14.07.2023

Entschädigung wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens

Urteil des Bundessozialgerichts

Entschädigung wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens

Urteil des Bundessozialgerichts

Die Anrechnung einer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens gezahlten Entschädigung kann zum Streitfall werden | © Brian Jackson - stock.adobe.com
Die Anrechnung einer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens gezahlten Entschädigung kann zum Streitfall werden | © Brian Jackson - stock.adobe.com

Die Entschädigung wegen eines infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlittenen immateriellen Nachteils wird aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift zu einem ausdrücklichen Zweck erbracht und ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen. So urteilte das Bundessozialgericht.

§§ 11, 11a SGB II; § 198 GVG

Grundsicherung für Arbeitsuchende; Einkommen; Entschädigung wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens


Die Entschädigung wegen eines infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlittenen immateriellen Nachteils wird aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift (§ 198 Abs. 2 Satz 1 GVG) zu einem ausdrücklichen Zweck erbracht und ist nach § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Der Ausgleich eines immateriellen Nachteils durch Zahlung unterfällt nicht der Rückausnahme des § 11a Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 SGB II. Eine Zweckidentität ist nicht gegeben, weil das SGB II für immaterielle Schäden keine Leistungen vorsieht. Der immaterielle Schadensausgleich dient einem anderen Zweck als der Sicherung des Lebensunterhalts.

BSG, Urteil vom 11. 11. 2021 – B 14 AS 15/20 R

Aus den Gründen

1. Im Streit ist die Aufhebung und Erstattung von Alg II für Juni bis September 2017 wegen der Anrechnung einer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens gezahlten Entschädigung für einen Nichtvermögensnachteil. Die Klägerin lebt zusammen mit ihrem Ehemann, der seit 2015 Leistungen nach dem SGB XII bezieht. Zwischen ihnen und dem hier beklagten Jobcenter war in der Vergangenheit die Höhe der zu berücksichtigenden Aufwendungen für Unterkunft und Heizung streitig gewesen. Nach Abschluss eines dazu geführten Gerichtsverfahrens (i. F.: Ausgangsverfahren) klagten die Klägerin und ihr Ehemann wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens.

Dieser Rechtsstreit endete mit einem Vergleich, in dem sich das dort beklagte Land verpflichtete, an die Klägerin und ihren Ehemann jeweils eine Entschädigung für immaterielle Nachteile i. H. v. 2 100 € auf das Konto des Prozessbevollmächtigten zu zahlen. Dem Konto der Klägerin wurden davon im Mai 2017 3 000 € gutgeschrieben. Mit Änderungsbescheid v. 26.11.2016 hatte der Beklagte der Klägerin Alg II von Januar bis Dezember 2017 i. H. v. monatlich 206,74 € bewilligt. Auf die Anpassung ihrer Erwerbsminderungsrente zum 1.7.2017 hatte er u. a. für Juli bis September 2017 nur noch monatlich 199,49 € zuerkannt sowie für Juli und August 2017 die Erstattung des Aufhebungsbetrags verlangt (Bescheide v. 27.7.2017). Nach Erhalt der Kontoauszüge über die Gutschrift der 3 000 € hörte der Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten vollständigen Aufhebung der Bewilligung für Juni bis September 2017 und Erstattung der Leistungen an. Die angekündigten Entscheidungen setzte er gestützt auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X um (Bescheid v. 18. 9. 2017; Widerspruchsbescheid v. 2. 11. 2017).

LSG hob die Entscheidung des SG auf

Das SG hat den Bescheid v. 18.9.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 2.11.2017 aufgehoben. Das LSG hat die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Zahlung wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens sei anzurechnendes Einkommen. § 11a Abs. 2 SGB II sei nicht entsprechend anzuwenden, weil die Entschädigung nach § 198 GVG nicht für die Verletzung eines der von § 253 Abs. 2 BGB erfassten Rechtsgüter oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gezahlt werde. Sie sei nicht zweckbestimmt i. S. v. § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II, weil sie nicht final „zu etwas“ geleistet werde und die Klägerin in ihrer Verwendungsentscheidung frei sei. Ein Auswechseln der Rechtsgrundlage zu § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X für Juli bis September 2017 sei zulässig.

Zahlung wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens ohne Auswirkung auf die Hilfebedürftigkeit

2. Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. Der Beklagte hat die Bewilligung von Alg II zu Unrecht aufgehoben und dessen Erstattung verlangt. Die Zahlung wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens hat sich auf die Hilfebedürftigkeit der Klägerin nicht ausgewirkt. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten v. 18.9.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 2.11.2017, mit dem der Beklagte der Klägerin für Juni bis September 2017 bewilligtes Alg II ganz aufgehoben und die Erstattung der überzahlten Leistungen gefordert hat.

Die Klägerin erstrebt die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung, infolge der sie das zuletzt mit Bescheid v. 26. 11. 2016 für Juni 2017 sowie mit Bescheid v. 27.7.2017 für Juli bis September 2017 bewilligte Alg II behalten könnte. Gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wendet sich die Klägerin statthaft mit der reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG).

Der Aufhebungsbescheid des Beklagten ist zwar formell rechtmäßig. Dass der Beklagte die Bewilligung von Alg II auch für Juli bis September 2017 wegen einer Veränderung der Einkommensverhältnisse aufgehoben hat, schadet nicht.

Aufhebungs- und Erstattungsbescheid formell rechtmäßig

Allerdings wäre er zu einer Aufhebung bzw. Rücknahme der Bewilligungsbescheide nicht berechtigt gewesen, weil kein Einkommen wegen der Zahlung aus dem Vergleich anzurechnen war, den u. a. die Klägerin aufgrund der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens geschlossen hatte. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid v. 18.9.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 2.11.2017 ist formell rechtmäßig. Unschädlich ist, dass der Beklagte die Klägerin für alle streitbefangenen Monate allein zum verschuldensunabhängigen Aufhebungstatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X angehört hat.

Für die formelle Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts bezogen auf die Anhörung ist die Rechtsauffassung der Behörde maßgeblich (vgl. BSG, U. v. 29.11.2012, B 14 AS 6/12 R = BSGE 112, 221; BSG, FEVS 72, 563). Zwar hat der Beklagte die Aufhebung seines vorangegangenen Änderungsbescheids v. 27.7.2017 fehlerhaft auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützt. Mit diesem Bescheid hatte er den Bescheid v. 26.11.2016 u. a. für Juli bis September 2017 aufgehoben. Dies führt jedoch nicht zum Erfolg des Klagebegehrens.

(…)

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der FEVS 12/2022, S. 529.

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