03.06.2022

Die Wähler haben gesprochen, aber nichts entschieden

Kritische Überlegungen zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen

Die Wähler haben gesprochen, aber nichts entschieden

Kritische Überlegungen zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen

Dem Wahlrecht im Bund wie in NRW bedarf es einer grundlegenden Reform.  | © Juergen1965 - stock.adobe.com
Dem Wahlrecht im Bund wie in NRW bedarf es einer grundlegenden Reform.  | © Juergen1965 - stock.adobe.com

Genau genommen gab es in Nordrhein-Westfalen keine wirklichen Wahl-Sieger. Die CDU ist bei der Landtagswahl von 15. Mai 2022 mit 35,9 Prozent der Zweitstimmen wohl stärkste Partei geworden, konnte aber nur etwas mehr als ein Drittel der aktiven Wähler hinter sich bringen, um von der erschreckend niedrigen Wahlbeteiligung (56 Prozent) gar nicht zu reden. Fast die Hälfte der Wähler nahm an der Abstimmung gar nicht teil. In NRW zeigt sich einmal mehr: Die parlamentarische Demokratie ist nur im Ausnahmefall eine Herrschaft von absoluten Mehrheiten. Fast immer wird der Volkswille irgendwie aus Bündnissen von Minderheiten „zusammengewürfelt“. Dabei kann die stärkste Kraft des Wahlvolkes auf der Strecke bleiben. – In NRW ist auch das durchaus im Bereich der Möglichen.

Dementsprechend ist die Frage, wer mit wem in NRW die Regierung stellen kann, offengeblieben. Das Wahlvolk hat gesprochen. Doch eine Entscheidung ist dabei nicht gefallen. Die CDU kann mit den Grünen eine Koalition eingehen. Die SPD aber auch mit den Grünen und den Liberalen eine sog. „Ampelkoalition“ bilden. Hier zeigt sich erneut, dass die Abstimmung über die Landeslisten der Parteien keineswegs „besser und gerechter“ ist als die klassischen Direktwahl der Abgeordneten in Wahlkreisen. Denn die sog. Verhältniswahl führt nur selten zu absoluten Mehrheiten der Mandate einer Partei. Hier wie dort herrscht daher das Prinzip der einfachen Mehrheit: „Gewinner der Wahl“ ist, wer die meisten Stimmen hat. – Wie sich in NRW gezeigt hat, ist selbst das in der Verhältniswahl keineswegs sicher.

Erschwerend kommt noch etwas hinzu: Ähnlich wie im Bund wird auch in NRW „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ mit zwei Stimmen gewählt, mit der Erst- und der Zweitstimme. (Vgl. § 1 BWahlG) Zwei Stimmen sind aber immer auch zwei Wahlen, die beide zu verschiedenen Wahlergebnissen führen. Es handelt sich bei den direkt gewählten Abgeordneten allerdings um eine verbundene Doppelwahl, die auch als „personalisierte Verhältniswahl“ bezeichnet wird. Obwohl niemand physisch zweimal im Parlament sitzen kann, wird dieser Teil der Abgeordneten zweimal gewählt: einmal mit der Erst- und noch einmal mit der Zweitstimme. Die Doppelwahl führt aber nur zu einem Mandat. Man kann insoweit auch von einer Hybrid-Wahl sprechen.


Kurzum, der Landtag in Düsseldorf besteht regulär aus 181 Mitgliedern. Das gesamte Wahlgebiet ist aber nur in 128 Wahlkreise aufgeteilt. Es verbleiben also von vorne herein 53 Abgeordnete, die nicht über beide Stimmen, sondern nur über eine, nämlich die Zweitstimme in den Landtag gelangen. Für eine unverkürzte Doppelwahl gibt es gar nicht genug Wahlkreise. Man kann also auch in NRW von vorne herein nur von einer „teilpersonalisierten“ Verhältniswahl reden. Werden davon abgesehen beide Stimmen nicht im Verbund abgegeben, sondern voneinander getrennt, können – im Extremfall – zu den 181 Mitgliedern des Landtags noch einmal – maximal – 128 Listenplätze hinzukommen, die von den 128 Direktmandaten abgespalten wurden. Die Doppelwahl aus Erst- und Zweitstimme löst sich dabei in ihre verschiedenen Bestandteile auf: Neben den 53 gewöhnlichen Listenplätzen können – natürlich nur im Extremfall – zusätzlich bis zu 128 Listenplätze hinzutreten, die von den 128 Direktmandaten system- widrig abgetrennt wurden. – Aus diesem „Stimmensplitting“ ergeben sich mal mehr, mal weniger sog. „Überhänge“. – Klingt hochkompliziert und ist es ja auch.

Stellt man die Erststimmen den Zweitstimmen für die einzelnen Parteien gegenüber, lässt sich das Stimmensplitting quantifizieren. Für NRW ergibt sich dabei folgendes Bild: 55.480 CDU-Wähler haben ihre Erststimmen den Wahlkreis-Bewerbern der CDU gegeben, gleichzeitig der CDU als Partei die Zweitstimme aber verweigert. Bei der SPD haben mehr als dreimal so viele, nämlich 187.782 Wähler mit der Erststimme den SPD-Bewerber gewählt, zugleich aber seiner Partei die Zweitstimme abgeschlagen. Bei der FDP war es umgekehrt. Hier gab es nur 28.364 Splitting-Wähler, die der FDP die Zweitstimme zukommen ließen, aber nicht dazu bereit waren, die FDP-Bewerber in den Wahlkreisen mit der Erststimme zu wählen. Bei den Grünen spielte das Stimmensplitting die geringste Rolle. 28.364 Wähler gaben den Grünen die Zweitstimme, nicht aber die Erststimme.

Im Landtag sind es deshalb statt 181 tatschlich 195 Mitglieder geworden, die nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis vermutlich in den Landtag einziehen werden. Zu den 181 Mandaten kommen also „nur“ 14 weitere hinzu, unter denen es aber keine zusätzlichen Direktmandate mehr geben kann, weil die Zahl der 128 Wahlkreise eine unveränderliche Größe ist. Bei den 14 Mandaten handelt es sich zusammengenommen um die sog. „Überhänge“ und um Ausgleichsmandate. „Ausgleichssitze sind Zusatzsitze“. (Vgl. Scheiber, BWahlG 2017, § 6, Rdnr. 29.) Überhänge sind das nicht. Sie sind in den 128 Direktmandaten enthalten, und man muss sich davor hüten, sie zweimal zu zählen wie der NRW-Wahlleiter das tut: einmal als gewönliche Direktmandate und noch einmal als Überhänge, die in den 128 Direktmandaten bereits enthalten sind.

Erlangt eine Partei mit den Erststimmen mehr Direktmandate als Listenplätze mit den Zweitstimmen, wird der Unterschied nach geltendem Recht – warum auch immer – durch Bonusmandate für diejenigen Parteien ausgeglichen, die weniger Direktmandate als Listenplätze errungen haben. Die sog. „Überhangmandate“ sind also keine zusätzlichen Direktmandate und schon gar keine Zusatzsitze, die einem direkt gewählten Abgeordneten in Wahrheit gar nicht zustehen, wie das landauf landab fälschlich unterstellt wird. Überhänge sind vielmehr „Unterschiedszahlen“, wie es im Gesetz heißt, die sich aus der gespaltenen Doppelwahl ergeben. (Vgl. § 6 Abs. 5 BWahlG) Und bis 2013 wurde dies bei den Bundestagswahlen ohne Ausgleich allgemein akzeptiert. Aber das hier nur nebenbei.

Wie der Landeswahlleiter festgehalten hat, erlangte die CDU 76, die SPD 45 und die Grünen 7 der insgesamt 128 Direktmandate aus den Erststimmen. Bei den Zweitstimmen kam die CDU ebenfalls auf 76 Listenplätze. Hier gab es also keine Unterschiedszahl. Bei der SPD fielen 56, bei den Grünen 39 Listenplätze an. Die Direktmandate waren also in beiden Fällen gar nicht in der Überzahl, sondern in der Unterzahl. Und das muss stutzig machen. Denn so gesehen wäre für Überhänge gar kein Raum. Gibt es keine Überhänge, macht auch der Ausgleich keinen Sinn. Hier besteht also weiterer Klärungsbedarf.

Bleibt es im endgültigen Wahlergebnis dabei, könnte man die ansonsten dringliche Verfassungsfrage vernachlässigen, ob es überhaupt möglich ist, das Wahlergebnis ohne weiteres Zutun der Wähler nachträglich zu verändern, zu „verbessern“ oder „auszugleichen“. Die Abgeordneten werden vom Wahlvolk in unmittelbarer, freier und in gleicher Urabstimmung eigenständig ausgewählt. Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Wer nach der Wahl das Wahlergebnis über den Kopf der Wähler hinweg ausgleicht, der verfälscht es auch. Leider bestand bisher wenig Neigung, sich damit auseinanderzusetzen.

Das Verfassungsgericht hat zwar gesagt, dass 15 Überhänge im Bund gerade noch zulässig seien und des Ausgleichs nicht bedürfen. (Vgl. BVerfG v. 10.4.1997, BVerfGE 95, 335.) Es hat aber auch angedeutet, dass mehr als 15 Überhänge möglich seien, wenn sie ausgeglichen würden. Damit hat sich das Gericht darüber hinweggesetzt, dass Überhänge gar keine konkreten Mandate, sondern Abstände zwischen den Direktmandaten und den Listenplätzen einer Landespartei sind. Weiter verkennt das Gericht die Rechtsnatur des Mandatsausgleichs, der nur möglich ist, wenn der Wähler das letzte Wort hat und durch eine Nachwahl entscheidet, wer von welcher Partei vom Ausgleich profitieren soll. „Hat der Wähler nicht das letzte Wort, hat er auch nicht das entscheidende Wort.“ (Vgl. Schmidt-Bleibtreu u.a., Grundgesetz, 2008, § 38 Rdnr. 14.)

Das Wahlrecht kann auch in NRW nicht so bleiben, wie es ist. Für den Bundestag deutet sich jedenfalls anfangsweise eine überraschende Änderung an. Die Zahl seiner Mitglieder soll um 2 Personen von 598 auf 600 Köpfe leicht erhöht und die leidigen Überhänge zusammen mit den Ausgleichsmandaten ganz unterbunden werden. Diese Eilmeldung wurde drei Tage nach der Landtagswahl in NRW im Fernsehen verbreitet. Wenn dies tatsächlich der Wille der Regierungskoalition sein sollte, muss diese Nachricht solange mit Zurückhaltung aufgenommen werden, bis sich die Details überprüfen lassen. Eine derart tiefgreifende Missbilligung der Überhänge und der Ausgleichsmandat würde früher oder später jedoch auch die Länder mit einem ähnlichen Wahlrecht erfassen.

Wie auch immer bedarf das Wahlrecht im Bund wie in NRW einer grundlegenden Reform. Dabei müssen drei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss die Zahl der 128 Wahlkreise auf die Zahl der 181 Mitglieder des Landtags in Düsseldorf angehoben werden. Anders würde die personalisierte Verhältniswahl Stückwerk bleiben. Zweitens muss Stimmensplitting weg. Es ist mit der personalisierten Verhältniswahl unvereinbar. Und bei den Ausgleichsmandaten ist die Letztentscheidung, wer von welcher Partei die nachgeschobenen Zusatzmandate erhalten soll, in die Hand der Wähler zurückzulegen. Das Volk drückt seien Willen in den Wahlen der Volksvertreter aus. Und dieses elementare Grundrecht ist unabdingbar.

 
n/a