04.12.2023

Prüfungsumfang der Integrationsämter hinsichtlich Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten

Urteils des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main

Prüfungsumfang der Integrationsämter hinsichtlich Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten

Urteils des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main

Ein Beitrag aus »br – Behinderung und Recht« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »br – Behinderung und Recht« | © emmi - Fotolia / RBV

Beantragt ein Arbeitgeber die Zustimmung zu einer ordentlichen Kündigung aus betriebsbedingten Gründen, hat das Integrationsamt unter anderem zu prüfen, ob der/die schwerbehinderte Arbeitnehmer/in auf einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Betriebes oder in einem anderen Betrieb des Arbeitgebers weiterbeschäftigt werden kann. Mit diesem Fall befasste sich das VG Frankfurt am Main (vom 8.3.2021 – 11 K 707/19.F), bestätigt durch den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (vom 23.6.2022 – 10 A 883/21.Z).

I. Einleitung

Beantragt ein Arbeitgeber die Zustimmung zu einer ordentlichen Kündigung aus betriebsbedingten Gründen, hat das Integrationsamt unter anderem zu prüfen, ob der/die schwerbehinderte Arbeitnehmer/in auf einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Betriebes oder in einem anderen Betrieb des Arbeitgebers weiterbeschäftigt werden kann. Dies gilt sowohl in den Fällen des gebundenen bzw. eingeschränkten Ermessens nach § 172 Abs. 1 SGB IX (vgl. insoweit die ausdrückliche Regelung in § 172 Abs. 1 Satz 3 SGB IX) als auch in den Fällen, in denen das Ermessen des Integrationsamtes nicht eingeschränkt ist und das Integrationsamt im Rahmen des § 168 SGB IX zu entscheiden hat.

In diesem Zusammenhang stellt sich regelmäßig die Frage, wie weit die Aufklärungspflicht des Integrationsamtes gem. § 20 SGB X reicht bzw. wie tief die Prüfung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten insbesondere bei streitigen Sachverhalten zu erfolgen hat. Das VG Frankfurt am Main sowie der Hessische VGH haben sich ausführlich mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt.


II. Ausgangslage

In dem zu entscheidenden Fall hatte der Arbeitgeber nach Wegfall des Arbeitsplatzes des schwerbehinderten Arbeitnehmers mehrere Möglichkeiten der Weiterbeschäftigung geprüft und nach Feststellung, dass keine anderen freien Arbeitsplätze, die für den schwerbehinderten Menschen gesundheitlich geeignet wären und auch dessen beruflicher und sonstiger Bildung entsprechen, zur Verfügung stehen, den Antrag auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung beim Integrationsamt gestellt.

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer trat der Kündigungsabsicht des Arbeitgebers entgegen und benannte mehrere – aus seiner Sicht – mögliche Arbeitsplätze, auf denen er weiterbeschäftigt werden könnte, die aber allesamt vor allem in Bezug auf seine gesundheitliche und qualitative Eignung streitig blieben. Zudem machte er geltend, dass der Arbeitgeber weitere von der unternehmerischen Entscheidung betroffene (schwerbehinderte) Mitarbeiter auf anderen Arbeitsplätzen eingesetzt habe, sodass das Integrationsamt hätte nachprüfen müssen, warum nicht er selbst für diese Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten ausgewählt worden sei. Letztlich ging der schwerbehinderte Mensch davon aus, dass hätte geprüft werden müssen, ob mehrere „Resttätigkeiten“ zu einem Schon-Arbeitsplatz hätten gebündelt werden können, auf dem er hätte beschäftigt werden können.

Das Integrationsamt hat aufgrund des in § 20 SGB X verankerten Amtsermittlungsgrundsatzes die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers geprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine solche nicht besteht. Dabei ist es davon ausgegangen, dass diese Prüfung nicht „uferlos“ erfolgen könne, sondern das Integrationsamt darauf beschränkt sei, zu prüfen, ob ein freier vergleichbarer Arbeitsplatz oder ein freier Arbeitsplatz zu geänderten Arbeitsbedingungen vorhanden sei und der schwerbehinderte Arbeitnehmer über die für die Ausübung der betroffenen Tätigkeit erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse verfüge. Insoweit hat das Integrationsamt angenommen, auf eine Offensichtlichkeitsprüfung beschränkt zu sein und streitige Fragen in Bezug auf das Vorhandensein freier Arbeitsplätze sowie der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die einer eingehenden arbeitsrechtlichen Prüfung bedürfen, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nicht abschließend klären zu können (vgl. auch OVG Hamburg, Urt. v. 10.12.2014 –4 Bf 159/12).

Da das Vorliegen der Voraussetzungen hier streitig war, konnte das Integrationsamt im Ergebnis keine offensichtliche Weiterbeschäftigungsmöglichkeit feststellen, sodass es die begehrte Kündigung nicht als offensichtlich unhaltbar qualifizierte und die Zustimmung erteilte. Das VG Frankfurt am Main sowie der Hessische VGH sind dieser Argumentation gefolgt.

III. Entscheidungen des VG Frankfurt am Main und des Hessischen VGH

In ihren Entscheidungsgründen haben die Gerichte unter Hinweis auf die ständige verwaltungsgerichtliche Recht Integrationsamtes eine Abwägung des Interesses des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeit gegen das Interesse des schwerbehinderten Menschen an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes erfordere und insoweit nur Erwägungen eine Rolle spielen könnten, die sich speziell aus der Schwerbehindertenfürsorge herleiten. Rechtfertigen solche Erwägungen eine Versagung der Zustimmung nicht, so habe die behördliche Zustimmung dem Kündigenden diejenige Rechtsstellung zurückzugeben, die er hätte, wenn es keinen besonderen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte gäbe.

Um eine sachgerechte Ermessensentscheidung treffen zu können, habe das Integrationsamt im Rahmen des § 20 SGB X all das zu ermitteln und zu berücksichtigen, was erforderlich sei, um die gegensätzlichen Interessen der Beteiligten gegeneinander abwägen zu können. Insoweit müsse einschränkend Berücksichtigung finden, dass es nicht Sinn und Zweck des Zustimmungsverfahrens sei, eine zusätzliche zweite arbeitsrechtliche Kontrollinstanz zu schaffen. Der besondere Schutz der §§ 168 ff. SGB IX sei den schwerbehinderten Menschen zusätzlich zum allgemeinen Schutz gegeben, weshalb das Integrationsamt die arbeitsrechtliche Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung grundsätzlich nicht prüfen dürfe. Nur dann, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam sei, sei die Zustimmung zu versagen.

Dieser Offensichtlichkeitsmaßstab finde dann, wenn der Kündigungsgrund mit der Schwerbehinderung – wie es bei der betriebsbedingten Kündigung der Fall sei – nicht im Zusammenhang stehe, auch in Bezug auf die konkrete Prüfung, ob der schwerbehinderte Mensch auf einem anderen Arbeitsplatz in dem bisherigen Betrieb oder in einem anderen Betrieb desselben Arbeitgebers weiterbeschäftigt werden kann, Anwendung. Die Frage der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit sei somit nur dann für das Zustimmungsverfahren relevant, wenn die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung offensichtlich bzw. unstreitig sei. Sei dies nicht der Fall, sei die beabsichtigte Kündigung nicht offensichtlich unwirksam und die Zustimmung zur betriebsbedingten Kündigung in der Regel zu erteilen.

Im Einzelnen haben die Gerichte ausgeführt,

  • dass eine Kündigung nicht offensichtlich unwirksam sei, wenn bei einer ordentlichen Kündigung aus betriebsbedingten Gründen im Rahmen der Prüfung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten nach § 168 VwGO Tatsachen, die arbeitsrechtlich von Belang seien, zwischen den Beteiligten streitig seien. Bestehe bspw. eine Uneinigkeit in Bezug auf die Frage, ob die für die Weiterbeschäftigung erforderliche Qualifikation vorhanden oder in angemessen kurzer Zeit erlernt werden könne, könne nicht von einer (offensichtlichen) Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ausgegangen werden.
  • Die Prüfung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten erfolge stets konkret-individuell. Das Integrationsamt müsse daher nicht ermitteln, ob bzw. auf welche Arbeitsplätze weitere von der Kündigung betroffene Mitarbeiter/innen ggf. versetzt worden seien und ob eventuell gesundheitliche Beeinträchtigungen und Qualifikationen dieser Mitarbeiter/ innen mit denen des schwerbehinderten Menschen vergleichbar seien.
  • Habe der schwerbehinderte Mensch Arbeitsplätze benannt, die einer höheren Entgeltgruppe angehören, bleiben diese bei der Prüfung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit unberücksichtigt, da es sich nicht um gleichwertige Arbeitsplätze handele.
  • Trage der Arbeitgeber vor, freie Stellen stünden nicht zur Verfügung, und gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Angabe unrichtig sein könnte, reiche die einfache Behauptung des/der Arbeitnehmers/in „ins Blaue hinein“, die Angaben des Arbeitgebers könnten (insbesondere aufgrund der Betriebsgröße) unrichtig sein und müssten deshalb geprüft werden, nicht aus, um eine weitergehende Sachverhaltsermittlung auszulösen.
  • Das Integrationsamt müsse nicht prüfen, ob eine Verpflichtung des Arbeitgebers bestehen könnte, Resttätigkeiten zu einem vollwertigen „Schonarbeitsplatz“ zu bündeln, um eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu schaffen, da der Arbeitgeber nicht verpflichtet sei, neue Arbeitsplätze zu schaffen.

IV. Bewertung

1. Den Entscheidungen ist vollumfänglich zuzustimmen.

a) Die Integrationsämter bestimmen aufgrund des in § 20 SGB X verankerten Amtsermittlungsgrundsatzes Art und Umfang der Ermittlungen und haben alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Sie sind daher verpflichtet, zu prüfen, ob der/die schwerbehinderte Arbeitnehmer/in auf bereits vorhandenen freien Arbeitsplätzen weiterbeschäftigt werden kann. In Bezug auf die hier problematische Frage, wie tief die Prüfung im Rahmen einer Kündigung aus betriebsbedingten Gründen zu erfolgen hat, wenn zwischen den Arbeitsvertragsparteien in Streit steht, ob der schwerbehinderte Mensch gesundheitlich und qualitativ geeignet ist, führen die Gerichte zutreffend aus, dass die Aufklärungspflicht nicht so weit reichen kann, dass hierdurch dem/der schwerbehinderten Arbeitnehmer/in eine zusätzliche arbeitsrechtliche Kontrollinstanz eröffnet wird, die einem/r nichtbehinderten Arbeitnehmer/in nicht offensteht.

Eine solch zusätzliche Kontrollebene würde jedoch geschaffen werden, wenn auch im Zustimmungsverfahren nach den §§ 168 ff. SGB IX im Einzelnen und nicht nur im Rahmen einer Evidenzkontrolle die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung zu prüfen wäre. Hierdurch würde die Wirkweise des schwerbehindertenrechtlichen Schutzes überspannt. Da das SGB IX schwerbehinderte Arbeitnehmer/innen gegenüber Nichtbehinderten nicht bevorzugen, sondern lediglich die behinderungsbedingten Nachteile ausgleichen will, muss sich der schwerbehinderte Mensch in diesem Punkt auf die Überprüfung durch das Arbeitsgericht verweisen lassen (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 10.12. 2014, a.a.O.).

Dass die Gerichte im Rahmen der Prüfung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf den Begriff der „Evidenzkontrolle“ zurückgreifen, erstaunt zunächst, da die Integrationsämter eine Evidenzkontrolle bisher allein im Zusammenhang mit der Prüfung der offensichtlichen Unwirksamkeit einer – in der Regel außerordentlichen – Kündigung vorgenommen haben, die sich in einem wesentlichen Punkt von der Evidenzkontrolle im Rahmen der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten unterscheidet:

Nach einhelliger Auffassung hat das Integrationsamt die Zustimmung zu versagen, wenn die Unwirksamkeit der Kündigung „ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zutage liegt, sich jedem Kundigen geradezu aufdrängt“ und damit nach arbeitsrechtlichen Vorschriften offensichtlich unwirksam ist, weil das Integrationsamt nicht an einer offensichtlich rechtswidrigen Kündigung zum Nachteil des schwerbehinderten Menschen mitwirken soll (vgl. Hessisches VGH, Urt. v. 23.6.2022, a.a.O., m.w.N.).

Im Rahmen einer außerordentlichen Kündigung ohne Behinderungszusammenhang nach § 174 Abs. 4 SGB IX ist Gegenstand dieser Evidenzkontrolle allerdings „nur“ die Prüfung, ob die Angaben des Arbeitgebers in sich schlüssig sind und die Kündigung grundsätzlich rechtfertigen können; eine Aufklärung des Sachverhaltes bzw. eine inhaltliche Prüfung der Richtigkeit der vom Arbeitgeber insoweit vorgebrachten Kündigungstatsachen findet nicht statt (vgl. Jäger-Kuhlmann, in: Ernst/Baur/Jäger-Kuhlmann, SGB IXKomm., § 174, Rn. 44; Zorn, Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen im Arbeitsleben (SGB IX), S. 307).

Während somit bei der außerordentlichen Kündigung von Anfang an keinerlei Sachverhaltsaufklärung stattfindet, die Evidenzprüfung sich vielmehr in erster Linie an dem Vortrag des Arbeitgebers ausrichtet, ist bei der betriebsbedingten Kündigung der Sachverhalt (konkret: die Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten) im Rahmen des § 20 SGB X zu ermitteln. Der Offensichtlichkeitsmaßstab kommt dann aber zum Tragen, wenn der Sachverhalt insoweit ausermittelt ist und dennoch Fragen in Bezug auf die qualitative und gesundheitliche Eignung streitig bleiben. Die Evidenzprüfung findet daher erst „am Ende der Kette“ statt und schränkt den Amtsermittlungsgrundsatz erst an dieser Stelle ein. Dies bedeutet in der Praxis Folgendes:

b) Der Umfang der vom Integrationsamt vorzunehmenden Prüfung, ob der/die schwerbehinderte Arbeitnehmer/in auf einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Betriebes oder in einem anderen Betrieb des Arbeitgebers weiterbeschäftigt werden kann, hängt von den Vorträgen der Beteiligten und damit den Umständen des Einzelfalls ab. Trägt der Arbeitgeber im Zustimmungsverfahren vor, er habe keine freien Stellen, auf denen der schwerbehinderte Mensch beschäftigt werden könnte und gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Angabe unrichtig sein könnte, reicht – wie die Gerichte ausdrücklich festgestellt haben – die einfache Behauptung des/der Arbeitnehmers/ in „ins Blaue hinein“, die Angaben des Arbeitgebers könnten unrichtig sein und müssten deshalb geprüft werden, nicht aus, um eine weitergehende Sachverhaltsermittlung auszulösen.

Benennt der schwerbehinderte Mensch (oder der Betriebsrat/Personalrat sowie die Schwerbehindertenvertretung) hingegen konkrete freie Arbeitsplätze, muss das Integrationsamt dem nachgehen. Es muss den Arbeitgeber entsprechend befragen und prüfen, ob der schwerbehinderte Mensch im Hinblick auf seine Ausbildung bzw. Qualifikation sowie seine gesundheitliche Situation grundsätzlich auf den benannten freien Arbeitsplätzen eingesetzt werden könnte. Ist dies der Fall, wird ein einfaches Bestreiten des Arbeitgebers, den/die schwerbehinderte/ n Mitarbeiter/in auf diesem Arbeitsplatz einsetzen zu können, nicht ausreichen, um von einer fehlenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ausgehen zu können. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine Weiterbeschäftigung in Betracht kommt, die Zustimmung wäre daher zu versagen.

Trägt der Arbeitgeber jedoch einen sachlichen Grund vor und legt nachvollziehbar dar, weshalb ihm eine dortige Weiterbeschäftigung nicht möglich bzw. nicht zumutbar ist, dann muss von einem streitigen Sachverhalt ausgegangen werden, der einer offensichtlichen Weiterbeschäftigungsmöglichkeit entgegensteht. In diesem Fall kann die begehrte Kündigung nicht als offensichtlich unhaltbar qualifiziert werden, sodass die Zustimmung zu erteilen ist.

[…]

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Behinderung und Recht 4/2023, S. 89.

 

Stella Koch

Verwaltungsoberrätin, Landeswohlfahrtsverband Hessen, Integrationsamt
n/a