29.09.2022

Recht und Rhetorik – Rhetorik und Recht

Chancen und Gefahren im juristischen Kontext

Recht und Rhetorik – Rhetorik und Recht

Chancen und Gefahren im juristischen Kontext

© Andrea Izzotti – stock.adobe.com
© Andrea Izzotti – stock.adobe.com

Dass Rhetorik für Juristen eine zentrale Rolle spielt, gehört zum Allgemeingut. Doch was genau ist Rhetorik? Wie kann man rhetorische Fähigkeiten erlangen? Welche Chancen und Gefahren sind mit Rhetorik im juristischen Kontext verbunden? Der folgende Beitrag gibt Einblicke in eine interdisziplinäre Zusatzqualifikation an der Universität Tübingen.

An der Universität Tübingen kooperiert die Juristische Fakultät mit dem Seminar für Allgemeine Rhetorik, das einzige seiner Art in Deutschland, um eine wahrhaft interdisziplinäre Zusatzqualifikation anzubieten. Das Programm ermöglicht Studierenden der Rechtswissenschaft, gemeinsam mit Studierenden der Rhetorik die rhetorischen Möglichkeiten im juristischen Kontext auszuleuchten.

Rhetorische Möglichkeiten im juristischen Kontext

Mit Bewunderung schaut der Rechtswissenschaftler bisweilen auf die Kolleginnen und Kollegen aus den Naturwissenschaften. Für den Außenbetrachter stellt sich die Lage dort so dar, dass neue Erkenntnisse über praktische Experimente und theoretische Beweisführungen klar aufgezeigt werden und für die gesamte Disziplin anerkannt sind, solange sie nicht widerlegt werden. Andere Wissenschaftler nutzen diese Erkenntnisse als Grundlage für eigene Forschungsarbeiten.


Möglicherweise ist dies nur das Idealbild von außen. Klar ist jedenfalls, dass es in der juristischen Welt anders aussieht. Für uns Juristen grenzt es schon beinahe an Unmöglichkeit, die eigene Position so vorzustellen, dass alle anderen diese Position als Grundlage für die weitere Diskussion akzeptieren. Intensive Überzeugungsarbeit ist notwendig, um im Diskurs zumindest die Mehrheit für die eigene Position einzunehmen. In der Idealvorstellung setzen sich dabei die inhaltlich besten Sachargumente durch.

Zentrales Instrument für die Überzeugungsarbeit ist der logische Schluss; der Syllogismus gehört zum kleinen Einmaleins der Juristerei. Allerdings ist das syllogistische Argument längst nicht so zwingend wie bisweilen behauptet, und im argumentativen Alltag wird es häufig verkürzt, als rhetorisches Enthymem ausgeführt. Zudem kann der Jurist nur selten auf die Ergebnisse von praktischen Experimenten verweisen, und Zahlenspiele sind außerhalb der ökonomischen Analyse des Rechts gänzlich ungeeignet. Vielmehr sind Worte entscheidend.

Je offener eine rechtliche Regelung gefasst ist, desto mehr wertende Betrachtung erfordert ihre Anwendung. Bei Abwägungsprozessen stößt reine Logik allerdings schnell an ihre Grenzen. Dies macht die richtige Wahl der Worte noch entscheidender und lässt deutlich werden, welch wichtige Bedeutung der rhetorischen Persuasion im juristischen Kontext zukommt.

Die Liste bekannter, sehr wortgewandter Juristinnen und Juristen ist lang: Barack Obama, Nelson Mandela, Mahatma Gandhi, Rosa Luxemburg und Cicero[1] gehören sicherlich dazu. „Welch ein Naturtalent!“, wird bisweilen geraunt, wenn ein wortgewaltiger Redner die Zuhörer in seinen Bann zieht. Doch gute Rhetorik lässt sich durchaus erlernen und fortentwickeln. Zu diesem Zweck gibt es seit vielen Jahren an sämtlichen juristischen Fakultäten Schlüsselqualifikationsveranstaltungen mit dem Schwerpunkt Rhetorik;[2]  auch die Teilnahme an fiktiven Schieds- und Gerichtsverhandlungen erfreut sich großer Beliebtheit.[3] Seit dem Sommersemester 2020 bietet die Universität Tübingen darüber hinaus die interdisziplinäre Zusatzqualifikation „Recht und Rhetorik – Rhetorik und Recht“ an.

Das Zertifikatsstudium – ein Überblick

Die Grundidee dieser Zusatzqualifikation besteht darin, Studierende beider Disziplinen, der Rechtswissenschaft und der Rhetorik, gemeinsam die Thematik erarbeiten zu lassen. Dazu haben die Juristische Fakultät und das Seminar für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen ein einjähriges Kursprogramm konzipiert.

Inhalte und Abschnitte des Zertifikatsstudiums

Im ersten Abschnitt stehen schwerpunktmäßig juristische Inhalte auf dem Programm. Den Anfang bildet eine allgemeine Einführung in die juristische Welt mit Fragen wie „Was ist Recht?“ oder „Wie ist das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit?“ Aber auch die Anwendung rechtlicher Regelungen hat hier ihren Platz, ganz konkret in Form des bereits erwähnten Syllogismus. Den eigentlichen Veranstaltungskern bilden in diesem ersten Abschnitt des Programms vier Wahlbereiche: Arbeitsrecht, Wettbewerbsrecht, Staatsund Europarecht sowie Zivilprozessrecht. Hier besuchen die Teilnehmer in dem Fach ihrer Wahl jeweils eine Vorlesung und ein Praxisseminar.

Die Praxisseminare sind eigens für die Zusatzqualifikation „Recht und Rhetorik – Rhetorik und Recht“ konzipiert. Sie behandeln rechtliche Bereiche, in denen Rhetorik von besonderer Bedeutung ist. Unter Einbindung von Vertretern aus der Praxis schlüpfen die Teilnehmer in die Rolle verschiedener Akteure und erarbeiten Lösungen zu vorgegebenen Problemen.

In den bisherigen Seminaren ging es bspw. um die Beratung geflüchteter Menschen, um die Verhandlung vor Gericht oder auch um Gespräche mit den Kartellbehörden zur Erlangung einer benötigten Zustimmung für einen geplanten Unternehmenszusammenschluss.

Im zweiten Abschnitt des Programms steht die Rhetorik ganz im Vordergrund. Neben der Grundvorlesung „Rhetorik“ werden zwei Praxisseminare angeboten: eines zum Thema „Recht und Rhetorik in der praktischen Anwendung“ und eines mit einem wechselnden Themenschwerpunkt.

Im laufenden Wintersemester handelt es sich dabei um Pressearbeit im juristischen Kontext. Vertreter aus der Praxis stellen ihren Aufgabenbereich vor, geben Tipps und verraten Tricks aus der Alltagsarbeit. Zu Gast waren u. a. Pascal Schellenberg, Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts, Frank Bräutigam, Rechtsexperte der ARD mit regelmäßiger Berichterstattung in der Tagesschau, Anna-Sophia Lang, Redakteurin der FAZ und Gewinnerin des hessischen Journalistenpreises 2021 für ihren Beitrag „Justiz an der Corona- Front“,[4]  Corinna Budras, ebenfalls Redakteurin der FAZ, sowie Christian Seidenabel, Verantwortlicher für Presseund Öffentlichkeitsarbeit bei der Kanzlei Hengeler Mueller.

Der interdisziplinäre Ansatz

Die Universität Tübingen ist die einzige Universität Deutschlands, an der ein umfassendes Studium der Rhetorik angeboten wird. Das Seminar für allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen wurde 1967 von Walter Jens gegründet.[5]

Das Studienangebot der Rhetorik an der Universität Tübingen hat die Möglichkeit eröffnet, ein wahrhaft interdisziplinäres Studienprogramm zu entwerfen. Dies bedeutet nicht nur, dass Studierende der Rechtswissenschaft und der Rhetorik die Dinge gemeinsam angehen (vgl. oben); vielmehr setzt sich der interdisziplinäre Grundansatz auch auf der Dozentenebene fort.

Einzelne Veranstaltungen werden von einem juristisch-rhetorischen Dozententandem durchgeführt. Dies ermöglicht eine optimale Abstimmung der juristischen und rhetorischen Inhalte und greift im Grunde eine Verbindung zwischen Rhetorik und Rechtswissenschaft auf, die auf eine lange Geschichte zurückblicken kann: Das griechische Wort „rhésis“ bedeutet „reden“; aus ihm hat sich über den Begriff „rhētorikḗ“ die heutige Bezeichnung „Rhetorik“ entwickelt.[6]  Platon verwendete das Wort „rhētorikḗ“ für das Konzept erfolgsorientierten Sprechens.[7] Wie ein solches Konzept aussehen sollte, wurde damals am Beispiel der Gerichtsrede erprobt.[8]

Heutzutage geht es freilich nicht mehr nur um Reden. Im juristischen Kontext sind insbesondere auch Gesprächssituationen wie Vertragsverhandlungen oder Verhandlungen zur gütlichen Streitbeilegung von großer Bedeutung. Diese Situationen sind im Gegensatz zur Rede durch schnelle Interaktion der Gesprächspartner gekennzeichnet.[9]

Eine Skizze rhetorischer Grundfragen im juristischen Kontext

Unterschiedliche Rahmenbedingungen und unterschiedliche Gesprächspartner bzw. Zuhörer erfordern freilich unterschiedliche Persuasionskonzepte. Kernanliegen der Rhetorik ist die Entwicklung adressatengerechter Kommunikationsmethoden und -stile, die zur jeweiligen Sache und zu den jeweiligen Rahmenumständen passen.[10]

Zwar können in allgemeiner Form rhetorische Mittel diskutiert und entworfen werden; die eigentliche Kunst der angewandten Rhetorik besteht jedoch darin, aus dieser Palette von Möglichkeiten für den jeweiligen Anlass die geeignetsten auszuwählen.[11] Besondere Probleme ergeben sich, wenn ein- und derselbe Text mehrere Adressaten unterschiedlicher Art hat; typisches Beispiel ist der Anwaltsschriftsatz, der bei Gericht eingereicht wird.[12]

Die Abstimmung auf den jeweiligen Adressaten[13] erfolgt im Wege des Perspektivenwechsels: Entscheidend ist zu erlernen, sich in die Empfängerposition hineinzuversetzen.[14]  Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere Unterschiede auf der Ebene des Sprachniveaus, Unterschiede auf der Ebene der persönlichen äußeren Umstände und Unterschiede auf emotionaler Ebene.

Wie gut die Identifikation mit den Zuhörern oder Gesprächspartnern funktioniert, hängt bis zu einem gewissen Grade von den persönlichen Erfahrungen desjenigen ab, der den Perspektivenwechsel versucht.[15]

Herausforderungen für die Rhetorik durch Corona

Die Abstimmung auf die jeweiligen Rahmenumstände[16] hat durch Corona eine neue Herausforderung erfahren: Die Präsenzsituation ist vorübergehend durch Videokonferenzformate ersetzt worden. Dabei sieht man regelmäßig nur einen Teil des Oberkörpers sowie den Kopf der übrigen Teilnehmer; Gestik mit den Händen erscheint bisweilen überproportional groß, und vor allem kann man sich nicht gegenseitig ins Gesicht sehen.

Das Studienprogramm „Recht und Rhetorik – Rhetorik und Recht“ verfolgt allerdings nicht nur das Ziel, anwendungsbezogene Rhetorik zu vermitteln; es geht auch darum, wahre Einblicke in die Rhetoriktheorie zu erhalten, um neben den Chancen, die mit Rhetorik verbunden sind, auch die Gefahren und das Missbrauchspotential zu verstehen, die von dem Einsatz von Rhetorik ausgehen können.

Kurzgefasst: Es geht um das systematische Erlernen[17] von Rhetorik in der Anwendung sowie die Entwicklung des Verständnisses von Rhetorik in seinen Grundideen, Möglichkeiten und Gefahren.

Im Rhetorikteil des Programms werden die juristischen Anwendungsfelder aufgegriffen, die im ersten Teil thematisiert worden sind. Umgekehrt werden in den rechtsbezogenen Abschnitten des Programms bereits rhetorische Elemente integriert. Zentraler Ort dafür sind die Praxisseminare, die durch den Besuch der Vorlesungen inhaltlich vorbereitet werden.

In Kleingruppen werden praktische Übungen durchgeführt. Die Studierenden selbst sollen dann über Rückmeldungen Stärken und Schwächen des jeweiligen Vortrags herausarbeiten. Dazu ist zunächst zu erlernen, wie optimales Feedback aussieht. Getestet werden kann der Eindruck über Feedback zum Feedback.[18]

Klare Gedanken sind der Grundstein für eine gelungene Kommunikation

Bewertungskriterien für den Einsatz rhetorischer Mittel sind die Effektivität im Hinblick auf das gesetzte Kommunikationsziel sowie die Angemessenheit in Bezug auf Adressaten und Rahmenbedingungen.[19] Die gemischte Zusammensetzung der Studierendengruppe aus Studierenden der Rechtswissenschaft und Studierenden der Rhetorik schafft hier bereits ein optimales Testfeld mit Zuhörern, die unterschiedliche Hintergründe mitbringen.

In den juristischen Praxisseminaren schlüpfen die Studierenden der Rechtswissenschaft in die Rolle von Lehrenden, um den Studierenden aus der Rhetorik unter Anleitung eines Dozenten Rechtsprobleme zu erläutern. In den Rhetorikseminaren wechseln dann die Rollen. Insofern macht das Programm intensiv vom pädagogischen Ansatz des inverted classroom Gebrauch.

Bei alledem ist freilich zu beachten: Inhaltlich klare Gedanken sind die Voraussetzung für eine gelungene Kommunikation der Ideen. Rhetorik sollte nicht dazu eingesetzt werden, schlechte Inhalte gut erscheinen zu lassen. Andernfalls gerät Rhetorik leicht in Verruf als Kunst der „Verstellung“.[20]

 

Dieser Beitrag stammt aus dem „Wirtschaftsführer für junge Juristen“.

 

[1] Zu Cicero s. Knape, Allgemeine Rhetorik, 2. Aufl. 2015, S. 91 ff.

[2] Vgl. dazu Tröger, Rhetorik für Juristen, 2021, S. 53 ff.

[3] Vgl. dazu Benicke/Huber/Haubold in: Jung/ Kolesnikova (Hrsg.), Fachsprachen und Hochschulen, 2003, S. 217 ff.

[4] Näher dazu https://hessischer- journalistenpreis. de/.

[5] Vgl. zu seiner Person Knape in: Knape/Kramer/ Kuschel/Till (Hrsg.), Walter Jens, 2014, S. 9 ff.

[6] Knape in: Wulf (Hrsg.), Juristische Rhetorik – Einweihung des „Gerichts- und Verhandlungssaals in der Neuen Aula [der Universität Tübingen] am 10. Juni 2010, 2012, S. 35 (36).

[7] Walker in: Ueding (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 7, 2002, S. 1424.

[8] Vgl. Knape (Fn. 6), S. 35 (43); T. Walter, Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2. Aufl. 2017, S. 65 ff.

[9] Vgl. Haft, Juristische Rhetorik, 7. unv. Aufl. 2022, S. 162 ff.

[10] Gleiss/Kramer, Perspective Taking als Methode zur kommunikativen Kompetenzentwicklung im Jurastudium, Rhetorik – ein internationales Jahrbuch 40 (2021), S. 31 (34); Haft in: Ueding/ T. Vogel (Hrsg.), Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit, 1998, S. 90 (100 ff.).

[11] Vgl. Gleiss/Kramer (Fn. 10), S. 31 (34 f.).

[12] Vgl. Gleiss/Kramer (Fn. 10), S. 31 (33 f.).

[13] Zur Adressatenorientierung im juristischen Kontext vgl. Tröger (Fn. 2) S. 19 ff., 48 f.

[14] Vgl. Gleiss/Kramer (Fn. 10), S. 31 (35).

[15] Vgl. Knape, Was ist Rhetorik?, ergänzte Ausgabe, 2012, S. 63.

[16] Zur „Rede-Situationsanalyse“ im juristischen Kontext vgl. Tröger (Fn. 2) S. 19 ff., 62 ff. 17) Vgl. Gleiss/Kramer (Fn. 10), S. 31 (34).

[17] Vgl. Gleiss/Kramer (Fn. 10), S. 31 (34).

[18] Vgl. Gleiss/Kramer (Fn. 10), S. 31 (42).

[19] Vgl. Gleiss/Kramer (Fn. 10), S. 31 (43).

[20] So der Vorwurf von Goethe in: West-östlicher Divan, abgedruckt bei Trunz (Hrsg.), Goethes Werke, Band 2: Gedichte und Epen 2, 10. Aufl. 1976, S. 186: Die „Redekunst […] ist Verstellung von Anfang bis zu Ende.“ Vgl. dazu Vickers, Mächtige Worte: antike Rhetorik und europäische Literatur, 1988, S. 168. Zur sogenannten „verbotenen Rhetorik“ s. Kramer in: Knape/Kramer/Schirren (Hrsg.), Rhetorik, 2012, S. 165 ff.

 

Prof. Dr. Stefan Huber

Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Insolvenzrecht, Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen.
 

Prof. Dr. Olaf Kramer

Geschäftsführender Direktor des Seminars für Allgemeine Rhetorik an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen
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