Die Einrichtung einer Fahrradstraße im Außenbereich ist grundsätzlich möglich
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen
Die Einrichtung einer Fahrradstraße im Außenbereich ist grundsätzlich möglich
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen
Die Anlieger einer Straße klagten gegen die Einrichtung einer Fahrradstraße im Außenbereich mit Verweis auf § 45 Abs. 1 der StVO. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen wies die Klage ab.
Sachverhalt
Die Kläger wenden sich gegen die Anordnung, mit welcher die Straße „M.E.“ zwischen der Stadt W. und dem Ortsteil F. zur Fahrradstraße bestimmt worden ist. Die Kläger sind Anlieger des „M.E.“. Die Straße „M.E.“ ist eine in etwa parallel zur K00 verlaufende Straße zwischen der Stadt W. und dem Ortsteil F. Die Straße gehört dem Radwegenetz NRW an. Der jetzt als Fahrradstraße ausgewiesene Teil der Straße hat eine Länge von 3,4 km. Die Stadt W. beantragte am 24.05.2018 beim Beklagten die von den Klägern angefochtene verkehrsrechtliche Anordnung. Daraufhin ordnete der Beklagte am 18.07.2018 eine Fahrradstraße am „M.E.“ zwischen der Stadt W. und dem Ortsteil F. an und gestattete gleichzeitig den Anliegerverkehr. Die entsprechenden Verkehrszeichen (244.1 „Fahrradstraße“, 244.2 „Ende der Fahrradstraße“ sowie das Verkehrszeichen 1020.30 „Anlieger frei“) wurden am 14.10.2018 aufgestellt.
Die Kläger haben am 23.10.2018 Klage erhoben. Sie trugen im Wesentlichen vor, dass bereits fraglich sei, ob eine Fahrradstraße im Außenbereich überhaupt möglich sei. Weiter würden die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 45 Abs. 1 StVO nicht vorliegen. Unabhängig davon sei es nicht zu erwarten, dass der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart auf der Fahrradstraße sein werde.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
StVO – §§ 1 Abs. 1; 5 Abs. 4 Satz 3; 45 Abs. 1 Satz 1; 45 Abs. 9 Satz 1; 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 2
VwGO – § 114 Satz 1
- Die Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen ist nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO auf Grund besonderer Umstände zwingend erforderlich, wenn die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der Straßenverkehrs- Ordnung für einen sicheren und geordneten Verkehrsablauf nicht ausreichen.
- Die weiteren qualifizierten Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, wonach insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden dürfen, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung näher benannter Rechtsgüter erheblich übersteigt, gelten gemäß § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 2 StVO nicht für die Anordnung von Fahrradstraßen (Zeichen 244.1).
- Maßnahmen im Regelungsbereich des § 45 Abs. 9 StVO stehen im Ermessen der zuständigen Behörden. Soweit es um die Auswahl der Mittel geht, mit denen die konkrete Gefahr bekämpft oder gemildert werden soll, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Dabei ist es der Straßenverkehrsbehörde aufgrund ihres Sachverstandes und ihres Erfahrungswissens vorbehalten festzulegen, welche von mehreren in Betracht zu ziehenden Maßnahmen den bestmöglichen Erfolg verspricht. Dabei kommt ihr eine Einschätzungsprärogative zu.
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 01.02.2023 – 8 A 3251/21)
Aus den Gründen
Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Das ist hier nicht der Fall. Die von den Klägern geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), mit dem das Verwaltungsgericht die Klage gegen die straßenverkehrsrechtliche Anordnung des Beklagten vom 18.07.2018 abgewiesen hat, sind nicht dargelegt bzw. liegen nicht vor. Die straßenverkehrsrechtliche Anordnung vom 18.07.2018, durch die der Beklagte für einen Teilbereich von ca. 3,4 km Länge des unter dem Namen „YZ“ (abweichende Schreibweise: „Y Z“) bekannten Wirtschaftswegs die Einrichtung einer Fahrradstraße (Zeichen 244.1) mit Zusatzzeichen „Anlieger frei“ (Zeichen 1020-30) angeordnet hat, findet ihre rechtliche Grundlage in § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 StVO.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Der Erlass einer verkehrsregelnden Anordnung nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO setzt eine konkrete Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs voraus. Dafür bedarf es allerdings nicht des Nachweises, dass sich ein Schadensfall bereits realisiert hat; es genügt, dass irgendwann in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schadensfälle eintreten können. Dies beurteilt sich danach, ob die konkrete Situation an einer bestimmten Stelle oder Strecke einer Straße die Befürchtung nahelegt, dass die zu bekämpfende Gefahrenlage eintritt; die Annahme einer die Anordnung nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO rechtfertigenden konkreten Gefahr ist also nicht ausgeschlossen, wenn zu bestimmten Zeiten der Eintritt eines Schadens unwahrscheinlich sein mag. Aus § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO folgt zudem, dass die Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen aufgrund besonderer Umstände zwingend erforderlich sein muss. Das ist dann der Fall, wenn die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der Straßenverkehrs-Ordnung für einen sicheren und geordneten Verkehrsablauf nicht ausreichen.
Die weiteren qualifizierten Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, wonach insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden dürfen, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung näher benannter Rechtsgüter erheblich übersteigt, gelten dabei gemäß § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 2 StVO nicht für die Anordnung von Fahrradstraßen (Zeichen 244.1).
a) Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Voraussetzungen von § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 StVO in Gestalt einer konkreten Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs mit Blick auf die besonderen Einzelfallumstände vorlägen. Die durch Verkehrszählungen in den Jahren 2000, 2007 und 2015 ermittelte Durchschnittsgeschwindigkeit anderer Verkehrsteilnehmer, die zum Teil hohen Fahrgeschwindigkeiten, die durch den relativ geraden Streckenverlauf der Straße begünstigt würden, führten in Verbindung mit der geringen Fahrbahnbreite und einem teilweise schlechten Zustand der Straße zu einer Gefährdung des Radverkehrs. Dies stellt die Antragsbegründung nicht durchgreifend in Frage.
Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass erfahrungsgemäß mit der Fahrgeschwindigkeit der übrigen Verkehrsteilnehmer das Unfallrisiko (auch) für den Radverkehr erheblich steigt. Nicht entscheidend ist hierbei, ob Rückschlüsse betreffend die gewöhnliche Fahrgeschwindigkeit der übrigen Verkehrsteilnehmer aus dem jeweiligen Anteil der über 30 km/h Fahrenden am Verkehrsaufkommen oder aus der allgemeinen Durchschnittsgeschwindigkeit gezogen werden. Denn in beiden Fällen ergeben sich die Gefahren für den Radverkehr typischerweise aus den deutlich unterschiedlichen Geschwindigkeiten der einzelnen Verkehrsteilnehmer, etwa bei Überholvorgängen oder weil langsamere Verkehrsteilnehmer übersehen werden. Dass es an einem solchen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Verkehrsteilnehmer und Gefahren für den Radverkehr fehlen könnte, ist weder ersichtlich noch von den Klägern (substantiiert) im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vorgetragen worden.
Die Kläger rügen zudem ohne Erfolg, das Verwaltungsgericht habe sich bei seiner Entscheidungsfindung auf eine fehlerhafte Tatsachengrundlage gestützt. Zum einen stützt das Verwaltungsgericht seine – insoweit unstreitigen – Ausführungen zur Fahrbahnbreite und dem allgemeinen Zustand der Straße, auf der insbesondere keine Schutzvorrichtungen für den Radverkehr vorgesehen sind, auf die im Ortstermin vom 07.10.2021 gewonnenen Erkenntnisse. Zum anderen hat der Beklagte durch die vorgenannten Verkehrszählungen hinreichend dokumentiert, dass auf dem „Y Z“ ein den Radverkehr gefährdendes Verkehrsaufkommen herrscht.
Aus den Verwaltungsvorgängen hinsichtlich der Verkehrszählung im Jahr 2000 folgt, dass 65,9% bzw. in der Gegenrichtung 68,4% aller Verkehrsteilnehmer schneller als 30 km/h fuhren; im Jahr 2007 waren es 63,3 %. Der Anteil an Verkehrsteilnehmern, die sogar schneller als 50 km/h fuhren, betrug 49,6% bzw. 56,9% im Jahr 2000 und 47,6% im Jahr 2007. Auch deutet die im Jahr 2015 gemessene Durchschnittsgeschwindigkeit von 46 km/h auf ein übliches Verkehrsaufkommen mit Verkehrsteilnehmern hin, die sich erheblich schneller als der gewöhnliche Radverkehr fortbewegen.
Jedenfalls unter Beachtung der vorgenannten Straßenverhältnisse ergibt sich hieraus die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Kollision zwischen dem Radverkehr und Kraftfahrzeugen. Auch ist die straßenverkehrsrechtliche Anordnung vom 18.07.2018 zwingend erforderlich im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO. Weder haben die Kläger gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt noch ist anderweitig ersichtlich, dass die allgemeinen verkehrsrechtlichen Bestimmungen der StVO ausreichen, um den Schutz des Radverkehrs auf dem „Y Z“ hinsichtlich der Geschwindigkeit der übrigen Verkehrsteilnehmer sicherzustellen. Nach dem Vorgesagten ist gerade das Gegenteil der Fall.
b) Darüber hinaus ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Beklagte nicht die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, § 114 Satz 1 VwGO. Maßnahmen im Regelungsbereich des § 45 Abs. 9 StVO stehen im Ermessen der zuständigen Behörden. Soweit es um die Auswahl der Mittel geht, mit denen die konkrete Gefahr bekämpft oder gemildert werden soll, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Dabei ist es der Straßenverkehrsbehörde aufgrund ihres Sachverstandes und ihres Erfahrungswissens vorbehalten festzulegen, welche von mehreren in Betracht zu ziehenden Maßnahmen den bestmöglichen Erfolg verspricht, wobei ihr eine Einschätzungsprärogative zukommt.
Entgegen der Auffassung der Kläger liegt ein Ermessensfehler nicht schon deswegen vor, weil nicht zu erwarten sei, dass der Radverkehr auf dem „Y Z“ durch die Anordnung einer Fahrradstraße zur dort vorherrschenden Verkehrsart werde. Insoweit konnte der Beklagte, wie das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, aufgrund des Umstandes, dass es sich bei dem „Y Z“ um die kürzeste Verbindung zwischen dem Ortsteil F. und der Stadt W. handelt, sowie der Tatsache, dass die Straße bereits Teil des Radverkehrsnetzes NRW war, eine solche Prognose treffen.
Hinsichtlich der Verbindung zwischen dem Ortsteil F. und der Stadt W. haben die Kläger lediglich unsubstanziiert bestritten, dass es sich hierbei um die für den Radverkehr kürzeste und damit voraussichtlich bevorzugte Verbindung handele. Dass die Straße trotz Aufnahme in das Radverkehrsnetz NRW nicht stärker frequentiert wurde, spricht auch unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens dazu, dass die bisherigen Verkehrszählungen auf einen über die Jahre gleichbleibenden bzw. sogar leicht rückläufigen Fahrradanteil am Verkehrsaufkommen schließen ließen, ebenfalls nicht schlechthin gegen die verkehrsplanerische Prognose, der Radverkehr werde sich unter den für ihn nun günstigeren Bedingungen noch steigern, sondern lässt sich ebenso gut, wenn nicht sogar eher dadurch erklären, dass die Benutzung dieses Wirtschaftswegs als Radweg unter den gegebenen Bedingungen unattraktiv war.
Zudem entstehen durch die Anordnung einer Fahrradstraße auf dem „Y Z“ entgegen der Auffassung der Kläger keine von dem Beklagten unbeachteten Verkehrskonflikte, die sich nicht durch die Anwendung allgemeiner Verkehrsregeln auflösen ließen. Die diesbezüglichen Ausführungen der Kläger gehen bereits insoweit von einem unzutreffenden Sachverhalt aus, als sie auf der Annahme beruhen, dass die Anordnung der Fahrradstraße mit dem Zusatzzeichen „Kraftfahrzeuge frei“ verbunden sei, sodass gerade keine exklusive Nutzung des „Y Z“ durch den Radverkehr geregelt sei. Das trifft indessen so nicht zu. Vielmehr ist der Kraftfahrzeugverkehr durch das Zusatzschild 1020- 30 auf Anlieger beschränkt.
Im Übrigen ergibt sich aus § 5 Abs. 4 Satz 3 StVO ohne Weiteres, dass Radfahrer nicht mit Kraftfahrzeugen überholt werden dürfen, wenn die Einhaltung eines Mindestabstands von außerorts 2 m nicht möglich ist. Nutzen zwei Personen die ihnen durch das Zeichen 244.1 gewährte Befugnis, nebeneinander Fahrrad zu fahren, und sollte infolgedessen die restliche Fahrbahnbreite nicht genügend Raum zum Überholen bieten, haben Kraftfahrzeuge den Überholvorgang daher gänzlich zu unterlassen.
Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv 10/2023, Lz. 928.