11.09.2023

Erschließungsbeitragspflicht des Hinterliegergrundstücks

Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

Erschließungsbeitragspflicht des Hinterliegergrundstücks

Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

Ein Beitrag aus »Die Gemeindekasse Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Die Gemeindekasse Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Ein durch ein baulich genutztes oder nutzbares Anliegergrundstück von der abzurechnenden Anbaustraße getrenntes Hinterliegergrundstück wird grundsätzlich nicht durch die Erschließungsanlage erschlossen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Eigentümer der übrigen erschlossenen Grundstücke erwarten können, dass auch das Hinterliegergrundstück an der Verteilung des angefallenen umlagefähigen Aufwands teilnimmt.

Leitsätze

  1. Ein durch ein baulich genutztes oder nutzbares Anliegergrundstück von der abzurechnenden Anbaustraße getrenntes Hinterliegergrundstück wird grundsätzlich nicht durch diese Erschließungsanlage i. S. d. § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG erschlossen. Etwas anderes gilt jedoch ausnahmsweise dann, wenn die Eigentümer der übrigen erschlossenen Grundstücke nach den im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflichten bestehenden tatsächlichen Verhältnisse schutzwürdig erwarten können, dass auch das Hinterliegergrundstück an der Verteilung des für die abzurechnende beitragsfähige Erschließungsanlage angefallenen umlagefähigen Aufwands teilnimmt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn das Hinterliegergrundstück durch eine dauerhafte, rechtlich gesicherte Zufahrt mit der Erschließungsanlage verbunden ist (im Anschluss an VGH BW, Urt. v. 19.06.20212 – 2 S 3312/11 – juris).
  2. Ein Hinterliegergrundstück ist bebaubar i. S. d. § 40 KAG und damit beitragspflichtig, wenn es in der Verfügungsmacht des Grundstückseigentümers steht, die für eine aktuelle Bebaubarkeit des Grundstücks aufgestellten – bundesrechtlichen wie landesrechtlichen – Voraussetzungen zu erfüllen (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 26.02.1993 – 8 C 35.92 – zu § 133 Abs. 1 BauGB). Es reicht danach aus, dass es in der Verfügungsmacht des Eigentümers des Hinterliegergrundstücks steht, auf Grundlage einer bestellten Grundschuld die für eine aktuelle Bebaubarkeit des Grundstücks aufgestellten Voraussetzungen zu erfüllen.

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen (VG) vom 16.11.2022 – 10 K 4740/20 – wird abgelehnt. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 9 578,75 € festgesetzt.


Gründe

[1] Der auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das VG-Urteil hat keinen Erfolg.

[2] I. Der Kläger wendet sich gegen die Erhebung eines Erschließungsbeitrags für sein 759 qm großes Grundstück Flst. Nr. xxxxx in B., das mit einem Wohnhaus nebst Doppelgarage bebaut ist.

[3] Das Grundstück grenzt mit seiner Nordostseite an das gemeindeeigene Grundstück Flst. Nr. 112/2, auf dem sich eine – nach Angaben der Beklagten nicht als öffentliche Verkehrsfläche gewidmete – Zuwegung zur einige Meter tiefer liegenden Ortsdurchfahrt der Bundesstraße xx befindet. Bis Ende der 1970iger Jahre grenzte das Grundstück im Süden bzw. Westen unmittelbar an das Wegegrundstück Flst. Nr. 167/2, über das ein Privatweg zum Wohnhaus des Klägers führte und auf Höhe des Garagenanbaus in die oben erwähnte Zuwegung mündete.

[4] Im Jahr 1979 wurde ein 183 qm großes Teilstück vom Grundstück des Klägers und dem angrenzenden Wegegrundstück Flst.Nr. 167/2 weggemessen, als Grundstück Flst.Nr. 167/13 in das Liegenschaftskataster eingetragen und veräußert. Zu Gunsten des klägerischen Grundstücks wurde dabei eine Grunddienstbarkeit (Geh- und Fahrrecht) in das Grundbuch eingetragen. Die im notariellen Kaufvertrag enthaltene Bewilligung hat folgenden Wortlaut:

[5] Der Erwerber räumt dem jeweiligen Eigentümer des Grundstücks

Flst. Nr. xxxxx… (= klägerisches Grundstück) als Zugang zu seinem Grundstück ein unbeschränktes Geh- und Fahrrecht auf dem Grundstück Flst. Nr. 167/13 ein. Der Weg darf nicht verstellt werden. Eine Gegenleistung ist nicht zu entrichten.

[6] Die Beklagte erwarb im Jahr 1979 das private Wegegrundstück Flst. Nr. 167/2 und widmete den Stichweg unter Beschränkung auf den Anliegerverkehr als Gemeindestraße. Auf Grundlage des Bebauungsplans xxxxx der Beklagten beschloss ihr Gemeinderat am 22.01.2019 die endgültige Herstellung dieses Stichwegs (ehemaliger Privatweg). Die Schlussrechnung für die technische Herstellung der Erschließungsanlage ging bei der Beklagten im Dezember 2019 ein.

[7] Mit Bescheid vom 10.07.2020 setzte die Beklagte für das Grundstück des Klägers einen Erschließungsbeitrag i. H. v. 9 578,75 j für die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage – Stichweg G.-Straße – fest. Zur Begründung stellte die Beklagte darauf ab, dass ein Erschließungsvorteil für das Grundstück gegeben sei, weil die Zufahrt über das private Anliegergrundstück Flst.Nr. 167/13 durch Grunddienstbarkeit gesichert sei.

[8] Die nach Durchführung des Vorverfahrens vom Kläger erhobene Klage hat das VG mit dem angegriffenen Urteil abgewiesen. Zur Begründung hat es darauf abgestellt, dass das Grundstück des Klägers durch den streitgegenständlichen Stichweg i. S. v. § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG erschlossen werde und darüber hinaus auch die Beitragspflicht gem. § 40 KAG entstanden sei.

[9] II. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) rechtfertigt die Berufungszulassung nicht.

[10] 1. Ohne Erfolg wendet sich die Antragsschrift gegen die Annahme des VG, das Wohngrundstück des Klägers werde durch die hier abgerechnete Erschließungsanlage i. S. d. § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG erschlossen.

[11] a) Nach § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG werden durch eine Anbaustraße Grundstücke erschlossen, denen diese Anlage die wegemäßige Erschließung vermittelt, die das Bauplanungsrecht als gesicherte Erschließung für die bestimmungsgemäße Nutzung verlangt. Die Vorschrift des § 40 KAG regelt weiter, dass erschlossene Grundstücke im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile der Beitragspflicht unterliegen, wenn und soweit sie baulich, gewerblich oder in vergleichbarer Weise genutzt werden dürfen.

[12] Mit diesen Vorschriften knüpft der Landesgesetzgeber erkennbar an die Systematik an, die bereits dem bundesrechtlichen Erschließungsbeitragsrecht (vgl. dazu § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB und § 133 Abs. 1 BauGB) zugrunde lag. Danach betrifft § 39 Abs. 1 KAG die sog. Verteilungsphase. Das Merkmal „erschlossen“ dient in diesem Zusammenhang der Abgrenzung zwischen den einer baulichen (oder erschließungsbeitragsrechtlich vergleichbaren) Nutzung nicht entzogenen Grundstücken, die von einer bestimmten beitragsfähigen Erschließungsanlage zumindest einen latenten Vorteil haben und denen deshalb Kostenanteile der Anlage zugeschrieben werden, und den Grundstücken, die keinen beitragsrechtlich relevanten Erschließungsvorteil haben.

In der sog. Heranziehungsphase, auf die sich § 40 KAG bezieht, ist – weitergehend – die Frage zu beantworten, ob einem i. S. d. § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG erschlossenen Grundstück ein aktueller Erschließungsvorteil vermittelt wird, der es rechtfertigt, von dessen Eigentümer schon jetzt einen Beitrag zu verlangen (vgl. zum Ganzen: VGH BW, Urt. v. 19.06.2012 – 2 S 3312/11 – juris Rn. 24; vgl. auch Driehaus/Raden, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 11. Aufl., § 23 Rn. 23).

[13] Vor dem Hintergrund dieser Systematik ist zwar grundsätzlich von einer Deckungsgleichheit des Erschlossenseins i. S. v. § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG einerseits und der Beitragspflicht des § 40 KAG andererseits auszugehen. In bestimmten Konstellationen kann sich jedoch aus § 40 KAG ein zeitliches „Fälligkeits“-Hindernis ergeben, das vorübergehend eine Beitragserhebung für ein nach § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG erschlossenes Grundstück ausschließt. Dies ist dann der Fall, wenn das fragliche Grundstück nach Maßgabe der bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Bestimmungen zwar abstrakt bebaubar ist, eine Benutzung der Erschließungsanlage jedoch noch durch ausräumbare rechtliche oder tatsächliche Hindernisse ausgeschlossen ist.

Solange ein solches Hindernis nicht ausgeräumt ist, fehlt es am Erschlossensein i. S. v. § 40 KAG mit der Folge, dass das betreffende Grundstück noch nicht der Beitragspflicht unterliegt. Erschlossen i. S. d. § 40 KAG ist demnach ein Grundstück grundsätzlich erst dann, wenn ein entgegenstehendes rechtliches oder tatsächliches Hindernis nicht nur – wie für § 39 Abs. 1 Satz 1 KAG ausreichend – ausräumbar, sondern ausgeräumt ist (vgl. VGH BW, Beschl. v. 17.11.2022 – 2 S 290/22 – juris Rn. 44; Urt. v. 19.06.2012 – 2 S 3312/11 – juris Rn. 25; für das bundesrechtliche Erschließungsbeitragsrecht vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 27.09.2006 – 9 C 4.05 – juris Rn. 27).

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.02.2023 – 2 S 2691/22 –.

 

Entnommen aus der Gemeindekasse Baden-Württemberg 6/2023, Rn. 22.

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