15.06.2011

Die Europäische Bürgerinitiative

Neue Beteiligungsmöglichkeiten für Europas Zivilgesellschaft

Die Europäische Bürgerinitiative

Neue Beteiligungsmöglichkeiten für Europas Zivilgesellschaft

Mit der europäischen Bürgerinitiative mehr Demokratie und Identität für Europas 
Bürger? | © 3dpixs.com - Fotolia
Mit der europäischen Bürgerinitiative mehr Demokratie und Identität für Europas Bürger? | © 3dpixs.com - Fotolia

Die Europäische Union leide an einem Demokratiedefizit, Europas Bürger verharrten in Ohnmacht und würden permanent bevormundet – so lauten derzeit viele Schlagzeilen in der Tagespresse. Falls diese Kritik an Europa berechtigt ist, könnte ein neues Instrument Abhilfe schaffen: die Europäische Bürgerinitiative.

Das Initiativrecht, einen Rechtsakt der Union vorzuschlagen, hat im Regelfall allein die Europäische Kommission, Art. 289 Abs. 1 und 294 Abs. 2 AEUV; daran hat auch der Vertrag von Lissabon, in Kraft seit 01.12.2009, nichts geändert.

Das Europäische Parlament und der Rat, welche die Gesetze letztlich beschließen, können die Kommission nur politisch auffordern, gleichsam „anschubsen“, einen bestimmten Rechtsakt auszuarbeiten, Art. 225 und 241 AEUV. Neu ist nun, dass mit der Bürgerinitiative dieses Recht auch Europas Bürgern zusteht – ein Stück direkter Demokratie, das unser Grundgesetz auf nationaler Ebene nicht kennt. Wozu taugt das neue Instrument? Gibt es schon praktische Beispiele?


Initiative „Sonntags gehören Mami und Papi uns!“

Die erste Europäische Bürgerinitiative möchte der mittelfränkische Europaabgeordnete Martin Kastler MdEP (CSU) durchführen. Die Initiative wurde am 10.02.2010 ausgerufen (www.free-sunday.eu).

Gegenstand der Initiative soll der Schutz des Sonntags als Ruhetag in der Europäischen Union sein. Kompetenznorm hierfür könnte der soziale Schutz der Arbeitnehmer nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. b) und c) AEUV sein. Die Initiative läuft unter dem Schlagwort „Sonntags gehören Mami und Papi uns“. Kastler hat dazu bereits eine Internetkampagne ins Leben gerufen, auf deren Seite (informelle) Unterstützungsbekundungen eingetragen werden können.

Weitere Initiativen

Die Bürgerinitiative stößt schon jetzt auf breite gesellschaftliche Resonanz. Die sozialdemokratischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs (SPD und SPÖ) planen mithilfe der Bürgerinitiative die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer. Für eine gentechnikfreie Landwirtschaft durch eine weitere Bürgerinitiative positioniert sich die Umweltorganisation „Greenpeace“.

Vorgaben in den Verträgen

Zum rechtlichen Rahmen: Die Bürgerinitiative ist materiell in Art. 11 Abs. 4 EUV geregelt. Dieser verweist zur näheren Ausgestaltung von Verfahrens- und Umsetzungsbedingungen auf Art. 24 Abs. 1 AEUV. Danach werden die Bestimmungen vom Europäischen Parlament und vom Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnung festgelegt. Parlament und Rat einigten sich inzwischen auf eine Umsetzungsverordnung (EU) Nr. 211/2011 (vgl. auch PUBLICUS 2011.1, Seite 38), die am 11. 03. 2011 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde (ABl. L 65/1).

Anmeldung der Bürgerinitiative

Voraussetzung für die Anmeldung geplanter Bürgerinitiativen bei der Kommission ist neben Angaben über die Initiative die Einrichtung eines Bürgerausschusses. Ihm müssen mindestens sieben Personen angehören, die Einwohner von mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten sind. Die Einsetzung des Bürgerausschusses soll garantieren, dass die Initiativen nicht aus einer Laune heraus entstehen, sondern Substanz haben. Alle Daten und Informationen über die Bürgerinitiative werden in einem von der Europäischen Kommission zur Verfügung gestellten Online-Register veröffentlicht.

Die Kommission verweigert die Registrierung von Initiativen, die offenkundig außerhalb der Zuständigkeit der Kommission liegen, beispielsweise eine Initiative zum „Beitritt Israels“, da hierüber die Mitgliedstaaten entscheiden, Art. 49 EUV. Auch rein lokale Initiativen – man denke an Bürgerinitiativen gegen Windparks – scheiden aus, da hier der Unionsbezug fehlt. Ebenso wird eine offenkundig missbräuchliche, unseriöse oder schikanöse Initiative, etwa eine Aktion „Roma raus“, unzulässig sein, da sie gegen die Werte der Union nach Art. 2 EUV und Art. 10 AEUV verstößt.

Sammlung von Unterstützungsbekundungen

Sobald die Europäische Kommission die Bürgerinitiative registriert hat, kann die Sammlung von Unterstützungsbekundungen beginnen, entweder in Papierform mithilfe von Formularen oder elektronisch über das Internet. Für die Sammlung sind allein die Organisatoren verantwortlich; eine logistische Unterstützung durch die Kommunalbehörden – wie vergleichsweise beim Volksbegehren in Bayern – ist weder aus der Umsetzungsverordnung noch aus der allgemeinen Treuepflicht der Mitgliedstaaten in Art. 4 Abs. 3 EUV abzuleiten.

Eine erfolgreiche Bürgerinitiative benötigt mindestens eine Million Unterschriften, was 0,2 % der Unionsbevölkerung entspricht. Diese Zahl ist keineswegs zu gering, da – etwa verglichen mit dem 10 %-Quorum beim Volksbegehren in Bayern – die Mobilisierung von Menschen auf Unionsebene viel schwieriger ist, schon wegen der Sprachunterschiede. Die Initiative dient damit auch dem Minderheitenschutz, was wegen der europäischen Sozialstruktur durchaus sinnvoll ist (Stichwort Sinti und Roma, Basken).

Die Unterstützer müssen aus mindestens sieben Mitgliedstaaten stammen, also einem Viertel aller Unionsländer. Für jeden der beteiligten Mitgliedstaaten besteht ein Unterschriftenquorum, welches sich nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität aus der Anzahl der im jeweiligen Mitgliedstaat gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments, multipliziert mit der Zahl 750, ergibt. In der Bundesrepublik Deutschland besteht somit eine Mindestbeteiligung von 99 × 750 = 74.250 Unterzeichnern.

Für die Sammlung der notwendigen Unterstützerunterschriften haben die Organisatoren zwölf Monate Zeit.

Überprüfung der Unterstützungsbekundungen

Nach Sammlung der erforderlichen Zahl von 1 Million Unterstützungsbekundungen legen die Organisatoren den zuständigen nationalen Behörden die Unterstützungsbekundungen zur Überprüfung und Zertifizierung vor. Die Überprüfung der Unterschriften erfolgt stichprobenartig innerhalb von drei Monaten.

Vorlage der Bürgerinitiative

Nach der Zertifizierung der Unterstützungsbekundungen legen die Organisatoren die Bürgerinitiative der Kommission vor. Diese veröffentlicht die Initiative unverzüglich auf ihrer Website, empfängt die Organisatoren zur Erläuterung der in der Initiative angesprochenen Aspekte und legt innerhalb von drei Monaten ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen dar. Während dieser Frist führt die Kommission zusammen mit dem Parlament eine öffentliche Anhörung durch, in welcher die Organisatoren die Möglichkeit erhalten, ihre Initiative vorzustellen. Damit soll verhindert werden, dass eine Bürgerinitiative völlig folgenlos bleibt.

Entscheidung der Kommission: Annahme oder Ablehnung

Entschließt sich die Kommission dazu, einer zulässigen Bürgerinitiative nachzukommen und einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten, trägt dies dem Grundsatz des
„effet utile“ (praktische Wirksamkeit der Umsetzungsverordnung, Effizienz der Bürgerbeteiligung) Rechnung. Allerdings verbleibt ihr dabei ein breites Ermessen sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht, so dass sich die Bürgerinitiative als bloßes „Gesetzgebungsanstoßrecht“ (Begriff Epiney) darstellt. Rechtlich ist die Kommission also an eine Initiative nicht gebunden. Die politische Wirkung im Sinne eines Europas der Bürger wird die Praxis aufzeigen. In jedem Fall muss die Kommission die Anliegen sorgfältig prüfen.

Annahme der Bürgerinitiative

Die Kommission gelangt zu der Auffassung, dass die Bürgerinitiative zulässig und sinnvoll ist und einen Rechtsakt zur Umsetzung der Verträge erfordert. Sie bringt den Gegenstand der Bürgerinitiative inhaltsgleich als Vorschlag in ein förmliches Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1 i.V.m. Art. 294 AEUV ein, an dem Parlament und Rat beteiligt sind. Diesen Organen steht es dann frei, den Vorschlag der Kommission anzunehmen, abzuändern oder abzulehnen, bis hin zu einem Rechtsakt, der dem Willen der Initiatoren völlig entgegengesetzt ist.

Ablehnung der Bürgerinitiative

Die Kommission kann die Bürgerinitiative ablehnen und den Vorschlag eines Rechtsakts gänzlich unterlassen. Dazu ist eine umfangreiche Begründung erforderlich. Rechtsmittel gegen die Ablehnung dürften den Organisatoren nicht zustehen, da Art. 11 Abs. 4 AEUV nur ein subjektives öffentliches Recht auf Durchführung einer Bürgerinitiative gewährt, nicht jedoch auf ein konkretes Ergebnis.

Ergänzende plebiszitäre Demokratisierung

Die Arbeitsweise der Union beruht nach Art. 10 Abs. 1 EUV auf der repräsentativen Demokratie. Ergänzend zu diesem Grundsatz erhält die Union mit der Bürgerinitiative ein direktdemokratisches Element, welches den Unionsbürgern die Möglichkeit verleiht, aktiv am politischen Prozess teilzunehmen. Dadurch können bisher vorhandene Gestaltungsdefizite abgebaut und die demokratische Legitimation der Union gestärkt werden.

Fazit: Abbau des Demokratiedefizits

Die punktuelle Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch die Bürgerinitiative ist zum Abbau des Demokratiedefizits geeignet, zumal das nationalstaatliche Modell demokratischer Teilhabe nicht ohne weiteres auf die Union übertragbar ist. Dies gilt umso mehr, als die Bürgerinitiative einen öffentlichen Meinungsbildungsprozess auf europäischer Ebene anstoßen und damit ein europäisches kritisches Bewusstsein wecken kann, was eine wesentliche Voraussetzung für eine lebendige Demokratie darstellt.

Ausblick

Da die Vorschriften der Umsetzungsverordnung der Bürgerinitiative zum 01.04.2012 Gültigkeit erhalten, wird der offizielle Start der Bürgerinitiativen erst ab diesem Zeitpunkt möglich sein. Die Wirkung und die öffentliche Akzeptanz der Bürgerinitiativen dürfen bis dahin mit Spannung erwartet werden.

 

Martin Bartenschlager

Ehemaliger Student an der FHVR Hof - Dem Beitrag liegt ein Auszug aus seiner Diplomarbeit zugrunde.
 

Prof. Dr. Peter Schäfer

LL.M., Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern
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