen.

Diese Rechtsprechung lässt sich mit Blick auf die praktischen Bedürfnisse einer arbeitsteiligen Kanzleiorganisation ebenfalls mit guten Gründen kritisieren. Letztlich bliebe unter konsequenter Beachtung dieser Rechtsprechung kaum Raum für ein eigenverantwortlich assistierendes Sekretariat. Zutreffend ist dagegen, dass eine stichprobenhafte Überprüfung der Prüfungsaufgaben des Assistenzpersonals hinsichtlich der Eingangsbestätigung durch den Berufsträger zu erfolgen hat.[14] Zur Kanzleiorganisation macht der BGH folgende Vorgaben: Ein Rechtsanwalt müsse, wenn er fristwahrende Schriftsätze über das beA an das Gericht versendet, in seiner Kanzlei das zuständige Personal dahingehend anweisen, dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO zu kontrollieren sei. Er habe zudem diesbezüglich zumindest stichprobenweise Überprüfungen durchzuführen.

Die Anforderungen an die Kanzleiorganisation folgen im Wesentlichen den Maßstäben, die von der Rechtsprechung für die Nutzung des Telefaxes entwickelt wurden. Es gehört aber zur Sorgfalt, auf die neuen technischen „Alarmsignale“ adäquat zu reagieren und deren Beobachtung bei der Kanzleiorganisation zu berücksichtigen.[15] Rechtlicher Hintergrund dieser Anforderungen ist § 130a Abs. 5 Satz 1 ZPO. Danach kommt es zur Feststellung der Fristwahrung darauf an, dass das elektronische Dokument im Gericht eingegangen ist, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist.

Die Empfangseinrichtung des Gerichts ist für alle auf EGVP (Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach – die Standardkommunikations-Infrastruktur der Justiz) basierenden Übermittlungswege (EGVP, beA, beN und beBPo) der EGVP-Intermediär. Hierbei handelt es sich um einen nicht im jeweiligen Gericht befindlichen – sondern zentralen – Server der EGVP-Infrastruktur, der sowohl Ablagepunkt für die Nachricht des Absenders als auch Abholpunkt für den Empfänger ist.

Das für die Fristwahrung maßgebliche Datum lässt sich sowohl dem Transfervermerk, dem Prüfvermerk, als auch dem Prüfprotokoll „inspectionsheet.html“ entnehmen („Eingang auf dem Server“). Sowohl Absender als auch Empfänger liegt also dieser – derselbe – Zeitpunkt vor. Eigentlich dürfte es deshalb kaum noch Streit um eine Fristwahrung geben. Der BGH hatte zwischenzeitlich mehrfach Gelegenheit klarzustellen, dass das elektronische Dokument beim Gericht eingegangen ist, sobald es auf dem für den Empfang bestimmten Server des Gerichts (genauer: in der vom Gericht genutzten Infrastruktur, denn der Server muss sich gerade nicht räumlich im Gericht befinden) gespeichert worden ist.[16]

Daran anschließende gerichtsinterne Vorgänge spielen für den Eingangszeitpunkt dagegen keine Rolle.[17] Aus gerichtsinternen Versäumnissen dürfen für den Einreicher keine Verfahrensnachteile resultieren. Hierzu zählt insbesondere, wenn das Gericht nicht in der Lage ist oder schlicht versäumt, das elektronische Dokument vom Intermediär abzuholen oder für eine (noch) führende Papierakte auszudrucken.[18]

Der Nachweis des Eingangsdatums ist deshalb keine Information, die für ein Wiedereinsetzungsverfahren eine Rolle spielt, sondern dieses Datum zeigt, dass die Nachricht schon fristwahrend eingegangen ist – weshalb eine Wiedereinsetzung gar nicht erforderlich ist. Letztlich ein immenser Vorteil der Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs. So gut ist die Nachweislage auf keinem analogen Übermittlungsweg.

Das Gericht kann das elektronische Dokument nicht öffnen: Eingangsfiktion gem. § 130a Abs. 6 ZPO

Eine Rettung formwidriger Einreichungen kommt nach den allgemeinen Wiedereinsetzungsregeln oder aufgrund der Eingangsfiktion des § 130a Abs. 6 ZPO in Betracht. Formwidrigkeit ist seit der Reform zum 1. Januar 2022, mit der die Dateiformatvorgaben erheblich gelockert wurden, letztlich nur noch gegeben, wenn nicht in PDF eingereicht wurde oder wenn die Datei faktisch durch das Gericht nicht nutzbar ist.

Anders ausgedrückt: Bei Gerichten, die papiergebunden arbeiten, ist das PDF nicht ausdruckbar und bei Gerichten, die mit eAkte arbeiten, lässt sich die Datei nicht öffnen und importieren. Letzteres dürfte v. a. dann vorliegen, wenn die übermittelte Datei beschädigt, kennwortgeschützt ohne bekanntgegebenes Kennwort oder virenverseucht ist. § 130a Abs. 6 ZPO steht als rein privilegierende Regelung für den Elektronischen Rechtsverkehr neben den allgemeinen Wiedereinsetzungsregeln.[19]

Da auch § 130a Abs. 6 ZPO verschuldensunabhängig ist, dürften seine Voraussetzungen grundsätzlich leichter zu erfüllen sein als die der Wiedereinsetzung. Die Eingangsfiktion hat die inhaltliche Voraussetzung, dass das nicht-bearbeitbare Dokument unter Behebung des Problems nochmals eingereicht wird. Zudem ist gleichzeitig mit der erneuten Einreichung – in einem gesonderten Dokument – glaubhaft zu machen, dass es mit dem zuvor eingereichten, nicht-bearbeitbaren Dokument bildlich und inhaltlich übereinstimmte. Hierfür dürfte eine anwaltliche Versicherung ausreichen.

Die nochmalige Einreichung hat unverzüglich nach dem gerichtlichen Hinweis zu erfolgen, der das Problem der ursprünglichen Einreichung und die geltenden technischen Rahmenbedingungen konkret beschreiben muss. Unverzüglich bedeutet: Ohne schuldhaftes Zögern. Die Rechtsfolge ist weitreichend: Das Dokument gilt dann ohne Weiteres als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung als eingegangen – die formwidrige Einreichung ist damit vergeben und vergessen.

Wenn sonst nichts hilft: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Trotz der vielen privilegierenden Regelungen im elektronischen Rechtsverkehr, kommt als letzter Rettungsanker ggf. ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. Im Gegensatz zu den übrigen Vorschriften ist dieser aber nicht nur durch enge Fristen begrenzt, sondern vor allem durch das Verschuldenselement. Hier kommt es also darauf an, dass die Kanzleiorganisation auf die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs ausgerichtet ist und insbesondere, dass die Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO sorgsam kontrolliert wurde. Die Rechtsprechung fordert noch allerlei weitere „Sicherungsmaßnahmen“, die man durchaus kritisch sehen kann, bspw. „aussagekräftige Dateinamen“. Eine Anforderung, die auch aus den 80er Jahren stammen könnte.

Fazit: Vorsicht ist besser als Nachsicht

Der Gesetzgeber hat erkannt, dass der Umbruch vom papierbasierten Gerichtswesen hin zu eJustice-Gerichten für viele Verfahrensbeteiligte erhebliche Hürden mit sich bringt. Mit Gerichten kommunizieren nicht nur „digital natives“. Gleichermaßen verlangen modern aufgestellt Rechtsanwaltskanzleien und Unternehmen von der Justiz mehr Digitalisierung; auch diese ist aber nicht überall darauf eingestellt.

Manch ein Richter hat 40 Dienstjahre auf Papier gearbeitet und tut sich ebenfalls schwer bei der Umstellung. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte müssen darüber hinaus die Technik selbst beschaffen, die Kanzlei in eigener Verantwortung organisieren und überdies mit dem eigenen Geldbeutel für Fehler haften. Richterinnen und Richter ächzen teilweise ohnehin schon unter dem Druck der Bewältigung der eingehenden Massen an Dokumenten und sehen kaum Zeit, sich auch noch auf eine neue Arbeitsweise einzustellen. Die perfekte Nährlösung für häufige Fehler. Die Idee, schon im Gesetz eine hohe Fehlertoleranz vorzusehen, leicht – auch mit Rückwirkung – Fehler korrigieren oder heilen zu können, war eine hervorragende Idee des Gesetzgebers, um Nutzervertrauen zu stärken.

Profitieren kann hiervon aber nur, wer sich auf die neuen Regelungsmechanismen vorbereitet hat, die Heilungsvorschriften kennt und innerhalb der vorgesehenen Fristen – teilweise unverzüglich – reagiert. Ferner dürfen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ihre Kanzleiorganisation nicht vernachlässigen. Redliches Bemühen, den elektronischen Rechtsverkehr zu beherrschen, dürfte die Eintrittskarte in eine großzügige normative Fehlerkultur sein. Mancherorts ist aber selbst dies noch etwas zu viel verlangt.

 

Entnommen aus dem Wirtschaftsführer für junge Juristen, 2022/2023, S. 16

[1] Müller, eJustice-Praxishandbuch 6. Aufl. 2021, S. 222.

[2] Gädeke, in: jurisPK-ERV, Band 3, 1. Aufl., § 104 SGG Rn. 15 ff.; Müller (Fn. 1), S. 313 ff.; BeckOGK/Müller, 1. 11. 2021, SGG § 104 Rn. 16.

[3] Gädeke (Fn. 2), § 65d SGG Rn. 29.

[4] Gädeke (Fn. 2), § 65d SGG Rn. 27 unter Hinweis auf BT-Drs. 17/12634, S. 27.

[5] Urteil v. 1. 10. 2020 – 1 Ca 572/20.

[6] LAG Schleswig-Holstein Urteil v. 8. 4. 2021 – 1 Sa 358/20; siehe auch OLG Braunschweig Beschluss v. 18. 11. 2020 – 11 U 315/20 m. Anm. Günther/ Grupe, K&R 2021, 226, 227; Müller, RDi 2021, 154, 158; Schafhausen, AnwBl 2021, 303; zur Postausgangskontrolle s. ferner BGH Beschluss v. 11. 5. 2021 – VIII ZB 9/20 m. Anm. Toussaint, beck-online FD-ZVR 2021, 440263.

[7] Urteil v. 8. 4. 2021 – 1 Sa 358/20.

[8] So auch LArbG Schleswig-Holstein v. 19. 9. 2019 – 5 Ta 94/19 mit zust. Anm. Müller, NZA-RR 2019, 659 f.; s. a. im Einzelnen jurisPK-ERV/Müller § 130a ZPO Rn. 411 ff.

[9] Bayerischer VGH v. 31. 3. 2022 – 11 ZB 22.39.

[10] BGH v. 11. 5. 2021 – VIII ZB 9/20; BGH v. 14. 5. 2020 – X ZR 119/18.

[11] https://ervjustiz.de/bgh-zur-sorgfaltspflicht-bei-der-postausgangskontrolle (abgerufen am 29. 12. 2021).

[12] Beschluss v. 20.04.2022 – 23 ZB 19.2287.

[13] Beschluss v. 08.03.2022 – VI ZB 78/21.

[14] LArbG Berlin-Brandenburg v. 14.03.2022 – 2 Sa 1699/21.

[15] Schmidt, JA 2021, 1041, 1044; OLG Schleswig- Holstein v. 27.10.2021 – 11 U 61/21. Eine Übersicht über die Reaktionsmöglichkeiten auf die Rüge der Form durch das Gericht oder den Verfahrensgegner findet sich hier: Müller, https://ervjustiz.de/was-tun-wenn-es-mal-mit-dem-erv-nicht-klappt – zuletzt abgerufen am 10.07.2022.

[16] BGH v. 14. 5. 2020 – X ZR 119/18; BGH v. 25. 8. 2020 – VI ZB 79/19.

[17] BGH v. 14. 5. 2020 – X ZR 119/18 – juris Rn. 12; BGH v. 28. 5. 2020 – I ZR 214/19 – juris Rn. 7; BGH v. 25. 8. 2020 – VI ZB 79/19 – juris Rn. 7.

[18] Müller (Fn. 8), § 130a ZPO Rn. 135; s. a. https://ervjustiz.de/bgh-fristwahrung-auch-mit-umlauten  – zuletzt abgerufen am 10.07.2022).

[19] S. zur Abgrenzung Müller, NZA 2019, 1120, 1122.

 

Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts Darmstadt Honorarprofessor der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen.
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