27.07.2023

Die Entwicklung der Rechtsprechung zu § 74 SGB XII

Anspruch auf Übernahme erforderlicher Bestattungskosten

Die Entwicklung der Rechtsprechung zu § 74 SGB XII

Anspruch auf Übernahme erforderlicher Bestattungskosten

Welcher sozialhilferechtliche Anspruch besteht auf Übernahme der Bestattungskosten? § 74 SGB XII setzt tatbestandlich das Vorhandensein eines Verpflichteten voraus, dessen Unzumutbarkeit zur Tragung von Bestattungskosten vom zuständigen Leistungsträger als Voraussetzung für eine Leistungsgewährung festgestellt werden muss. In diesem Bericht werden diesbezüglich praxisrelevante Urteile der Sozialgerichte beleuchtet.

I. Einleitung

In Fortsetzung der in dieser Zeitschrift nunmehr schon seit dem Jahr 2008 alljährlich erscheinenden Übersicht zur Entwicklung der aktuellen Rechtsprechung zu § 74 SGB XII, dem sozialhilferechtlichen Anspruch auf Übernahme erforderlicher Bestattungskosten, kann erneut über bedeutende und praxisrelevante Urteile der Sozialgerichte in den letzten Monaten berichtet werden.1Gotzen, ZfF 2008, 40 ff.; ders., ZfF 2010, 154 ff.; ders., ZfF 2011, 105 ff.; ders., ZfF 2012, 127 ff.; ders., ZfF 2013, 145 ff.; ders., ZfF 2014, 97 ff.; ders., ZfF 2015, 121 ff.; ders., ZfF 2016, 121 ff.; ders., ZfF 2018, 121 ff.; ders., ZfF 2019, 157 ff.; ders., ZfF 2020, 223 ff.; ders., ZfF 2021, 232 ff. Dabei prägen im diesjährigen Beitrag vor allem Entscheidungen der Untergerichte den Blick auf die Rechtsprechung. Wie zu erwarten, sind dabei auch Urteile, die den vom Bundessozialgericht mit seiner Entscheidung vom 04.04.20192BSG, 4. 4. 2019 – B 8 SO 10/18. vollzogenen Paradigmenwechsel bei der tatbestandlich notwendigen Feststellung der Un-/Zumutbarkeit zur Tragung von Bestattungskosten erstmalig anwenden.3Gotzen, ZfF 2020, 49 ff.

Die folgend vorgestellten Urteile stammen vom Urteilsdatum her aus dem 2. Halbjahr 2021 bzw. sogar aus dem 1. Halbjahr 2022 und stellen damit die Aktualität dieser Übersicht unter Beweis. Wie bereits aus den Vorjahren bekannt, gliedert sich der Beitrag dabei nicht anhand der chronologischen Abfolge der Urteile, sondern nimmt die Normstruktur des § 74 SGB XII auf. Dieser setzt tatbestandlich das Vorhandensein eines Verpflichteten voraus, dessen Unzumutbarkeit zur Tragung von Bestattungskosten vom zuständigen Leistungsträger als Voraussetzung für eine Leistungsgewährung festgestellt werden muss. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 SGB XII vor, so folgt im Wege einer gebundenen Rechtsfolge die Übernahme erforderlicher Bestattungskosten. Abgerundet wird der Beitrag mit einem Blick auf im Kontext des § 74 SGB XII bestehender Verfahrensfragen.


II. Übersicht über ausgewählte Entscheidungen zum § 74 SGB XII im Veröffentlichungszeitraum 2021/2022

A. Verpflichteter

§ 74 SGB XII setzt tatbestandlich voraus, dass der Leistungsbegehrende Verpflichteter zur Tragung von Bestattungskosten ist. Für die Annahme einer Pflicht zur Tragung von Bestattungskosten genügen dabei zivilrechtliche Vereinbarungen des Leistungsbegehrenden mit dem Bestattungsunternehmer nicht.4So ausdrücklich im für diesen Beitrag maßgeblichen Veröffentlichungszeitraum SG Karlsruhe vom 29.3.2022 – S 2 SO 2888/20. Zwar ist auch der Besteller aus einem Werkvertrag einer zivilrechtlichen Pflicht zur Zahlung des Werklohns ausgesetzt. Verpflichteter im Sinne des § 74 SGB XII kann aber nur sein, wer der Kostenlast von vornherein nicht ausweichen kann, weil sie ihn rechtlich notwendig trifft.5Ausführlich zu diesem Tatbestandsmerkmal Gotzen, Die Sozialbestattung, Leitfaden für die Praxis zur Kostenübernahme nach § 74 SGB XII, 3. Auflage 2020, S. 9 ff. Daher ist für die Begründung des Tatbestandsmerkmals „Verpflichteter“ zwingend ein besonderer zivil- oder öffentlich-rechtlicher Status erforderlich, der sich aus erbrechtlichen, unterhaltsrechtlichen und/oder ordnungsrechtlichen Gesichtspunkten ergeben kann.6Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 9 ff. m. w. N.

Ehe oder Lebenspartnerschaft verpflichtet nur durch Testament oder Erbvertrag

In dem, dem Nichtzulassungsbeschluss des Bundessozialgerichts vom 17.2.20217B 8 SO 84/20 B. zugrunde liegenden Verfahren hatte der Kläger der Nichtzulassungsbeschwerde die Frage aufgeworfen, warum Partner einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft, die nach § 20 SGB XII den Ehegatten gleichgestellt werden, denen jedoch im Kontext des § 74 SGB XII die Zuerkennung des Verpflichtetenstatus verweigert werde, nicht in den Kreis der Leistungsberechtigten einbezogen werden. Das BSG nimmt sich der aufgeworfenen Frage jedoch nicht an, weil es aus seiner Sicht bereits an einer ausreichenden Darlegung der Klärungsfähigkeit fehlt.

So kritisiert das erkennende Gericht, dass der Kläger sich nicht mit der existierenden Rechtsprechung des BSG zur Auslegung des Begriffs des Verpflichteten auseinandergesetzt habe und auch nicht darlegt habe, warum eine andere als die bislang diese Frage ablehnende Rechtsprechung zwingend sei. Tatsächlich verkennt der Kläger, dass § 20 SGB XII tatbestandlich nicht die in § 74 SGB XII geforderte endgültige und abschließende Verpflichtung zur Tragung von Bestattungskosten begründet, sondern eine Vorschrift ist, die das Verbot der Besserstellung von partnerschaftlichen Gemeinschaften bezweckt.

Daher sind Personen, die in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft leben, nur dann Verpflichtete im Sinne des § 74 SGB XII, wenn sie beispielsweise durch Testament oder Erbvertrag als Erbe zur Tragung von Bestattungskosten nach § 1968 BGB verpflichtet sind. Im Übrigen sind sie aber Nicht-Verpflichtete und damit, obwohl sie sich möglicherweise tatsächlich um die Bestattung gekümmert haben und infolgedessen werkvertraglich einer Zahlungsverpflichtung ausgesetzt sind, keine Leistungsberechtigte nach § 74 SGB XII.

Bestattungspflicht im öffentlichen Recht

Mit dem Verpflichtetenstatus aus öffentlichem Recht setzt sich das Bayerische Landessozialgericht auseinander.8Urteil vom 17. 3. 2022 – L 8 SO 170/21. Die Klägerin des Berufungsverfahrens war die Tochter der verstorbenen Mutter, für die die Klägerin gegenüber dem Beklagten, dem zuständigen Sozialhilfeträger, die Übernahme von Bestattungskosten geltend machte. Neben der Klägerin lebte noch der Vater der Klägerin, der zugleich der Ehemann der Verstorbenen war. Die Klägerin schlug anders als ihr Vater die gesetzliche Erbenstellung aus, so dass sich ihr Verpflichtetenstatus abschließend nur noch aus ordnungsrechtlichen Vorschriften herleiten ließ. Das Bayerische Landessozialgericht bestätigt in seiner Entscheidung zunächst die ordnungsrechtliche Bestattungspflicht der Klägerin. Diese bestehe nach Art. 15 des bayerischen Bestattungsgesetzes (BestG Bayern) i. V. m. § 15 Satz 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 der bayerischen Bestattungsverordnung (BestV Bayern), obwohl auch ihr Vater noch vorhanden war, weil, so auch ausdrücklich der erkennende Senat, in Bayern in Bezug auf die Regelung der Bestattungspflicht nach dem Ordnungsrecht keine Rangfolge der Bestattungspflichtigen besteht.9So ausdrücklich auch bestätigend BayVGH, Beschluss vom 14. 9. 2015 – 4 ZB 15.1029.

Damit war, so ausdrücklich der erkennende Senat, die Klägerin gleichrangig neben ihrem Vater ordnungsrechtlich bestattungspflichtig. Dies würde normalerweise völlig ausreichen, um den Verpflichtetenstatus im Sinne des § 74 SGB XII zu begründen. Den für die Herleitung einer Leistungsberechtigung maßgeblichen Verpflichtetenstatus lehnt das BayLSG jedoch mit der Begründung ab, auch wenn nach dem landesrechtlichen Bestattungsrecht zwischen bestattungsverpflichteten Verwandten keine Rangfolge bestehe, könne im Rahmen des § 74 SGB XII nur verpflichtet sein, wer zugleich Erbe sei.

Die Konsequenz dieser (abzulehnenden) Auffassung des Bayerischen LSG wäre, dass im Rahmen des § 74 SGB XII beim Tatbestandsmerkmal des Verpflichteten bei landesrechtlich gleichrangig Bestattungsverpflichteten niemals allein auf den ordnungsrechtlich Verpflichteten abgestellt werden kann, weil es Folge der Ausgestaltung des Erbrechts ist, dass es immer einen Erben gibt und sei es letztlich der Fiskus nach § 1936 BGB. Das erkennende Gericht verkennt, dass die Frage nach möglichen vorrangig Kostentragungspflichtigen eine Frage des Tatbestandsmerkmals der Zumutbarkeit und dort konkret des Nachranggrundsatzes ist.10Hierzu Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 59 ff; S. 76 ff. m. w. N.

Geschwisterliches Miterbe verpflichtet?

Die Ablehnung des Verpflichtetenstatus mit der Begründung des Vorhandenseins eines vorrangig Verpflichteten ist jedenfalls nicht möglich. Inhaltlich abzulehnen ist auch eine Entscheidung des SG Konstanz.11SG Konstanz vom 19. 11. 2021 – S 3 SO 1000/21. Die Klägerin des der Entscheidung zugrundeliegenden Verfahrens war neben ihren Geschwistern als Miterbin nach §§ 2058, 1968, 426 BGB zu 1/4 zur Tragung der Bestattungskosten verpflichtet. Auf diesen Anteil wurde die Klägerin durch eine weitere Miterbin, die die Bestattungskosten im Außenverhältnis vollständig getragen hatte, in Anspruch genommen und beantragte beim Beklagten hierzu Leistungen nach § 74 SGB XII.

Der Beklagte, der zuständige Sozialhilfeträger, übernahm unter Berücksichtigung vorhandenen Nachlasses für die Klägerin, die Leistungen nach dem SGB II bezog, ihren erbrechtlich begründeten Anteil an den Bestattungskosten. Das Sozialgericht Konstanz kommt in seiner Entscheidung zu der völlig überraschenden Ansicht, ein Ausgleichsanspruch zwischen Gesamtschuldnern sei nicht übernahmefähig im Rahmen des § 74 SGB XII. Nach Ansicht der erkennenden Kammer handelt es sich bei dem im Verfahren maßgeblichen Ausgleichsanspruch lediglich um einen Regressanspruch im Innenverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern, für den § 426 Abs. 1 Satz 2 BGB eine Sonderregelung enthalte: könne von einem Gesamtschuldner der auf ihn entfallende Betrag nicht erlangt werden, so sei der Ausfall von den übrigen zum Ausgleich verpflichteten Schuldnern zu tragen.

Zweck des § 74 SGB XII sei es nicht, so dass Sozialgericht Konstanz, „Regressansprüche der Gesamtschuldner und damit das Ausfallrisiko des leistenden Gesamtschuldners auf die Allgemeinheit abzuwälzen“. Auch hier zeigt sich, wie die fehlende systematische Aufarbeitung der Fragestellungen rund um § 74 SGB XII zu einer Lösung führt, die juristisch nicht tragbar ist. Die Klägerin ist ohne Zweifel Verpflichtete im Sinne des § 74 SGB XII, weil sie erbrechtlich nach §§ 1968, 2058, 426 BGB zur Tragung von Bestattungskosten verpflichtet war.

Als Verpflichtete muss die Klägerin, um Leistungen nach § 74 SGB XII erhalten zu können, auch tatsächlich einer Kostenlast ausgesetzt sein.12Zu diesem Merkmal ausführlich Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 10 m. w. N. Tatsächlich war die Klägerin einer Kostenlast ausgesetzt, weil sie von einer Miterbin, die die Bestattungskosten im Außenverhältnis vollständig getragen hatte, auf ihren Anteil an den Bestattungskosten in Anspruch genommen wurde.

Im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der Zumutbarkeit stellt sich bezogen auf den zur Entscheidung anstehenden Fall allenfalls die Frage, ob die Klägerin auf anderweitige Ausgleichsansprüche verwiesen werden kann. Zwar zitiert das Sozialgericht Konstanz die Vorschrift des § 426 Abs. 1 Satz 2 BGB korrekt, wonach immer dann, wenn von einem Gesamtschuldner der auf ihn entfallende Anteil nicht erlangt werden kann, der Ausfall von den übrigen zur Ausgleichung verpflichteten Schuldnern zu tragen ist. § 74 SGB XII dient aber gerade dazu, dass ein erbrechtlich Verpflichteter seinen gesamtschuldnerisch geschuldeten Anteil in einer Erbengemeinschaft erbringen kann,13Siehe ausführlich, auch im Kontext des § 426 BGB m. w. N. Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 22 f. der in § 426 Abs. 1 Satz 2 BGB tatbestandlich vorausgesetzte Ausfall liegt daher nicht vor.

 

Den vollständigen Bericht lesen Sie in der ZfF 12/2022, S. 273.

 

Hans-Heiner Gotzen

Erster Beigeordneter Dr. jur. Dipl.-Verwaltungswirt, Erkelenz
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  • 1
    Gotzen, ZfF 2008, 40 ff.; ders., ZfF 2010, 154 ff.; ders., ZfF 2011, 105 ff.; ders., ZfF 2012, 127 ff.; ders., ZfF 2013, 145 ff.; ders., ZfF 2014, 97 ff.; ders., ZfF 2015, 121 ff.; ders., ZfF 2016, 121 ff.; ders., ZfF 2018, 121 ff.; ders., ZfF 2019, 157 ff.; ders., ZfF 2020, 223 ff.; ders., ZfF 2021, 232 ff.
  • 2
    BSG, 4. 4. 2019 – B 8 SO 10/18.
  • 3
    Gotzen, ZfF 2020, 49 ff.
  • 4
    So ausdrücklich im für diesen Beitrag maßgeblichen Veröffentlichungszeitraum SG Karlsruhe vom 29.3.2022 – S 2 SO 2888/20.
  • 5
    Ausführlich zu diesem Tatbestandsmerkmal Gotzen, Die Sozialbestattung, Leitfaden für die Praxis zur Kostenübernahme nach § 74 SGB XII, 3. Auflage 2020, S. 9 ff.
  • 6
    Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 9 ff. m. w. N.
  • 7
    B 8 SO 84/20 B.
  • 8
    Urteil vom 17. 3. 2022 – L 8 SO 170/21.
  • 9
    So ausdrücklich auch bestätigend BayVGH, Beschluss vom 14. 9. 2015 – 4 ZB 15.1029.
  • 10
    Hierzu Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 59 ff; S. 76 ff. m. w. N.
  • 11
    SG Konstanz vom 19. 11. 2021 – S 3 SO 1000/21.
  • 12
    Zu diesem Merkmal ausführlich Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 10 m. w. N.
  • 13
    Siehe ausführlich, auch im Kontext des § 426 BGB m. w. N. Gotzen, Die Sozialbestattung, a. a. O., S. 22 f.
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