05.09.2022

Das coronabezogene Agieren von Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung auf dem Prüfstand (3)

Einbindung der kommunalen Spitzenverbände in bundespolitische Entscheidungen während der Corona-Pandemie – Teil 3

Das coronabezogene Agieren von Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung auf dem Prüfstand (3)

Einbindung der kommunalen Spitzenverbände in bundespolitische Entscheidungen während der Corona-Pandemie – Teil 3

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Nachdem bereits das DLT-Professorengespräch 20201 pandemiebedingt von März auf Juli 2020 verschoben werden musste,2 konnte auch das DLT-Professorengespräch 2021 erst im Spätsommer durchgeführt werden.3 Es stellte die Funktionsfähigkeit des Bundesstaates und der Kreise aus verschiedenen Anlässen auf den Prüfstand. Einen Schwerpunkt bildete dabei die nachstehend wiedergegebene, äußerst facettenreiche Diskussion zur Bewältigung der Corona-Pandemie durch die Rechtsetzung, die Verwaltung auf verschiedenen Ebenen und die Rechtsprechung. Dieser Diskussion gingen im Tagungsband dokumentierte Referate von Prof. Dr. Stephan Rixen (Bayreuth), Dr. Klaus Ritgen (Berlin) und Prof. Dr. Hubert Meyer (Hannover) voraus (Teil 3).

III. Rechtmäßigkeitsmaßstäbe

Eine erhebliche Rolle nahm in der Diskussion die Frage ein, ob Rechtmäßigkeitsmaßstäbe in der Coronapandemie verändert worden seien. Wißmann kritisierte, dass mit Kritikern von Coronabekämpfungsmaßnahmen äußerst kritisch umgegangen worden sei und werde. Bei ihm habe sich der Eindruck verfestigt, dass man sich während des Erlasses von Maßnahmen nicht habe beschweren sollen, das sei als „alarmistisch“ charakterisiert worden, hinterher aber auch nicht, das sei als „Besserwisserei“ diskreditiert worden. Auch auf die Mehrheit der „schweigenden Untertanen“ habe man seines Erachtens mehr eingehen müssen. Dieses Begriffspaar wurde von Brüning und Rixen wieder aufgegriffen, wobei Rixen erwiderte, was geboten sei, liege zwischen alarmistischer Geistreicherei und rechthaberischer Besserwisserei. Man dürfe Kritik nicht ausblenden, als gäbe es nichts Problematisches, solle dies aber mit einem Denkstil der Entdramatisierung tun.

Wißmann stellte heraus, auch er sei gegen überdimensionierte Verfassungsmäßigkeitsprüfungen bei allen möglichen kleinen Regeln. Daraus dürfe man aber nicht den Umkehrschluss ziehen und die Verhältnismäßigkeit von gesetzlichen Maßnahmen gar nicht mehr prüfen nach dem Motto: „Jetzt nehmt euch in einer solchen Situation bitte einmal zurück.“ Schließlich seien klare und konkrete Parameter vorhanden, die beim Rechtsschutz vom 1. Senat des BVerfG mit zu leichter Hand weggewischt worden seien. Dafür sei die Ausgangssperre in all ihrer Symbolhaftigkeit ein gutes Beispiel. Er könne nicht verstehen, warum sich das BVerfG nicht zu der Feststellung aufgerafft habe, dass diese in der Regel zur Pandemiebekämpfung überhaupt nichts nutze. Vom BVerfG habe man die Erkenntnis, dass es so nicht gehe, erwarten können, zumal in Art. 104 Abs. 1 GG eindeutig geregelt sei, dass Freiheitsbeschränkungen nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes angeordnet werden könnten. „Aufgrund eines Gesetzes“ sei aber verfassungsrechtlich etwas völlig anderes als das sich an vielen Stellen des Grundgesetzes findende „durch ein Gesetz“. Im letzteren Fall könne der Gesetzgeber direkt Grundrechtsbeschränkungen anordnen. Bei der Verwendung der Wendung „aufgrund eines Gesetzes“ habe bisher aber Konsens darüber bestanden, dass ein Handeln der Exekutive dazwischentreten müsse. Über diese Differenzierung sei der 1. Senat in Karlsruhe einfach hinweggegangen mit der Feststellung, es handele sich nur um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dieses Vorgehen richte sich klar gegen die Logik einer 70 Jahre alten Grundgesetzinterpretation, wobei er nicht verstehen könne, warum man so vorgegangen sei. Schließlich hätte man mit leichter Hand feststellen können, dass diese gesetzesunmittelbare Beschränkung im gewaltengeteilten Staat, der auch noch föderal gegliedert sei, unzulässig sei und eine Freiheitsbeschränkung durch ein weiteres exekutives Handeln und nicht durch die unmittelbare Entscheidung des Gesetzgebers angeordnet werden dürfe. Wenn der Gesetzgeber anordnet „Du darfst nicht raus“, sei das eine rechtlich bindende Entscheidung, die nicht mehr vollzogen werden müsse. Dabei könne man sich argumentativ nicht darauf zurückziehen, dass mit Art. 104 GG nur Freiheitsbeschränkungen in Diktaturen gemeint seien.


Becker knüpfte direkt daran an und machte eine Entindividualisierung durch die Pandemie aus. Wir seien ein Volk von Coronabekämpfern geworden. Zu diesem Zweck sei zum Teil in einem Maße über Grundrechte hinweggegangen worden, welches durchaus exemplarisch und gefährlich sei. Mittlerweile befinde man sich in einer Situation, in der die anfängliche Schockstarre im Krisenfall, die alle verstanden hätten, zum Normalfall werde und die Generalprobe für das noch größere Problem der Bekämpfung der Klimakrise darstelle. Becker meinte, früher wäre in vielen Konstellationen durch die Verwaltungsgerichte in zwei Sätzen schlicht die Unverhältnismäßigkeit von Maßnahmen dargelegt worden. Jetzt gewöhne man sich daran, dass Verhältnismäßigkeitsfragen keine Rolle mehr spielten – womit die Bevölkerung schon auf die nächste große Krise vorbereitet werde. Man brauche sowohl mit Blick auf den Parlamentarismus als auch auf den Föderalismus und den Wert von individueller Freiheit wieder eine Umkehr zu früheren Handhabungen, um vom Krisenmodus mit mehr Entscheidungsspielräumen des Gesetzgebers und etwas weniger gerichtlicher Kontrolle wieder in den normalen Modus zurückzukehren.

Kirchhof kritisierte, dass im Infektionsschutzgesetz die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems neben dem Schutz von Leib und Leben als Zweck der Pandemiebekämpfungsmaßnahmen genannt werde. Dabei könne es sich aber nur um ein Hilfsziel handeln. Anderenfalls seien Grundrechtseingriffe zulässig, um das Gesundheitssystem vor Überlastungen – und das bedeute im Ergebnis: um die Verwaltung – zu schützen. Es gebe aber den alten polizeirechtlichen Grundsatz, dass die Polizei sich ihre Arbeit nicht dadurch leichter machen dürfe, indem sie Eingriffe beim Bürger vornehme, um so ihren Verwaltungsaufwand zu minimieren. Insoweit müsse man hellwach sein. Kirchhof riet insoweit zu Spezifizierungen, indem etwa auf die Überbelegung von Intensivstationen oder die Schwere von Erkrankungen abgestellt werde.

Rixen erwiderte, er sei Kirchhof für diese Differenzierung zwischen Hauptzweck und Hilfsziel dankbar. Man verfüge häufig über verschiedene Gesetzesziele und müsse dann auslegen, wie sich diese zueinander verhielten. Kirchhof habe eine Zuordnung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als verkapptes Ziel vorgenommen, das die Verwaltung entlasten solle. Das zeige aber das grundsätzliche Problem auf, wie bei Verhältnismäßigkeitsprüfungen die Gesetzeszwecke zu definieren seien und in welchem Verhältnis sie zueinander stünden. Dabei handele es sich um allgemeine Fragestellungen, die in der Pandemiesituation in neuem Lichte betrachtet werden müssten. Das gelte auch für das Thema der Eingriffsbefugnis in Grundrechte.

Ruffert merkte an, dass im Klimabeschluss des BVerfG der Eingriffsbegriff sehr entgrenzt worden sei. Daher werde man auch bei einer mittelbaren Impfpflicht zur Annahme eines Grundrechtseingriffs gelangen. Dieser lasse sich aber sehr gut damit rechtfertigen, dass die Pandemie bewältigt werden könne, wenn die 20 Millionen Menschen, die noch nicht geimpft seien, ebenfalls geimpft würden. Die letzten 18 Monate mit den vielfältig erprobten Maßnahmen hätten gezeigt, dass es kein milderes Mittel gebe. Eine entsprechende Regelung müsse seines Erachtens aber auf Bundesebene erfolgen.

IV. Rechtsschutz

1. Verfassungsgerichte

Wendt bekannte, dass die rechtlichen Regelungen der Pandemiebekämpfung doch mit viel mehr Problemen verbunden seien, als man ursprünglich angenommen habe. Man habe es nicht mit klassischer Gefahrenabwehr zu tun, sondern vielfach mit bloßem Gefahrenverdacht. Das führe dazu, dass man das rechtliche Instrumentarium neu überdenken und zum Teil anpassen müsse. In §§ 28 ff. IfSG gäbe es diverse Ungereimtheiten, Widersprüchlichkeiten und Unbestimmtheiten. Ursprünglich habe man nur über § 28 IfSG verfügt und sei nahezu der Auffassung gewesen, auf diesen Paragraphen sogar „eine Revolution stützen“ zu können. Das sei jedenfalls pandemiebezogen in der Folgezeit im Grunde ja auch geschehen, da zunächst alle Maßnahmen auf diese Norm gestützt worden seien. Der SaarlVerfGH (LVerfGE 31, 359) habe dem aber im August 2020 ein Stück weit Einhalt geboten, in dem er die rechtsstaatliche Rollenverteilung wieder zur Geltung gebracht habe. Nicht die Einschränkung der Grundrechte sei das Normale, sondern die grundrechtliche Freiheit, die zur Geltung zu bringen sei. Aus diesem Grund habe der SaarlVerfGH den „triftigen Grund“, der normativ vorhanden sein musste, um die eigene Wohnung verlassen zu dürfen, gekippt. Diese Argumentation habe sich sodann ja auch über das Saarland hinaus durchgesetzt. Der SaarlVerfH sei zunächst eigene Wege gegangen, andere seien dann zum Teil gefolgt.

Als die Kontaktnachverfolgung nur auf § 28 IfSG gestützt worden sei, habe der SaarlVerfGH entschieden, dass es dieser Vorschrift an rechtsstaatlicher Bestimmtheit fehle und damit keine tragfähige Ermächtigung zur Grundrechtseinschränkung in einem Parlamentsgesetz vorliege. Daraufhin habe der Landesgesetzgeber nachbessern müssen. Der SaarlVerfGH habe so Art. 80 Abs. 4 GG aktiviert, wonach die Länder zu einer Regelung auch durch Gesetz befugt seien, soweit durch Bundesgesetz oder aufgrund von Bundesgesetzen Landesregierungen ermächtigt seien, Rechtsverordnungen zu erlassen. Diese Vorschrift habe bis dahin in den Grundgesetzkommentierungen immer nur ein Schattendasein geführt. Der SaarlVerfGH habe mithin dem saarländischen Landtag aufgegeben, ein eigenes Kontaktnachverfolgungsgesetz zu erlassen. Das habe er sodann getan und im Anschluss daran sogar noch ein COVID- 19-Gesetz erlassen, das in der Öffentlichkeit angegriffen worden sei. Sodann habe der Bundesgesetzgeber § 28 a IfSG eingefügt.

Seither sei unklar, wie sich das Landesgesetz und das geänderte Bundesgesetz zueinander verhielten. Diese Fragestellung sei bis jetzt noch nicht ausgetragen worden. Davon abgesehen habe sich das Vorgehen im Saarland aber in der Übergangsphase als gangbarer Weg erwiesen. Wendt verwies zudem darauf, dass es eine ganze Reihe weiterer eigentümlicher Verfahrensweisen gegeben habe, die sich während der Pandemie eingebürgert hätten. So seien immer wieder Verfassungsbeschwerden beim SaarlVerfGH eingegangen, die dieser verfahrensgemäß der Landesregierung zur Beteiligung vorgelegt habe. Dabei habe der SaarlVerfGH zu erkennen gegeben, was er von den Beschwerden in rechtlicher Hinsicht halte. Im 14-Tage-Rhythmus seien dann von der Landesregierung neue Rechtsverordnungen erlassen worden, mit denen einzelnen Verfassungsbeschwerden die Grundlage entzogen worden sei durch Anpassung der Rechtslage an die vom Beschwerdeführer gewünschte Richtung. So habe sich ein Vater dagegen gewandt, bei der standesamtlichen Trauung der Tochter wegen rechtlicher Beschränkung der Personenzahl nicht dabei sein zu dürfen. In dieser wie in anderen Konstellationen habe das Land wiederholt sehr schnell auf bestehende Unzulänglichkeiten mit Neuregelungen reagiert.

Zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes merkte Wendt an, dass viele Oberverwaltungsgerichte adäquaten Rechtsschutz gewährt hätten, so auch das SaarlOVG. Sehr viele Entscheidungen seien in der Sache sehr vernünftig gewesen und auch sehr schnell ergangen. Darin liege eine ungeheure Leistung der Verwaltungsrichterschaft. Demgegenüber machte Wendt Defizite beim BVerfG aus. Wie andere Gerichte auch habe das BVerfG unter dem Blickwinkel der Wesentlichkeitstheorie und des Parlamentsvorbehalts Bedenken bezogen auf § 28 und § 28 a IfSG ausgemacht, sodann aber die Auffassung vertreten, darüber nicht in Eilverfahren entscheiden zu können. Er habe die Gründe dafür nicht verstanden. Kläger hätten gegenüber dem SaarlVerfGH dargelegt, dass die von ihnen geltend gemachten Beschwerden seit über einem Jahr nicht entschieden worden seien. Überall würden die Fragen thematisiert, aber es fehlten verbindliche Entscheidungen, ob bestimmte Maßnahmen verhältnismäßig seien. Das könne nach mehr als einem Jahr nicht richtig sein. Wendt vertrat klar die Position, dass das BVerfG hier hätte energischer agieren müssen. Dem BVerfG habe insoweit einfach „der Biss“ gefehlt.

Ferdinand Kirchhof widersprach dem deutlich. Eilverfahren vor dem BVerfG dienten ja nicht nur dazu, ein Gericht vor Überlastung zu schützen, sondern seien oft erforderlich, weil das Hauptsacheverfahren aus prozessrechtlichen Gründen Zeit benötige. Nach Zustellung einer Verfassungsbeschwerde müssten oft Professoren Gutachten erstellen, womit mindestens drei Monate vergingen. Zudem werde sodann häufig ein Gegengutachten angefordert, was nochmals drei Monate benötige. Bei Gesetzen tue sich das Bundesverfassungsgericht mit einstweiligen Anordnungen aber sehr schwer, das Inkrafttreten zu stoppen, weil man dann Gefahr laufe, sechs oder neun Monate später mit der Hauptsacheentscheidung festzustellen, dass die einstweilige Anordnung falsch gewesen sei.

2. Verwaltungsgerichte

Rennert führte aus, dass man beim verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz generell ein strukturelles Problem habe und davon gesondert die Ausnahmelage in der Pandemie zu betrachten sei. Er stellte die These auf, dass man in der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit eigentlich keinen einstweiligen Rechtsschutz, sondern einen „eiligen Hauptsacherechtsschutz kleinen Formats in zwei Instanzen“ und einen ausgiebigeren Hauptsacherechtsschutz in voller Besetzung mit drei Rechtszügen habe. Daher müsse man über die Ausgestaltung des einstweiligen Rechtsschutzes besonders unter dem Gesichtspunkt der Zeitdauer näher nachdenken. Dass Anträge auf einstweilige Anordnung, auf § 80 Abs. 5-Rechtsschutz oder auch nach § 47 Abs. 6 VwGO nach drei, sechs oder zehn Monaten in der ersten Instanz entschieden würden, sei materiell eigentlich kein einstweiliger Rechtsschutz mehr. Mit dieser grundsätzlichen Thematik werde man sich beschäftigen müssen.

Ulrich berichtete demgegenüber von positiveren Erfahrungen hinsichtlich der Dauer von Eilverfahren. Eine Rechtsverordnung des Burgenlandkreises sei vom VG Halle innerhalb einer Woche geprüft und bestätigt worden. Dass sei für die Rechtssicherheit sehr hilfreich gewesen. Rennert fuhr fort, dass des Weiteren ein völliges Durcheinander bei der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle bestehe, da dort der Rechtsschutz nach § 47 VwGO vom Gesetzeber vollständig nur gegen Bebauungspläne, unvollständig gegen untergesetzliche landesrechtliche Vorschriften und praktisch gar nicht gegen sonstige untergesetzliche bundesrechtliche Regelungen gewährt werde. Das habe dazu geführt, dass der „Notrechtsbehelf “ der Feststellungsklage beim Verwaltungsgericht gegen Bundesrechtsverordnungen erfunden und vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet worden sei, statt von dort aus die Gelegenheit zu nutzen, dem Gesetzgeber „Beine zu machen“.

Rennert plädierte in rechtspolitischer Hinsicht dringend dafür, eine verwaltungsgerichtliche Rechtskontrolle gegen Bundesrechtsverordnungen zu ermöglichen, und das beim Bundesverwaltungsgericht, ein Vorschlag, dem Kluth sogleich zustimmte. Sodann befasste sich Rennert mit der Coronalage. Wenn man akzeptiere, dass die Coronapandemie oder eine vergleichbare Krise in der Zukunft vom Gesetzgeber zum Anlass für die Etablierung eines Sonderregimes genommen werde und Gegenstand des Sonderregimes die Ausdehnung von Bundeskompetenzen sei, indem vor allem Regelungskompetenzen der Exekutive von den Landesregierungen auf die Bundesregierung transferiert würden, um eine bundeseinheitliche Regelung – und sei es nur für drei oder sechs Monate – zu erzeugen, dann werfe diese spiegelbildlich die Frage auf, ob dem nicht als Pendant auch eine Veränderung in der Rechtsschutzgewährung folgen müsse, was von Kluth ebenfalls bejaht wurde. Rennert hob dabei hervor, dass sich der Gesetzgeber diese Frage bisher nicht gestellt habe. Wenn man aber zu dem Befund komme, sich in der Ausnahmelage den Wettbewerbsföderalismus meine nicht leisten zu können, sondern für einen befristeten Zeitraum rasche und klare bundeseinheitliche Regelungen durch den Bund benötige, dann müsse die Antwort auf der Rechtsprechungsseite ebenfalls rasch und zentralisiert erfolgen, damit der Dialog zwischen dem Verordnungsgeber und der Rechtsprechung symmetrisch erfolgen könne. Werde demgegenüber die Rechtskontrolle dezentral bei den Verwaltungsgerichten belassen, führe das zwangsläufig zu einer Kakophonie in der Rechtsprechung. Während der Coronapandemie habe man allerdings zum Glück bisher über eine vergleichsweise einheitliche Rechtsprechung durch die Verwaltungsgerichte verfügt. Das liege aber im Wesentlichen daran, dass die Verwaltungsgerichte Entscheidungen auf die lange Bank geschoben hätten, um dem Normgeber nicht gleich ins Handwerk zu pfuschen. So seien nur Randelemente korrigiert und alles Weitere in künftige Verfahren verschoben worden, ohne zu wissen, ob es zu diesen überhaupt kommen werde. Ein derartiges Vorgehen könne sich der Rechtsstaat aber unter Rechtsschutzgesichtspunkten eigentlich nicht leisten.

Rennert zog daraus das Resümee, dass der Gesetzgeber in einer Sonderlage zugleich an die Verortung der Rechtsprechung denken müsse, um ein Rechtsschutzäquivalent für diese Sonderlage zu schaffen, womit immer noch nicht festgestellt sei, ob Corona und die Feststellung der Notlage von nationaler Tragweite überhaupt eine Sonderrechtslage begründet habe. Rixen erwiderte, Rennerts Überlegungen zur Kongruenz seien für die künftige Diskussion sehr bedeutsam. Wenn man schon bei bestimmten Regelungen materiell-rechtlicher Art zu einer Zentralisierungswirkung komme, dann müsse dazu auch der Rechtsschutz passen. In künftig vergleichbaren Konstellationen müsse man in der Tat viel stärker schauen, wie für eine besondere Lage, die über das Übliche hinaus gehe, der Rechtsschutz der Sonderlage entsprechend gestaltet und damit ggf. zeitweilig zentralisiert werde. Mit Blick auf den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz vermochte Rixen die von Becker eingenommene Einschätzung, auch die Verwaltungsgerichte hätten keine rühmliche Rolle gespielt, nicht nachzuvollziehen. Schließlich könne man von den Verwaltungsgerichten nicht eine Klarheit und Entschiedenheit erwarten, die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion ansonsten auch nicht vorhanden sei. Insgesamt befinde man sich in einem Suchprozess; das gelte auch für die Gerichte. Vorrangig sah Rixen insoweit eine Bringschuld in der Zunft der Staatsrechtslehrer. Wenn von hier Vorschläge kämen, werde man aber schnell feststellen, dass es ganz unterschiedliche Auffassungen gäbe. Von daher finde er, dass es ein vernünftiger Zugang der Gerichte gewesen sei, etwas vorsichtiger zu sein und erst einmal abzuwarten. Nach mittlerweile 1 1/2 Jahren müsse sich dieses Vorgehen natürlich verändern. Aber gerade in der Anfangszeit von den Gerichten eine Klarheit zu verlangen, die ansonsten auch nicht vorhanden sei, könne er nicht nachvollziehen. Schließlich seien die Gerichte insoweit auch nicht klüger als alle anderen.

Beim Rechtsschutz gegen Corona-Bekämpfungsmaßnahmen sah Burgi das zentrale Problem nicht darin, dass zu wenig Zugang zu den Gerichten bestanden habe, sondern darin, dass die Gerichte bislang überhaupt noch keine Hauptsacheverfahren entschieden hätten. Jede einzelne Eingriffskategorie wie Ausgangssperren, Betriebsschließungen, Maskentragungspflichten oder Schulschließungen sei jedenfalls vor die Verwaltungsgerichte gebracht worden. Und jede Eingriffskategorie sei auch bei einem Obergericht gelandet. Daher habe man durchaus darüber nachdenken können, je Eingriffstypus eine Sache sogleich in der Hauptsache zu entscheiden. Burgi vertrat die Auffassung, dass die Publikation solcher Entscheidungen so viel Erkenntnisgewinn und Rechtssicherheit gebracht hätte, dass andere mit ihren Verfahren dadurch zwar hätten etwas länger warten müssen, auf diesem Wege aber jeder dann eigentlich gewusst habe, „wie der Hase läuft“. Mit den bloßen Eilentscheidungen habe man demgegenüber sowohl den Behörden wie den Rechtsschutzsuchenden Steine statt Brot gegeben, vor allem, wenn man an die wirtschaftlich Betroffenen denke. Wenn man sein Geschäft über sechs Monate hinweg habe keinen einzigen Tag öffnen können, nütze es nichts, wenn eine Hauptsacheentscheidung im kommenden November ergehe, weil das Geschäft dann gar nicht mehr existiere. Burgi riet daher dazu, nicht potenzielle Klägergruppen noch zu erweitern, sondern im Rechtsschutz darüber nachzudenken, Formen des Musterverfahrens einzuführen. Während Burgi davon abriet, aus der Coronapandemie Forderungen nach einer Stärkung des überindividuellen Rechtsschutzes abzuleiten, nahm Oebbecke – wie ihm folgend auch Pielow – insoweit die Gegenposition ein. So hätten Bewohner eines Altenheimes, oft leicht dement und betreut, mit ihren Rechten seines Erachtens eindeutig keinen hinreichenden Zugang zum Rechtsschutz. Das Heim verfolge im Zweifel die Intention, den Besuchszugang zu erschweren, weil das den Ablauf in der Pandemie operativ erleichtere. Von Betreuern sei insoweit auch nichts zu erwarten. In diesen Konstellationen mache man es sich mit der Ablehnung von noch mehr kollektivem Rechtsschutz mithin zu leicht.

Wißmann konzedierte, dass man sich seit Beginn der Pandemie auf dem Feld der Gefahrenerforschung befinde. Es sei um das ganz weit vorgelagerte Bekämpfen von möglichen Gefahren in einer völlig unsicheren Situation bei sehr großer Eingriffstiefe gegangen. Dieses Phänomen sei in der Eilrechtsprechung ein Problem, da man nach wie vor so handele, als ob man noch nicht viel wisse und deshalb auch nicht entscheiden könne, man hinterher aber oft nicht mehr zu entscheiden brauche, weil sich die Problemlage so oder so aufgelöst habe.

Wißmann verwies sodann als Gegenbeispiel auf den Eilrechtsschutz im Beamtenrecht. Dort werde der Staat nicht von vertiefenden Begründungen freigestellt, sondern die Rechtsprechung habe klare Anforderungen an staatliche Begründungslasten auch im Eilrechtsschutz gestellt. Er sah daher ein großes Problem darin, dass „unter dem Label der Pandemie“ viele Rationalitäten, die man sich zuvor erarbeitet habe, unter Berufung auf praktische Gründe ausgesetzt worden seien. Jedenfalls sei es geboten, in Zukunft wieder dahin zu kommen, wo man sich vor der Pandemie befunden habe und nicht die Handhabung in der Pandemie als Muster für die Zukunft zu nehmen.

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

Entnommen aus VBlBW Heft 5/2022.

 

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Die Serie: Das coronabezogene Agieren von Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung auf dem Prüfstand

 

 

 

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke

Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages, Berlin
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