12.09.2022

Das coronabezogene Agieren von Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung auf dem Prüfstand (4)

Einbindung der kommunalen Spitzenverbände in bundespolitische Entscheidungen während der Corona-Pandemie – Teil 4

Das coronabezogene Agieren von Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung auf dem Prüfstand (4)

Einbindung der kommunalen Spitzenverbände in bundespolitische Entscheidungen während der Corona-Pandemie – Teil 4

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Nachdem bereits das DLT-Professorengespräch 20201 pandemiebedingt von März auf Juli 2020 verschoben werden musste,2 konnte auch das DLT-Professorengespräch 2021 erst im Spätsommer durchgeführt werden.3 Es stellte die Funktionsfähigkeit des Bundesstaates und der Kreise aus verschiedenen Anlässen auf den Prüfstand. Einen Schwerpunkt bildete dabei die nachstehend wiedergegebene, äußerst facettenreiche Diskussion zur Bewältigung der Corona-Pandemie durch die Rechtsetzung, die Verwaltung auf verschiedenen Ebenen und die Rechtsprechung. Dieser Diskussion gingen im Tagungsband dokumentierte Referate von Prof. Dr. Stephan Rixen (Bayreuth), Dr. Klaus Ritgen (Berlin) und Prof. Dr. Hubert Meyer (Hannover) voraus (Teil 4).

V. Evaluierung von Maßnahmen

Wendt kritisierte die Politik dafür, zur Pandemiebekämpfung vieles zwar angekündigt, nicht aber vollzogen zu haben. Auch sei weder rechtzeitig noch vernünftig evaluiert worden, welche Maßnahmen konkret tauglich seien. Er beklagte, man habe gerade auch in der Justiz in der Sache eine viel größere Klarheit haben müssen, um Abwägungen auf der Grundlage des Verhältnismäßigkeitsprinzips durchführen zu können. Insoweit habe die Politik schlicht nicht geliefert. Oebbecke erwiderte, dass es sich dabei nicht um ein spezifisches Defizit in der Pandemie handele. Auch sonst werde in der Regel nicht evaluiert. Man dürfe sich daher in der Pandemie unter dem dort bestehenden Problem- und Zeitdruck nicht wundern, wenn dies erneut nicht geschehe. Oebbecke bezeichnete es demgegenüber ausdrücklich als „ein Wunder“, dass Hamburg in den letzten Jahren dazu übergegangen sei, eine evidenzbasierte Schulpolitik zu verfolgen. Auch in den Kommunen würden nicht durchweg Evaluierungen durchgeführt und Vergleiche mit anderen Kommunen angestellt, da dieses Vorgehen aufwendig sei, Kräfte binde und man sich im Ergebnis davon nicht allzu viel verspreche, es sei denn, dass man politisch unter erheblichem Druck stehe.

Brüning unterstützte diesen Befund. Bestehende Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten sollten stärker evaluiert werden. Dazu sei aber auch die Wissenschaft aufgerufen, in diese Lücke hineinzustoßen, wenn dies ansonsten keiner tue. Meyer benannte durchaus erfolgreiche Gegenbeispiele. So werde in Niedersachsen bei dem dortigen starken Tierbestand jeder Seuchenzug evaluiert. Wenn eine Seuche überwunden sei, gebe es jeweils einen Aufarbeitungserlass. Im Veterinärwesen verfüge man daher über ein differenziertes Handbuch. Meyer wörtlich: „Wenn ein toter Vogel vom Himmel fällt, wissen unsere Veterinäre, was sie zu tun haben.“ Über entsprechendes Wissen verfüge man für die menschliche Pandemie mangels Vorerfahrungen noch nicht, er gehe aber davon aus, dass man entsprechend vorgehen werde.


VI. Kommunikation

Oebbecke warf die Frage auf, ob die institutionelle Aufstellung auch etwas damit zu tun habe, dass man die getroffenen Regelungen gegenüber den Bürgern breit kommunizieren müsse. Man müsse fragen, wie man unter den heutigen Bedingungen viele Bürger erreichen könne, um die getroffenen Regelungen „an den Mann zu bringen“, da viele nicht mehr Zeitung läsen oder Nachrichten schauten, sondern sich eher schlecht in den sozialen Medien informierten. Wenn dann auch noch in Münster andere Regelungen gälten als im Kreis Coesfeld oder im Kreis Warendorf, sei es umso schwieriger, diese Frage zu lösen. Oebbecke riet den Kommunalrepräsentanten, sich mit dieser Problematik vertieft auseinanderzusetzen. Seines Erachtens funktioniere das in einem Pandemiefall nicht. Zu diesem Befund sei man schließlich auch auf der Bundesebene gelangt und habe deshalb mit der Bundesnotbremse einheitliche Regelungen für alle getroffen, die auch alle hätten halbwegs verstehen können. Dass das nicht sofort gut gelungen sei, sei zuzugeben. Es stehe aber ein erklärbarer Sachdruck dahinter, der seines Erachtens nicht bestritten werden könne.

Brüning erwiderte, die Wahrnehmungen bezogen auf die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung seien keineswegs einheitlich. So gebe es Wahrnehmungen in der Politik, durch die praktisch vor Ort mit der Bekämpfung befassten Akteure, in der Bevölkerung und auch in den Medien. Diese Wahrnehmungen seien nicht nur nicht deckungsgleich, sondern variierten zum Teil sehr stark. So hätten die Menschen in Schleswig- Holstein überhaupt keine Schwierigkeit danach zu unterscheiden, in welchem der Kreise sie wohnten und welche Regelungen dort zur Anwendung kämen. Das, was in der Bevölkerung überhaupt kein Problem gewesen sei, sei medial aber immer wieder ein Riesenthema gewesen. Brüning verwies überdies darauf, dass in Schleswig-Holstein die Medien zwar nach einheitlichen Regelungen in den Kreisen gerufen hätten, nicht aber nach einheitlichen Regelungen zwischen Schleswig- Holstein und Dänemark oder etwa zwischen Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden.

Ulrich widersprach nachdrücklich Oebbeckes Einschätzung, dass man kreisbezogene Regelungen nicht an den Mann bringen könne. Dazu müsse man nur alle Kanäle nutzen, über die man verfüge. In der Tat sei die Tageszeitung heute nicht mehr das Maß aller Dinge. Der Burgenlandkreis habe aber Pressearbeit auch durch einen eigenen YouTube-Kanal gemacht. Jede Woche habe es eine zwei- bis dreistündige Pressekonferenz mit Videoschalten zu allen Medien im Landkreis gegeben. Der Landkreis, der über gut 180 000 Einwohner verfüge, habe mit seinen Pressekonferenzen in der Hochphase der Pandemie 34 000 Klicks erzielt. Die Bevölkerung habe sich sehr dafür interessiert und sich auf diese Pressekonferenzen fokussiert. Auf der Kreisebene habe man auf diese Weise nicht nur mit der Bevölkerung, sondern auch mit den Einrichtungen kommuniziert. So habe etwa auch die Kommunikation mit den Schulleitungen im Kreis hervorragend funktioniert, während das Landesschulamt insoweit völlig ausgefallen sei.

Meyer und Ritgen schlossen sich Ulrichs Ausführungen an. Meyer fügte hinzu, es sei mitnichten so, dass für die Bevölkerung alles klar sei, wenn die Bundeskanzlerin nach einer Ministerpräsidentenkonferenz mit ihr einmal erklärt habe, wie die Pandemiebekämpfungswelt künftig funktionieren solle. Auf der Landesebene erkläre der Ministerpräsident auch einmal, wie neues Recht funktionieren solle. Dann würden die Beschlüsse am Folgetag nochmals dargestellt und im Einzelnen durchdekliniert und -buchstabiert. Jede neue Regelung müsse zudem vor Ort tagelang erklärt werden. Das könne man an der Inanspruchnahme der Hotlines ablesen. Es dauere jedes Mal mindestens vier bis fünf Tage, bis der erste Ansturm bewältigt sei. Ritgen ergänzte, dass die modernen Kommunikationskanäle in vielen Landkreisen ähnlich wie von Ulrich geschildert verwendet worden seien. Das gelte besonders prominent auch für den Kreis Heinsberg, der am Beginn der Pandemie ganz massiv betroffen gewesen sei und die Kommunikation mit der eigenen Bevölkerung geradezu vorbildlich bewältigt habe. Heute könne man sich aber bei jedem Landkreis die Homepage anschauen, um auf ausführliche Informationen zu stoßen. Da werde erläutert, wie die aktuelle Regelungssituation sei. Insofern riet Ritgen dem Bund an, auf die Landkreise wegen weiterer Informationsbedarfe zu verweisen. Dann sei man bei der Kommunikation schon ein ganzes Stück weiter.

VII. Impfzentren

Ruffert ging auf die Errichtung und Vorhaltung von Impfzentren ein. Wenn man das rettende Ufer vor Augen habe, sei es aus staatlicher Sicht völlig legitim zu fordern, unverzüglich Impfzentren vor Ort einzurichten. Schließlich sei es unvorstellbar, endlich über den lang ersehnten Impfstoff zu verfügen, diesen aber nicht verimpfen zu können, weil die dafür erforderlichen Zentren nicht zuvor funktionsfähig errichtet worden seien. Auf die Kommunen komme nun aber auch die Aufgabe zu, für eine Aufstockung der Impfquote zu sorgen und insbesondere alle Querulanten zum Impfen zu bewegen. Schließlich werde von den Kommunen immer wieder ihr Vorzug betont, das eigene Klientel zu kennen. Die 20 Millionen Menschen, die in Deutschland immer noch nicht geimpft seien, befänden sich ja hauptsächlich in Landkreisen wie Sonneberg und Hildburghausen mit sehr überschaubaren Strukturen. Dort habe man deutlich unterdurchschnittliche Impfquoten. Ruffert wünschte sich, dass die Kreisebene diese Problematik löse und somit zeige, was sie könne.

Ritgen erwiderte, dass sich die Landkreise natürlich jeweils bemühten, die Impfmüden doch noch zum Impfen zu bewegen. Man müsse aber sehen, dass die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel äußerst begrenzt seien. Ulrich schloss sich dem an. Die Kreise könnten nur dann und so lange einen Beitrag zur Anhebung der Impfquote leisten, solange sie dazu Instrumente in der Hand hätten. Bekannt sei, dass die Impfzentren zum 01.10.2021 geschlossen würden. Dann werde es ganz schwierig. In Sachsen-Anhalt habe das Impfzentrum im Burgenlandkreis die mit Abstand höchste Impfquote erreicht. Nirgendwo anders impften aber angesichts der schlechten Arztquote die Hausärzte so wenig wie im Burgenlandkreis. Außerdem seien die Corona-Leugner unterwegs. Wenn man seitens der Kreise wegen der Schließung der Impfzentren nicht mehr impfen könne und sich auf wenige mobile Impfteams beschränken müsse, gäbe es die Möglichkeit der Ideenumsetzung kaum noch und man sei rein auf die privat niedergelassenen Ärzte angewiesen. Da dürfe man sich in ländlichen und teilweise „ausgebrannten“ Räumen, wie es sie insbesondere in Ostdeutschland gebe, nichts vormachen. Meyer betonte, dass sich die Landkreise zu keiner Zeit in der Krise gegen die Errichtung von Impfzentren gewehrt hätten. Man habe aber zunächst kritisiert, dass man die rasch geschaffenen Kapazitäten nicht umfassend habe zum Einsatz bringen können, weil der dafür erforderliche Impfstoff nicht zugeteilt worden sei. Die Landkreise hätten kapazitätsmäßig mithin deutlich mehr verimpfen können, als dies realiter geschehen sei. Sodann sei mit nachvollziehbaren politischen Argumenten der ambulante Bereich einbezogen worden. Auch sei inzwischen genügend Impfstoff vorhanden. Wenn man aktuell darauf schaue, wer Impfungen durchführe, seien am Sonnabend, dem 21.08.2021, in den Impfzentren in Niedersachsen 11 000 Impfungen und bei den niedergelassenen Ärzten 1000 Impfungen durchgeführt worden. Für Montag, den 23.08.2021, lauteten die Zahlen: 19 000 Impfungen in den Impfzentren und 7000 bei niedergelassenen Ärzten. Wenige Monate zuvor seien dagegen noch doppelt so viele Impfungen von niedergelassenen Ärzten im Vergleich zu den Impfzentren durchgeführt worden. Diese Entwicklung zeige ihm auf, dass das Potenzial, das der ambulante Bereich erreichen könne, offensichtlich ausgeschöpft sei. Die in den Kreisen mit Impfungen Befassten seien unterwegs in den Einkaufszentren, in den Diskotheken, in den Arbeitsagenturen, auf den Marktplätzen, in Jugendzentren oder vor Fußballstadien. Überall stünden die Kreise mit den Impfbussen, das werde aber nur noch bis zum 01.10.2021 andauern. Ob es eine kluge Entscheidung gewesen sei, die Impfzentren dann zu schließen, sei sehr zu bezweifeln. Die jetzt immer noch nicht Geimpften hätten weitestgehend keinen Hausarzt.

Resümierend schloss Meyer: „Kein Kreis hat sich dagegen gewehrt, die Impfaufgaben zu übernehmen. Dann muss man uns aber auch machen lassen.“

VIII. Digitalisierung und Schnittstelle

Oebbecke bezeichnete den Umgang der kommunalen Vertreter mit der Schnittstellenproblematik als ärgerlich, da man sich aus kommunaler Sicht die Dinge zu leicht mache. In Nordrhein- Westfalen kämen -zig verschiedene Verfahren zur Anwendung, sodass man fragen müsse, wer denn da die Schnittstellen bereitstellen solle. Dabei müsse die kommunale Seite mitwirken; das bekämen die einzelnen Kommunen aufgrund der von ihnen jeweils bereits getroffenen Einzelentscheidungen und der dahinterstehenden Interessen insbesondere mittelständischer Unternehmer aber nicht hin. Also müsse der Gesetzgeber handeln, was er über viele Jahre hinweg versäumt habe, wie ein Blick auf die Karte der KDN in NRW zeige. Er komme daher zu dem Befund, dass im Bereich der Datenverarbeitung viel Geld mit vollen Händen aus dem Fenster geworfen werde.

Ritgen erwiderte, dass der Bund hier seine Möglichkeiten noch gar nicht ausgeschöpft habe. Es gebe aber durchaus sinnvolle Regelungen etwa im Ausländerbereich, wo ein Datenverarbeitungsstandard vorgegeben worden sei. Die Ausländerbehörden müssten den Standard XAusländer verwenden. Bei diesem Standard bestünden sicherlich noch Verbesserungsmöglichkeiten, der Sachverhalt sei aber für alle klar geregelt und die Ausländerbehörden verwendeten diesen Standard untereinander ebenso wie in der Kommunikation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dieses Beispiel sei durchaus auf andere Bereiche zu übertragen. Meyer benannte als Gegenbeispiel SORMAS. Hier habe der Bund mitten in der Krise eine falsche Priorisierung vorgenommen, indem er sich auf ein bestimmtes System fokussiert habe, das installiert werden solle. Dabei habe der Bund den Eindruck erweckt, dass damit eine Problemlösung angeboten werde. In Wahrheit habe es sich aber nicht nur nicht um eine Problemlösung gehandelt, sondern um die Schaffung eines Zusatzproblems.

Meyer fügte hinzu, dass ein Gremium zur Digitalisierung der Landes- und Kommunalverwaltung in Niedersachsen auf Staatssekretärsebene, dem er ebenfalls angehöre, zu den „frustrierendsten Gesprächsrunden“ gehöre, an denen er teilnehme, da nahezu alle Teilnehmer keine spezifische Fachkompetenz hinsichtlich der konkret behandelten Fragestellungen hätten. Für sich selber habe er wenigstens das Gefühl, von einem Kollegen gut vorbereitet zu werden. Scheinlösungen brächten aber die Thematik nicht weiter. Sein ernüchterndes Fazit lautete insoweit nicht weit entfernt von Oebbecke: „Was da in den letzten Jahren an Kapazitäten verbrannt worden ist, spottet jeder Beschreibung.“

 

Entnommen aus VBlBW Heft 5/2022.

 

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Prof. Dr. Hans-Günter Henneke

Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages, Berlin
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