06.07.2022

Das Recht auf Heimat in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (2)

Auslegung von Art. 2 Abs. 2 LV - Teil 2

Das Recht auf Heimat in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (2)

Auslegung von Art. 2 Abs. 2 LV - Teil 2

Bei vermieteten Immobilien des Privatvermögens ist steuerlich von 50 Jahren Nutzungsdauer und damit von einer Absetzung für Abnutzung in Höhe von 2 % auszugehen. | © lucid_dream – stock.adobe.com
Bei vermieteten Immobilien des Privatvermögens ist steuerlich von 50 Jahren Nutzungsdauer und damit von einer Absetzung für Abnutzung in Höhe von 2 % auszugehen. | © lucid_dream – stock.adobe.com

Der Inhalt des Rechts auf Heimat in der Landesverfassung Baden-Württembergs ist bislang in Rechtsprechung und Literatur noch weitgehend ungeklärt. Der Autor vertritt die Ansicht, das Recht auf Heimat gemäß Art. 2 Abs. 2 LV beziehe sich auf das Grundrecht auf Eigentum i. S. v. Art. 14 GG, welches gemäß Art. 2 Abs. 1 LV in die Landesverfassung überführt wurde. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts habe eine Rechtsschutzlücke beim Eigentumsrecht aufgezeigt. Diese bestehe, wenn Wohneigentum enteignet werde, sodass der Verlust des Eigentums zugleich mit dem Verlust immaterieller Werte einhergehe. Derartige staatliche Maßnahmen könnten in der Regel nicht hinreichend durch materielle Entschädigungen ausgeglichen werden. In diesem Fall soll das Recht auf Heimat daher den Grundrechtsschutz dergestalt modifizieren, dass Enteignungen i. S. v. Art. 14 Abs. 3 GG jedenfalls nicht mehr auf der Grundlage von Landesgesetzen erfolgen können. Dieses Ergebnis hat unter anderem Auswirkungen auf aktuelle Diskussionen zum Denkmalschutzrecht (Teil 2).

 

3.Systematische Auslegung

Art. 2 Abs. 2 LV bezieht sich bereits nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut („darüber hinaus“) auf Art. 2 Abs. 1 LV, der die Grundrechte in die Landesverfassung Baden-Württembergs inkorporiert. In Betracht kommt ein enger systematischer Zusammenhang des Rechts auf Heimat zu dem Grundrecht auf Freizügigkeit gemäß Art. 11 GG (hierzu lit. a) und dem Recht auf Eigentum gemäß Art. 14 GG (hierzu lit. b).


a) Kein Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Freizügigkeit gemäß Art. 11 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 2 Abs. 1 LV)

Das Recht auf Heimat wird in der Literatur regelmäßig mit dem Grundrecht auf Freizügigkeit gemäß Art. 11 GG in Verbindung gebracht.29 Von dem Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG ist nicht nur umfasst, an jedem Ort im Bundesgebiet Aufenthalt oder Wohnsitz zu nehmen. Vielmehr erstreckt es sich nach Ansicht des BVerfG auch darauf, an einem frei gewählten Ort verweilen und wohnen zu dürfen.30 Insoweit schützt Art. 11 Abs. 1 GG auch vor Umsiedlungen.31 Nach Ansicht des BVerfG gewährleistet Art. 11 Abs. 1 GG aber kein eigenständiges Recht auf Heimat, welches auch das städtebauliche und soziale Umfeld umfasse.32 Ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 11 Abs. 1 GG wird nur dann angenommen, wenn sich eine staatliche Tätigkeit zielgerichtet gegen die Freizügigkeit richtet.33 Bezwecken staatliche Tätigkeiten indes nicht unmittelbar, die Freizügigkeit einer bestimmten Person einzuschränken, so ist Art. 11 Abs. 1 GG nicht einschlägig.34 Ein Beispiel hierfür bilden allgemein geltende staatliche Planungen zur Nutzung des Bodens. Diese zielen nicht darauf, das Recht einer Person zu beschränken, an einem bestimmten Ort zu verweilen, sondern sind stattdessen darauf gerichtet, die zulässige Nutzung des Bodes zu regeln. Eine Beschränkung der Freizügigkeit kann also lediglich mittelbar aus staatlicher Planung folgen, wenn eine Wohnnutzung etwa nicht mit der staatlichen Planung vereinbar sein sollte, sodass Art. 11 GG dann nicht verletzt wird.35 Die enge Auslegung des Schutzbereichs von Art. 11 Abs. 1 GG folgt dem Umstand, dass die Schranke des Grundrechts gemäß Art. 11 Abs. 2 GG eng gefasst ist,36 was auch eine enge Auslegung des Schutzbereiches rechtfertigt.37

b) Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Eigentum gemäß Art. 14 GG (i. V. m. Art. 2 Abs. 1 LV)

Auch wenn das BVerfG ein eigenständiges Recht auf Heimat ablehnt, weist es doch darauf hin, dass Belange, die mit einem solchen Recht in Verbindung gebracht werden, insbesondere im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer Enteignung gemäß Art. 14 Abs. 3 GG Berücksichtigung finden können.38 Insoweit wird das Ergebnis der historischen Auslegung bekräftigt, dass das Recht auf Heimat einen engen Bezug zum Schutz des Eigentums im Fall von Enteignungen aufweist.

4.Teleologische Auslegung

Zu klären ist demnach, welchen Sinn und Zweck dem Recht auf Heimat gemäß Art. 2 Abs.2 LV im Zusammenhang mit Enteignungen zukommt. Die enge Auslegung des Schutzbereiches der Freizügigkeit gemäß Art. 11 Abs. 1 GG führt insoweit zu einer Rechtsschutzlücke. Art. 14 Abs. 1 GG enthält eine primärrechtliche Bestandsgarantie des Eigentums. Diese Bestandsgarantie wandelt sich aber in eine Eigentumswertgarantie, wenn die Voraussetzungen einer Enteignung gemäß Art. 14 Abs. 3 GG vorliegen. Dem Eigentümer ist dann lediglich eine Entschädigung zu gewähren.39 Mit einer solchen Entschädigung kann aber insbesondere in Fällen des Verlustes der Heimat kein hinreichend angemessener Ausgleich geschaffen werden.40 Während eine Enteignung von Eigentum zwar in der Regel materiell ausgeglichen werden kann, sind mit einem Heimatverlust zugleich immaterielle, soziale Härten verbunden, die nicht vollständig durch finanzielle Entschädigungen ausgeglichen werden können.41 Wie bereits festgestellt, wird Heimat bereits begrifflich nicht nur räumlich durch einen bestimmten Wohnort, sondern auch durch soziale Bindungen geprägt, die eine identitätsstiftende Qualität aufweisen können. Diese Rechtsschutzlücke rechtfertigt, über den nur unzureichenden primärrechtlichen Eigentumsschutz des Art. 14 GG hinauszugehen und durch ein Recht auf Heimat zu stärken.

III. Zwischenergebnis

Vor diesem Hintergrund ist Art. 2 Abs. 2 LV so auszulegen, dass das Recht auf Heimat die Möglichkeit des Staates ausschließt, Eigentum gemäß Art. 14 Abs. 3 GG zu enteignen, wenn dieses Eigentum den Lebensmittelpunkt eines Menschen darstellt. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG wird gemäß Art. 2 Abs. 1 LV in die Landesverfassung inkorporiert. Diese ist aber abweichend zur Rechtsprechung des BVerfG auszulegen, um gemäß Art. 2 Abs. 2 LV mit einem Recht auf Heimat vereinbar zu sein. Insoweit geht Art. 2 Abs. 2 LV gemäß seinem Wortlaut („darüber hinaus“) über den Grundrechtsschutz des Art. 2 Abs. 1 LV hinaus, indem es den Eigentumsschutz des Art. 14 GG zugunsten der Grundrechtsberechtigten modifiziert. Das Recht auf Heimat stellt insoweit auch ein subjektives öffentliches Recht dar.42 Diesem Ergebnis steht die gegenteilige Auslegung von Art. 14 GG durch das BVerfG nicht entgegen. Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die Länder nur dazu, Grundrechtsberechtigten mindestens den Schutz zu gewähren, den die Grundrechte des Grundgesetzes vorzeichnen.

Ein Bundesland kann den Grundrechtsberechtigten aber weitergehende Freiheitsrechte einräumen. 43 Das Land Baden-Württemberg ist hierzu in besonderem Maße aufgerufen, da es sich gemäß Vorspruch zu seiner Landesverfassung als „lebendiges Glied“ der Bundesrepublik Deutschland versteht.44 Zumal hier gemäß Art. 2 Abs. 2 LV der Schutz des Eigentums im Vergleich zu den Grundrechten zugunsten der Grundrechtsberechtigten erweitert wird, ist die dargelegte Auslegung des Rechts auf Heimat mithin verfassungsgemäß. Allenfalls problematisch wäre, wenn der grundrechtliche Schutz zugleich zulasten anderer Grundrechtsberechtigter erweitert würde. Zumal das Recht auf Heimat nicht auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe beschränkt wird, ist ein Verstoß gegen den gemäß Art. 1 Abs. 3 GG zu beachtenden Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 Abs. 3 GG aber nicht anzunehmen. 45

IV. Rechtsfolge

Das Recht auf Heimat ist gemäß Art. 2 Abs. 2 LV von dem Landesgesetzgeber zu beachten. Kompetenzkonforme bundesgesetzliche Normen gehen dem Recht auf Heimat aber nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes bzw. nach Art. 31 GG vor.46 Der Bund hat gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 14 GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für Enteignungen. Diese ist auf die Sachgebiete begrenzt, die in den Art. 73 f. GG benannt sind. Der Bundesgesetzgeber hat von dieser Kompetenz bereits weitreichend Gebrauch gemacht. Das Recht auf Heimat kann daher insbesondere Enteignungen auf der Grundlage von §§ 77 ff. BBergG oder §§ 85 ff. BauGB nicht ausschließen. Den Ländern sind aber auch Gesetzgebungskompetenzen für Enteignungen verblieben. Ein Beispiel hierfür sind Enteignungen, die auf der Grundlage des landesrechtlichen Denkmalschutzes erfolgen.47 Die Rechtsprechung hat erst kürzlich die Rechtmäßigkeit der Enteignung des Schlosses Reinhardbrunn im Freistaat Thüringen auf der Grundlage des thüringischen Landesdenkmalschutzgesetzes bestätigt.48 Der Freistaat Thüringen gewährleistet in seiner Landesverfassung allerdings kein Recht auf Heimat. Folglich hatte die Rechtsprechung nicht darüber zu entscheiden, ob ein Recht auf Heimat dieser Enteignung entgegengehalten werden kann. Das Denkmalschutzgesetz des Landes Baden-Württemberg eröffnet im Grundsatz ebenfalls die Möglichkeit zu Enteignungen (§ 25 DSchG). Eine Enteignung auf der Grundlage von § 25 DSchG wäre in Baden-Württemberg aber aufgrund des Rechts auf Heimat gemäß Art. 2 Abs. 2 LV verfassungswidrig, wenn mit der Enteignung zugleich der Lebensmittelpunkt eines Menschen entzogen würde.

 

Entnommen aus VBlBW 4/2022, Rn. 142.

 

29 Braun (Fn. 2), Art. 2 Rn. 13; Gmeiner, VBlBW 2020, 21, 23; Merten (Fn. 17), § 94 Rn. 72 (S. 458 f.); Baer, NVwZ 1997, 27, 30; Mensel (Fn. 7),S. 49 ff.

30 BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 223; so auch Durner, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 11 Rn. 91, 123; Gusy, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl., 2018; Art. 11 Rn. 34; Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, 3. Aufl., 2017, Kap. 23, Rn. 5 (S. 521).

31 BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 223; Shirvani, EnWZ 2015, 3, 5.

32 BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 225; Wollenschläger, in: Dreier, GG, 3. Aufl., 2013, Art. 11 Rn. 38; Sachs (Fn. 30), Kap. 23, Rn. 6 (S. 521).

33 BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 224; Durner (Fn. 30), Art. 11 Rn. 115, 121; Frenz, NVwZ 2014, 194, 197; a. A. Alberts, NVwZ 1997, 45, 47.

34 BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 225; Durner (Fn. 30), Art. 11 Rn. 91, 121.

35 Durner (Fn. 30), Art. 11 Rn. 121 ff.; vgl. BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 223 ff.

36 Siehe hierzu ausführlich Baer, NVwZ 1997, 27, 32 f.

37 BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 225; Wollenschläger (Fn. 32), Art. 11 Rn. 39; Sachs (Fn. 30), Kap. 23, Rn. 6 (S. 521); krit. Hierzu Mensel (Fn. 7), S. 49, 60 ff.

38 BVerfG, Urt. v. 17.12.2013, NVwZ 2014, 211, 225 f.; krit. hierzu Kühne, NVwZ 2014, 321, 325.

39 Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 116.

40 Baer, NVwZ 1997, 27, 32.

41 Baer, NVwZ 1997, 27, 32; Mensel (Fn. 7), S. 49, 50; siehe hierzu auch Mises, Human Action, Scholar’s Edition, 1998, S. 234 f.

42 So zutreffend auch Schimpff/Partsch, LKV 1994, 47, 48; i.E. auch Gmeiner, ZVLR 2020, 136.

43 BVerfG, Beschl. v. 15.10.1997, NJW 1998, 1296, 1299; Tietje, AöR 124 (1999), 282, 301 f.; Peine, LKV 2012, 385 ff.; Wittreck (Fn. 25), S. 209, 220.

44 Tietje, AöR 124 (1999), 282, 301 f.

45 Vgl. BbgVerfG LKV 1998, 395, 400.

46 VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.01.2006 – 13 S 2220/05, Rn. 56 – juris; siehe hierzu auch BbgVerfG, Urt. v. 18.06.1998, LKV 1998, 395, 398; Wittreck (Fn. 25), S. 209, 221.

47 Kleinlein, Grundrechtsföderalismus, Jus publicum, Band 287, 2020, S. 195; Guckelberger, NVwZ 2016, 17, 18.

48 ThürOLG, Beschl. v. 12.10.2020 – BI U 51/20 –; LG Meiningen, Urt. v. 11.12.2019 – (2) BLK O 2/18 –.

 

 

Prof. Dr. Sven Leif Erik Johannsen

LL.M., Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl
n/a