15.06.2011

Arbeitnehmerfreizügigkeit umgesetzt

EU-8 seit 01.05.2011 vollwertige Familienmitglieder

Arbeitnehmerfreizügigkeit umgesetzt

EU-8 seit 01.05.2011 vollwertige Familienmitglieder

Grenzüberschreitender Arbeitsmarkt: Freizügigkeit für 
EU-8-Arbeitnehmer seit 1. Mai. | © Franz Pfluegl - Fotolia
Grenzüberschreitender Arbeitsmarkt: Freizügigkeit für EU-8-Arbeitnehmer seit 1. Mai. | © Franz Pfluegl - Fotolia

Bis neu hinzugekommene Familienmitglieder voll anerkannt werden, dauert es mitunter etwas. Man denke z. B. an die eingeheiratete Tochter/den eingeheirateten Sohn. Des Weiteren an die Familie „Gemeinde“, bei der Neuhinzugezogene nicht sofort das Wahlrecht erhalten (vgl. z. B. für Bayern: Art. 1, Art. 21 GLKrWG).

Im Jahr 2004 wurde die Familie der Europäischen Union um 10 Mitgliedstaaten erweitert. Die neuen Familienmitglieder waren Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Slowakei (EU-8) sowie Malta und Zypern. Letztere kamen sofort in den Genuss eines vollwertigen Familienstatus’. Hingegen waren die EU-8 bis dato in Deutschland keine Familienmitglieder mit allen Rechten.

Deutschland hatte nämlich Bedenken, dass bei einer sofortigen Arbeitnehmerfreizügigkeit der EU-8 der deutsche Arbeitsmarkt die erwarteten neuen Arbeitnehmer kaum verkraften würde (bei Malta und Zypern waren diese Bedenken offensichtlich nicht vorhanden). Es machte deshalb von einer Klausel im Beitrittsvertrag mit den EU-8 Gebrauch, wonach die alten Mitgliedstaaten den Arbeitsmarktzugang von Neu-Unionsbürgern während einer dreiphasigen, insgesamt siebenjährigen Übergangsfrist („2+3+2“-Modell) beschränken können. Deutschland schöpfte die zulässige Übergangsfrist voll aus.


Das bedeutete, dass bis 30.04.2011 ein Angehöriger der EU-8 bei einem inländischen Arbeitgeber nur arbeiten durfte, wenn er eine (meist aufwändig zu erlangende) Arbeitserlaubnis der Bundesagentur für Arbeit – BA – hatte. Zum 01.05.2011 sind die Übergangsregelungen nun nicht mehr anzuwenden.

Daneben zum gleichen Zeitpunkt gefallen ist auch die kleine Bastion der Restbeschränkungen bei Arbeitnehmerentsendungen von EU-8 nach Deutschland, die bisher für bestimmte Branchen galten (vgl. Annex).

Geltung des deutschen Arbeitsrechts

Für die Beschäftigung von Unionsbürgern bei einem inländischen Arbeitgeber gilt grundsätzlich das deutsche Arbeitsrecht. Das sind z. B. die Bestimmungen über Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Entgeltfortzahlung usw. in den einschlägigen Rechtsvorschriften. Darüber hinaus gelten Tarifverträge unter den gleichen Voraussetzungen wie für deutsche Arbeitnehmer.

Der nationale arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet eine Gleichstellung von inländischen und ausländischen Arbeitnehmern. Darüber hinaus lässt sich ein Gleichbehandlungsanspruch bereits aus Art. 45 AEUV und Art. 7 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ableiten.

Deutsche Sprachkenntnisse dürfen durch Arbeitgeber in Deutschland von ausländischen Arbeitnehmern gefordert werden. Sprachkenntnisse sind jedoch nur entsprechend den Anforderungen der erstrebten Stelle zulässig. Sie werden im Telefonmarketing anders zu definieren sein als auf dem Bau.

Sozialleistungen mit (gerechtfertigten?) Abstrichen

Grundsätzlich gelten die deutschen Rechtsvorschriften hinsichtlich ausländischer Arbeitnehmer auch für die soziale Sicherheit. Wenn von einem Arbeitgeber mit Sitz im Inland solche Arbeitnehmer beschäftigt werden, sind diese z. B. nach deutschem Recht sozialversicherungspflichtig. Im Gegenzug erhalten sie Leistungen der hiesigen Sozialversicherung.

Ein bisschen „Benachteiligung“ in der Familie bleibt jedoch. Das mögen nachfolgende Beispiele verdeutlichen:

– Arbeitslosengeld nach dem SGB III erhalten Unionsbürger nur dann, wenn sie zuletzt in Deutschland beschäftigt waren und die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen.
– Arbeitslosengeld II ist für die ersten drei Monate des Aufenthalts in Deutschland grundsätzlich ausgeschlossen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II). Sozialhilfe wird nur eingeschränkt gewährt (§ 23 Abs. 1 SGB XII).
– Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt. FreizügigkeitsG/EU dürfen sich Unionsbürger bis zu drei Monaten zur Arbeitsuche in Deutschland umschauen. Sie brauchen nur einen gültigen Personalausweis oder Reisepass. Will jemand zu diesem Zweck länger „schnuppern“, ist das möglich, wenn nachgewiesen wird, dass ernstlich und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit gesucht wird. Während der Zeit der Arbeitsuche in Deutschland besteht jedoch i.d.R. kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, § 23 Abs. 3 SGB XII).

Positive Erwartungshaltung zur neuen Familiensituation

In der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 28.04.2011 ist die frühere Familien- und jetzige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen wie folgt wiedergegeben:

„Im Augenblick ist der Arbeitsmarkt … aufnahmefähig wie ein Schwamm. Die Zahl der offenen Stellen steigt und viele Unternehmen suchen immer intensiver nach passenden Fachkräften. Auch deswegen ist die volle Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt ab dem 1. Mai für Deutschland eine große Chance. Denn es werden nach den Erfahrungen unserer Nachbarn, die schon früher die Schranken gesenkt haben, vorzugsweise gut ausgebildete, mobile junge Menschen kommen. Die tragen dazu bei, unser Land wirtschaftlich weiter nach vorn zu bringen und einen Teil der Fachkräftelücke zu füllen. Als starke Exportnation mit Hauptabnehmer Europa kann Deutschland von Einheitlichkeit und Normalität auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt nur profitieren.“

Die Gewerkschaften und andere beurteilen die neue Situation nicht ganz so euphorisch. Bleibt abzuwarten, wie sich der Familienfrieden entwickelt.

Bulgarien und Rumänien müssen noch warten

Bulgarien und Rumänien sind zum 01.01.2007 der EU beigetreten. Im Beitrittsvertrag ist – wie bei den EU-8 – vorgesehen, dass bis zu einem Zeitraum von sieben Jahren nationale Übergangsbestimmungen greifen können. Solche gibt es derzeit in Deutschland (und anderen Mitgliedstaaten). Bis zum 31.12.2011 muss Deutschland entscheiden, ob eine letztmals mögliche Anwendung der Übergangsbestimmungen erfolgen soll (vgl. dazu vorher: „2+3+2“-Modell). Sollte die Verlängerung bejaht werden, käme die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für bulgarische und rumänische Staatsangehörige erst zum 01.01.2014 zum Tragen. Die vollwertige Familienmitgliedschaft von Bulgarien und Rumänien lässt also noch auf sich warten, ggf. bis zum 01.01.2014. Spätestens dann sind jedoch auch sie ganz im Schoß der Familie.

Annex

Neben den Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) sind zum 01.05.2011 auch Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) entfallen. In den Branchen Bau, Gebäudereinigung und Innendekoration brauchen ausländische Firmen, die Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden wollen, keine Genehmigung mehr. Bei Entsendungen von Arbeitnehmern nach Deutschland sind jedoch hier geltende Mindestlöhne, insbesondere branchenspezifische zu beachten. Branchenspezifisch sind Mindestlöhne festgesetzt worden in der Abfallwirtschaft, im Dachdeckerhandwerk, im Elektrohandwerk, im Maler- und Lackiererhandwerk, im Bauhauptgewerbe, für die Gebäudereinigung, für Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, im Wach- und Sicherheitsgewerbe und in der Pflege.

Seit 01.05.2011 können auch Zeitarbeitsunternehmen, die in den EU-8 ansässig sind, Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden. Sie benötigen jedoch – wie deutsche Zeitarbeitsunternehmen – eine Erlaubnis der BA. Auch in der Zeitarbeit soll es eine Lohnuntergrenze geben – vgl. hierzu aktuell: Erstes Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes … vom 28.04.2011 (BGBl. I S. 642).

Weiterführende Informationen

Ausführliche Informationen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und den ab 01.05.2011 geltenden weiteren Regelungen finden sich in der Broschüre „Beschäftigung und Entsendung von Unionsbürgerinnen und -bürgern. 50 Fragen und Antworten zum 01.05.2011“, die von der Homepage des BMAS (www.bmas.de) heruntergeladen oder (wenn noch vorrätig) im dortigen Publikationsverzeichnis bestellt werden kann.

 
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