07.08.2023

Eingliederungshilfe für die Begleitung auf einer Kreuzfahrt

Urteil des Bundessozialgerichts

Eingliederungshilfe für die Begleitung auf einer Kreuzfahrt

Urteil des Bundessozialgerichts

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Das Bundessozialgericht (BSG) hat einem körperlich behinderten Mann gegenüber dem Eingliederungshilfeträger einen Anspruch auf Leistungen zur Ermöglichung einer Urlaubsreise zugesprochen. Konkret ging es um die Übernahme der Kosten für Assistenzdienste auf einer Kreuzfahrt.

Der Leistungsberechtigte benötigte im Alltag Assistenzdienste

Geklagt hat ein 1968 geborener Mann, der schwerbehindert ist und an einer spinalen Muskelatrophie mit schweren Wirbelsäulenverbiegungen leidet. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen und bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), Leistungen der sozialen Pflegeversicherung sowie Leistungen der Hilfe zur Pflege. Er lebt in einer eigenen Mietwohnung. Seit 2002 beschäftigt er zu seiner Pflege rund um die Uhr drei Assistenten i. R. d. Arbeitgebermodells, deren Kosten der beklagte Landkreis Leipzig im Rahmen der Eingliederungshilfe trägt.

Der Mann plante eine siebentägige Nordseereise

Für die Zeit vom 02.07.2016 bis 09.07.2016 beabsichtigte der Mann eine Nordseereise auf einem Kreuzfahrtschiff mit zwei Landausflügen. Begleitet werden sollte er von einem seiner Assistenten. Im April 2016 beantragte er bei dem Landkreis die Erstattung der Kosten für die Begleitperson i. H. v. insgesamt 2.015,50 €. Seine eigenen Reisekosten wolle er selbst tragen.


Eingliederungsmaßnahme versus Erholung

Der Landkreis lehnte den Antrag ab. Es handele sich bei der Urlaubsreise nicht um eine Eingliederungs-, sondern um eine Erholungsmaßnahme. Die Reise unterfalle den Bedürfnissen der allgemeinen Lebensführung und sei daher nicht von dem Eingliederungshilfeträger zu finanzieren. Unterdessen unternahm der Mann im Juli 2016 die einwöchige Urlaubsreise in Begleitung seines Assistenten.

BSG konnte einen Anspruch auf Kostenerstattung nicht ausschließen

Nach Einschätzung des BSG war ein Anspruch des Mannes auf Erstattung der geltend gemachten Kosten nicht auszuschließen und es verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück an das Sächsische Landessozialgericht (LSG). Der Anspruch kommt in Betracht, soweit der Urlaub behinderungsbedingt durch die Notwendigkeit einer Begleitperson Mehrkosten verursacht. Das BSG konnte aber mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen durch das LSG als Tatsachengericht (§ 163 Sozialgerichtsgesetz – SGG) nicht abschließend beurteilen, ob der geltend gemachte Anspruch auch unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit von behinderungsbedingten Mehrkosten besteht.

Der rollstuhlpflichtige Mann erfüllte die Voraussetzungen für Eingliederungshilfe

Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Zahlung der Kosten für die Urlaubsreise der Begleitperson als Leistung der Eingliederungshilfe ist § 19 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (Sozialhilfe – SGB XII) i. V. m. §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und § 55 Abs. 2 Nr. 7 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – SGB IX, jeweils a. F.). Der Mann erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Nach § 53 Abs. 1 SGB XII a. F. erhalten Personen, die durch eine Behinderung wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach den Besonderheiten des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Der Mann ist auf einen Rollstuhl angewiesen und damit wesentlich in seiner Fähigkeit eingeschränkt, an der Gesellschaft teilzuhaben.

Die Finanzierung von Begleitpersonen ist gesetzlich geregelt

Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden auf Grundlage von § 54 Abs. 1 SGB XII i. V. m. § 55 Abs. 1 SGB IX a. F. die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 des SGB XII nicht erbracht werden. Zu diesen Leistungen gehören nach § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX a. F. Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Bzgl. der Kosten einer Begleitperson bestimmt § 60 SGB XII a. F.  i. V. m. § 22 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO a. F. näher, dass zum Bedarf des behinderten Menschen bei Maßnahmen der Eingliederungshilfe erforderlichenfalls die notwendigen Fahrtkosten und die sonstigen mit der Fahrt verbundenen notwendigen Ausgaben der Begleitperson gehören.

Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wird auch in der Freizeit verwirklicht

Die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erfassen auch Leistungen, denen als Teilhabeziel das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung zugrunde liegt. Das hier in Rede stehende Bedürfnis nach Urlaub und Erholung bei einer Kreuzfahrt fällt unter den Begriff der Freizeitgestaltung und ist damit im Grundsatz ein soziales Teilhabebedürfnis. Zum denkbaren Eingliederungshilfebedarf gehören allerdings nur die im Einzelfall notwendigen behinderungsbedingten Mehrkosten. Das allgemeine Bedürfnis nach selbstbestimmter Freizeitgestaltung besteht dagegen bei behinderten wie nicht behinderten Menschen in gleicher Weise und löst für sich genommen regelmäßig noch keinen behinderungsbedingten Bedarf aus. Behinderungsbedingte Mehrkosten für die Freizeitgestaltung können im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen werden.

§ 55 Abs. 2 SGB IX a. F. („insbesondere“) normiert einen offenen Leistungskatalog für die Eingliederungshilfe. Die Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft konkretisiert § 58 SGB IX a. F. näher. Ein über die Kommunikation mit anderen Menschen hinausgehendes Teilhabebedürfnis nach Freizeit lässt sich bereits aus dem weiteren Regelbeispiel in § 58 Nr. 2 SGB IX a. F. (Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen) ableiten. Freizeit ist zu definieren als die Zeit, über die frei verfügt und die selbstbestimmt gestaltet werden kann, da sie nicht durch fremdbestimmte Verpflichtungen oder zweckgebundene Tätigkeiten geprägt ist. In ihrer Freizeit können Menschen sozialen, sportlichen, kulturellen, kreativen, bildenden und rekreativen Aktivitäten individuell oder gemeinschaftlich nachgehen.

Freizeit hat nicht nur Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung eines behinderten wie eines nicht behinderten Menschen, sondern erweitert auch den möglichen Spielraum sozialer Teilhabe (vgl. BT-Drs. 19/27890, S. 617). Diese Auslegung gebietet schließlich auch das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG niedergelegte Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung. Die Verfassungsnorm beinhaltet einen Förderauftrag und vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Alltagsleben, wozu auch Urlaub und Freizeit zählen.

Die begehrte Leistung muss auch angemessen sein

Dabei zielt das in § 58 Nr. 2 SGB IX a. F. angelegte Verständnis von Hilfen zur Freizeitgestaltung gerade auch auf die Kosten für notwendige Assistenzleistungen ab. Ob die hier geltend gemachte Assistenz bei der Kreuzfahrt notwendig i. S. d. § 4 Abs. 1 SGB IX ist, kann anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG jedoch nicht beurteilt werden. Daher ist im Einzelfall jede geeignete Eingliederungsmaßnahme darauf zu untersuchen, ob sie unentbehrlich zum Erreichen der Leistungsziele ist. Maßstab für berechtigte, also angemessene und den Gesetzeszwecken und -zielen entsprechende Wünsche (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, § 9 Abs. 2 SGB XII) sind die Bedürfnisse eines nicht behinderten und nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen. Hierbei gilt ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der einer pauschalierenden Betrachtung regelmäßig entgegensteht. Begrenzt wird das Wunschrecht des Betroffenen dadurch, dass der Träger der Sozialhilfe i. d. R. Wünschen nicht zu entsprechen hat, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. In dieser Regelung findet auch der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit seinen Ausdruck.

(…)

Bundessozialgericht, Urteil vom 19.05.2022 – B 8 SO 13/20 R –.

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der Fundstelle Baden-Württemberg 3/2023, Rn. 37.

 

Dr. Martin Kellner

Richter am Sozialgericht Freiburg i. Br.
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