09.01.2023

Die Grundrechtsbindung der Kommunen bei Widmungsbeschränkungen öffentlicher Einrichtungen

Zugleich Anmerkung zu BVerwG, Urt. v. 20.01.2022 – 8 C 35.20

Die Grundrechtsbindung der Kommunen bei Widmungsbeschränkungen öffentlicher Einrichtungen

Zugleich Anmerkung zu BVerwG, Urt. v. 20.01.2022 – 8 C 35.20

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

Öffentliche Einrichtungen der Kommunen bilden wichtige Foren der öffentlichen Meinungsbildung und -kundgabe, sind dabei aber häufig mit der Verrohung des Diskurses durch Hate Speech konfrontiert. Bestimmte problematische Meinungsinhalte können jedoch nach einem wegweisenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.01.2022 nicht mehr durch nachträgliche Beschränkung der Widmung der Einrichtungen ausgeschlossen werden. Das Gericht ordnet dies ohne tragfähige Begründung als Eingriff in Art. 5 Abs. 1 GG ein, der nicht gerechtfertigt werden könne. Dieser aus vielen Gründen nicht überzeugende Ansatz verursacht nicht nur zahlreiche dogmatische Systembrüche, sondern beraubt die Kommunen eines wichtigen präventiven Instruments bei der Bekämpfung menschenverachtender Äußerungen.

I. „Hate Speech“ im analogen Raum

In den vergangenen Jahren hat sich ein breiter politischer Konsens darüber gebildet, dass bestimmte Meinungsäußerungen derart massiv zur Verrohung des politischen und gesellschaftlichen Diskurses beitragen, dass sie der Regulierung bedürfen – und zwar gerade wegen ihres als problematisch empfundenen Inhalts. Konkret steht dabei die sogenannte Hate Speech im Zentrum der rechtspolitischen Diskussion. Nach einer zwar nicht mehr ganz neuen, aber auch heute im juristischen Bereich weitgehend akzeptierten[1] Definition des Ministerkomitees des Europarats werden damit „jegliche Ausdrucksformen [bezeichnet], welche Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, einschließlich der Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen ausdrücken“.[2]

Nicht zu Unrecht konzentrieren sich die gesetzgeberischen Aktivitäten auf Bundesebene und in der Europäischen Union und die rechtswissenschaftliche Diskussion auf die Hate Speech, die in digitalen Räumen, also namentlich in sozialen Netzwerken, geäußert wird. Denn deren technische Funktionsweise verschärft die psychologischen Mechanismen, die eine Verrohung des Diskurses begünstigen.[3] Gleichwohl zeigen nicht nur die Coronaspaziergänge“ des vergangenen Winters eindrücklich, dass dieser Fokus die Sicht auf das Problem in seiner ganzen Breite nicht verengen darf. Hate Speech findet eben nicht nur in digitalen, sondern auch in „analogen“ Räumen statt.


Zu diesen analogen Räumen zählen nicht nur öffentliche Straßen und Plätze, sondern auch Säle und andere Räumlichkeiten, die Städte und Gemeinden als öffentliche Einrichtungen zur Verfügung stellen. Nach der Zwei-Stufen-Lehre muss bekanntlich stets eine öffentlich-rechtliche Entscheidung darüber getroffen werden, ob eine bestimmte öffentliche Einrichtung für eine bestimmte Veranstaltung zur Verfügung gestellt werden kann oder nicht.[4] Hier fungieren die Kommunen daher als den Internetintermediären durchaus vergleichbare Gatekeeper. Dies gilt auch für die Widmung der öffentlichen Einrichtung, die deren Zweck mehr oder weniger abstrakt-generell festlegt und damit die Zulassungsentscheidung im Einzelfall im Wesentlichen vorsteuert.[5] Gerade bei Räumlichkeiten, die prinzipiell auch für politische Versammlungen gewidmet sind – Stadthallen als Beispiel par excellence –, stehen Städte und Gemeinden vor denselben Fragen wie Meta & Co.: Welche Meinungsäußerungen überschreiten die Schwelle zur Hate Speech und sind derart intolerabel, dass man ihnen nicht auch noch ein öffentliches Forum zur Verfügung stellen darf?[6]

In diesen Gesamtkontext ist der Umgang der bayerischen Landeshauptstadt München mit der sogenannten BDS-Kampagne eingebettet, der der hier zu besprechenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 20.01.2022 zugrunde liegt.[7] Die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions) ruft zu einem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Boykott des Staates Israel auf, zur Beendigung wirtschaftlicher Kooperationen mit und der Investitionen in Israel und zu Sanktionen gegen den Staat, dem sie ethnische Säuberungen in der Vergangenheit und eine Apartheidspolitik gegen die arabische Bevölkerung Israels und der palästinensischen Gebiete vorwirft; erklärtes Ziel der Kampagne ist es, „die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes“ zu beenden.[8]

Politikwissenschaftler*innen ordnen die BDS-Kampagne daher als antisemitisch ein.[9] Dementsprechend liegt es nicht fern, ihre Botschaft unter den Begriff der Hate Speech zu subsumieren. Daher fasste der Münchener Stadtrat im Dezember 2017 den Beschluss, wonach „Organisationen und Personen, die Veranstaltungen in städtischen Einrichtungen durchführen wollen, welche sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben, […] von der Raumüberlassung bzw. Vermietung von Räumlichkeiten ausgeschlossen werden“.[10] So kam es, wie es kommen musste: Der Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens auf Überlassung eines Saales im Stadtmuseum München für eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? – Der Stadtratsbeschluss vom 13.12.2017 und seine Folgen“ wurde abgelehnt.

Seine Verpflichtungsklage wies das Verwaltungsgericht München ab,[11] in der Berufung aber sprach der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) die (geringfügig) geänderte Klageforderung zu.[12]

II. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts

Der für das Kommunalrecht zuständige 8. Revisionssenat des BVerwG hat die Revision der Stadt München zurückgewiesen und den BayVGH nicht nur im Ergebnis, sondern auch in weiten Teilen der Begründung – zum Teil wortgleich – bestätigt.

Während die knappen Ausführungen des 8. Senats zu Voraussetzungen und Umfang des Anspruchs auf Zulassung zu einer kommunalen öffentlichen Einrichtung im Rahmen ihrer Widmung (§ 30 Abs. 1 Halbs. 1 NKomVG; Art. 21 Abs. 1 Satz 1 BayGO) lediglich Allgemeinplätze des Kommunalrechts bekräftigen,[13] lassen seine Erwägungen zur Rolle der Grundrechte des Grundgesetzes in diesem Fall aufhorchen.

Der 8. Senat setzt in einem ersten Schritt seine mit der vielbeachteten Grabmal-Entscheidung von 2013 zu Art. 12 Abs. 1 GG eingeschlagene[14] und von den Oberverwaltungsgerichten verschiedentlich aufgegriffene[15] Linie fort und erblickt in der nachträglichen Beschränkung der Widmung der städtischen Veranstaltungsräume in München (erstmals) einen Eingriff in die Meinungsfreiheit der abgewiesenen Petenten (dazu III.).[16]

Diesen Eingriff hält das BVerwG mangels eines allgemeinen Gesetzes, auf das er sich stützten könnte, für verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt (dazu IV.).[17] Weitere Grundrechte, darunter den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, hält das BVerwG für im Wege der Grundrechtskonkurrenz verdrängt.[18]Dabei weist gerade Art. 3 Abs. 1 GG den Weg zu einer weitaus überzeugenderen Lösung, als sie die Obergerichte in diesem Fall gefunden haben (dazu V.). Abschließende Betrachtungen zum Kontext und zu den Weiterungen der Entscheidung runden den Beitrag ab (dazu VI.).

III. Eine nachträgliche Widmungsbeschränkung als Eingriff in die Meinungsfreiheit?

Die entscheidende Weichenstellung seines Urteils nimmt das BVerwG dadurch vor, dass es die nachträgliche Beschränkung der Widmung der städtischen Räumlichkeiten als Eingriff in die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG einordnet.

Hierzu führt es im Obersatz aus:

„Die Meinungsfreiheit ist nicht erst dann berührt, wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten selbst eingeschränkt oder untersagt wird. Es genügt, dass nachteilige Rechtsfolgen daran geknüpft werden.“[19] Der widmungsbeschränkende Stadtratsbeschluss „unterbindet Meinungsäußerungen zur BDS-Kampagne zwar nicht unmittelbar. Er greift jedoch mittelbar in die Meinungsfreiheit ein, weil er mit dem Ausschluss von der Benutzung öffentlicher Einrichtungen eine nachteilige Rechtsfolge an die zu erwartende Kundgabe von Meinungen zur BDS-Kampagne oder zu deren Inhalten, Zielen oder Themen knüpft.“[20]

Auf den ersten Blick subsumiert der 8. Senat damit lediglich unter die weithin anerkannten Merkmale des modernen Eingriffsbegriffs, der im Gegensatz zu seinem inzwischen als „klassisch“ bezeichneten Pendant auch nicht zielgerichtete (finale) und mittelbare Beeinträchtigungen eines Freiheitsgrundrechts ausreichen lässt.[21] Der moderne Eingriffsbegriff ist zwar in der Tat sehr weit, aber keineswegs uferlos. Das BVerwG weicht aber – wie schon in seiner Leitentscheidung von 2013 im Kontext der Berufsfreiheit[22] und wie der BayVGH in der Vorinstanz[23] – dem eigentlichen Kern des Problems aus. Es geht bei der Widmungsbeschränkung nämlich lediglich um den nachträglichen Entzug eines Vorteils, den die staatliche Gewalt einmal (hier in Form der Widmung zur öffentlichen Einrichtung mit einer bestimmten Zweckbestimmung) gewährt hat. Entscheidend ist daher die Beantwortung der Frage, ob im Entzug eines solchen Vorteils bereits ein eingriffsrelevanter Nachteil liegt.[24] Hiergegen sprechen beachtliche Argumente, mit denen sich der 8. Senat jedenfalls nicht erkennbar auseinandergesetzt hat.

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Niedersächsische Verwaltungsblätter, 1/2023, S. 6.

[1] Aktuell zugrunde gelegt etwa von Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 98. Erg.-Lfg., Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 68; Raue, JZ 2022, 232, 232; Völzmann, MMR 2021, 619, 620.

[2] Europarat Ministerkomitee, Anhang zu Empfehlung Nr. R (97) 20 – Anwendungsbereich, in der englischen Fassung abrufbar unter: https://rm.coe.int/1680505d5b (letzter Aufruf am 26.10.2022).

[3] Dazu m. w. N. aus dem sozialwissenschaftlichen Schrifttum Kühling, ZUM 2021, 461, 463.

[4] Dazu zuletzt etwa NdsOVG, Beschl. v. 18.06.2018, NdsVBl. 2018, 348 Rn. 21.

[5] Grundlegend dazu Axer, Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, 1994, S. 176 – 183; siehe auch Hartmann, Kommunalrecht, in: Hartmann/Mann/Mehde, Landesrecht Niedersachsen, 3. Aufl. 2020, § 6 Rn. 54.

[6] Dazu im hiesigen Kontext auch Birner, BayVBl. 2020, 164, 167.

[7] BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237.

[8] Siehe im Einzelnen den „Internationalen Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS“ v. 09.07.2005, abrufbar unter: http://bdskampagne.de/wp-content/uploads/2005/07/050709_Internationaler-Aufruf-der-pal%C3 %A4stinensischen-Zivilgesellschaft-zu-BDS.pdf (letzter Aufruf am 26.10.2022).

[9] Etwa Baier, Antisemitismus in der BDS-Kampagne, 2021, abrufbar unter: https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/328693/antisemitismus-in-der-bds-kampagne/ (letzter Aufruf am 26.10.2022); diese Einschätzung teilte auch der Deutsche Bundestag mehrheitlich, siehe den Beschluss über einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ v. 17.05.2019, Bundestag-Plenarprotokoll 19/102, S. 12489.

[10] Mitgeteilt bei BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237; BayVGH, Urt. v. 17.11.2020, BayVBl. 2021, 159, 159 f.

[11] VG München, Urt. v. 12.12.2018 – M 7 K 18.36372 –.

[12] BayVGH, Urt. v. 17.11.2020, BayVBl. 2021, 159, mit überwiegend zust. Anm. Birner, BayVBl. 2020, 16.

[13] BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237 Rn. 13 f.

[14] BVerwG, Urt. v. 16.10.2013, BVerwGE 148, 133 Rn. 24.

[15] Namentlich vom Berufungsgericht, siehe BayVGH, Urt. v. 17.11.2020, BayVBl. 2021, 159 Rn. 50 f.; darüber hinaus etwa VGH BW, Beschl. v. 09.12.2019 – 1 S 2580/19 – Rn. 41 f.; NdsOVG, Beschl. v. 02.03.2017, NVwZ 2017, 728 = NdsVBl. 2017, 252 Rn. 15 f.; SächsOVG, Beschl. v. 05.06.2019, NVwZ-RR 2020, 507 Rn. 9.

[16] BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237 Rn. 18 f.

[17] BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237 Rn. 20 f.

[18] BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237 Rn. 22 f.

[19] BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237 Rn. 18 a. E. – Hervorhebung durch den Verfasser.

[20] BVerwG, Urt. v. 20.01.2022, NdsVBl. 2022, 237 Rn. 19 – Hervorhebung durch den Verfasser.

[21] Instruktiver Überblick bei Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 37. Aufl. 2021, Rn. 323 – 330.

[22] BVerwG, Urt. v. 16.10.2013, BVerwGE 148, 133.

[23] BayVGH, Urt. v. 17.11.2020, BayVBl. 2021, 159.

[24] So bereits Penz, KommJur 2017, 241, 243 f.

 

Dr. Stefan Drechsler

Akademischer Rat a. Z., Regensburg
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