15.05.2011

„Atom-Moratorium“ der Bundesregierung

Rechtmäßige Risikovorsorge oder willkürliches Wahlkampfkalkül?

„Atom-Moratorium“ der Bundesregierung

Rechtmäßige Risikovorsorge oder willkürliches Wahlkampfkalkül?

Atomdiskussion: erst Laufzeitverlängerung, dann Kehrtwende. | © Gina Sanders - Fotolia
Atomdiskussion: erst Laufzeitverlängerung, dann Kehrtwende. | © Gina Sanders - Fotolia

Nach dem Reaktorunfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima I verkündete die Bundeskanzlerin am 14. 03. 2011 ein dreimonatiges „Moratorium“ für die Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke. In der Folgezeit wurden die sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke – ohne eine Beteiligung des Bundestages – vom Netz genommen. Das „Moratorium“ hat einen Sturm der Entrüstung unter Verfassungsrechtlern entfacht: Nahezu einhellig wird der Regierungsbeschluss als gesetzeswidrig, ja sogar als verfassungswidrig gebrandmarkt. Bei näherem Hinsehen erweist sich die Rechtslage jedoch als durchaus komplex.

Aussetzung der Geltung der Laufzeitverlängerung durch Bundesregierung verfassungswidrig

Vorab ist den Kritikern des „Atom-Moratoriums“ eines zuzugestehen: Soweit das „Moratorium“ dahin zu interpretieren ist, dass die durch das Elfte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 08. 12. 2010 (BGBl. I S.1814) erfolgte Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke vorübergehend ausgesetzt werden soll, ist es in der Tat eindeutig verfassungswidrig. Eine solche Aussetzung der Geltung eines Parlamentsgesetzes durch die Exekutive verstieße gegen das in Art.20 Abs.3 GG normierte Prinzip vom Vorrang des Gesetzes. Dieses Prinzip enthält das an die vollziehende und rechtsprechende Gewalt gerichtete Gebot, die bestehenden Gesetze anzuwenden, und zugleich das Verbot, den Gesetzen zuwiderzuhandeln. Weder die Bundesregierung noch eine Atomaufsichtsbehörde sind daher berechtigt, den Vollzug des AtomG auch nur vorübergehend auszusetzen.

Behördliche Betriebseinstellung nach dem AtomG grundsätzlich möglich

Nicht von ungefähr stufte die Bundeskanzlerin das „Moratorium“ kurze Zeit später in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag am 17. 03. 2011 als „aufsichtsbehördliche Maßnahme“ ein und berief sich auf die Befugnis der Länderbehörden, die einstweilige Abschaltung von Atomkraftwerken gemäß §19 Abs.3 AtomG verfügen zu dürfen (Plenarprotokoll 17/96, S.10885). §19 Abs.3 Satz1 AtomG gestattet der zuständigen Aufsichtsbehörde anzuordnen, „dass ein Zustand beseitigt wird, […] aus dem sich durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit und Sachgüter ergeben können“. Die Frage, die sich hier unmittelbar aufdrängt, lautet schlichtweg: Gehen von den stillgelegten deutschen Kernkraftwerken tatsächlich Gefahren im Sinne des AtomG aus?


Der Gefahrbegriff des AtomG ist nicht unumstritten. Überwiegend werden eine „konkrete Gefahr“, mitunter sogar eine „akute Gefahr“ und damit eine Gefahr im klassischen polizeilichen Sinne gefordert. An der polizeirechtlichen Definition der Gefahr hat sich seit dem Kreuzberg-Urteil des Preußischen OVG vom 14. 06. 1882 (PrOVGE 9, 353) nur wenig geändert: Eine Gefahr ist danach eine Sachlage, bei der bei ungehindertem Ablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut Schaden nehmen wird. Dass der Betrieb der abgeschalteten Atomkraftwerke in Deutschland mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“ den Eintritt eines Schadens befürchten lässt, scheinen weder die Bundesregierung noch der Bundestag annehmen zu wollen. Andernfalls hätte die 11. Novelle des AtomG, mit der die Laufzeiten auch der älteren Kernkraftwerke verlängert wurden, nicht im Dezember 2010 in Kraft treten dürfen.

Ob der herkömmliche Gefahrenbegriff des Polizeirechts indes den spezifischen Gefährdungspotentialen der Nutzung der Kernenergie gerecht wird, erscheint zweifelhaft. Ansatzpunkte für eine atomrechtliche Modifikation dieses Gefahrbegriffs ergeben sich namentlich aus §7 Abs.2 Nr.3 AtomG. Auf der Grundlage des in §7 Abs.2 Nr.3 AtomG normierten Gebots der Risikovorsorge wird seit dem Wyhl-Urteil des BVerwG (BVerwG, Urt. v. 19. 12. 1985, Az. 7 C 65.82, BVerwGE 72, 300) im Atomrecht zwischen drei Sphären unterschieden: dem Gefahrenbereich im klassischen Sinne, dem Risikobereich („Besorgnispotential“) und dem Restrisikobereich. Nach herrschender Auffassung wird der Risikobereich dem Bereich der Gefahrenabwehr zugeordnet. Anders formuliert: Schutzmaßnahmen brauchen nicht erst dort zu beginnen, wo eine klassische Gefahr besteht. Vielmehr müssen auch solche Konstellationen in Betracht gezogen werden, die zwar noch keine Gefahr, aber doch einen Gefahrenverdacht oder ein „Besorgnispotential“ begründen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Risikovorsorge ist es im Atomrecht deshalb gerade nicht erlaubt, „exakt bis an die Gefahrengrenze zu gehen“ (BVerwG, Urt. v. 19. 12. 1985, Az. 7 C 65.82, BVerwGE 72, 300 [315]).

Wenn aber im Rahmen der Schadensvorsorge nach §7 Abs.2 Nr.3 AtomG der Risikobereich in die behördliche Entscheidungsfindung einbezogen werden muss, ist nicht ersichtlich, warum für die Auslegung des Gefahrbegriffs in §19 Abs.3 AtomG etwas anderes gelten sollte. Die Tatbestände der §§7 Abs.2 Nr.3 und 19 Abs.3 AtomG sind insoweit „parallelisiert“ (Roller, DVBl. 1993, 20 [24]): Was bei jenem einen zwingenden Grund für die Versagung einer Genehmigung liefert, rechtfertigt bei diesem die Anordnung einer Betriebseinstellung.

Festzuhalten gilt: Das Gebot der Risikovorsorge erlaubt Anordnungen auf der Grundlage des §19 Abs.3 AtomG sehr wohl auch in Situationen unterhalb der Schwelle der klassischen polizeilichen Gefahr.

Kehrseitig erfasst §19 Abs.3 AtomG indes keinesfalls das Restrisiko. Dies ergibt sich ebenfalls aus einer systematischen Auslegung des §7 Abs.2 Nr.3 AtomG, der lediglich die „erforderliche Vorsorge“ gegen Schäden verlangt. Der Begriff der „Erforderlichkeit“ impliziert, dass Vorsorge nur gegen solche Schäden zu treffen ist, deren Eintritt nach den Maßstäben praktischer Vernunft möglich erscheint. Der Maßstab der praktischen Vernunft wird aus dem Stand von Wissenschaft und Technik und damit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen gewonnen.

Ob die Ereignisse in Fukushima freilich schon jetzt eine belastbare Neubewertung der Nutzung der Atomenergie durch die Wissenschaft bewirkt haben, die die Stilllegung deutscher Atomkraftwerke rechtfertigte, darf mehr als bezweifelt werden. Angesichts der ohnehin nur dürren Informationen aus Japan spricht eher viel dafür, dass sich die Wissenschaft – wenn überhaupt – erst am Beginn einer Phase der Neuorientierung befindet.

In jedem Fall reicht es für die Annahme einer Gefahr im Sinne des §19 Abs.3 AtomG nicht, dass Schäden durch die Wirkung ionisierender Strahlen nur in der Theorie vorstellbar sind. Denn „theoretisch“ lassen sich Schäden nie vollständig ausschließen. Die Forderung von Schutzvorkehrungen gegen alle denkbaren Schäden wäre daher nichts anderes als ein Postulat absoluter Sicherheit. Ein solches Postulat hieße jedoch, „die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens zu verkennen“ (BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978, Az. 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 [143] – Kalkar I) und bedeutete in letzter Konsequenz einen Verzicht auf jedwede Nutzung von Hochtechnologien. Ungewissheiten jenseits der Grenze der praktischen Vernunft, d. h. das sog. Restrisiko, sind folglich als sozialadäquate Bürde zu dulden.

Notwendigkeit einer behördlichen Einzelfallprüfung

Wem obliegt nun aber die Verantwortung für die Bestimmung der gebotenen Risikovorsorge? Nach der Rechtsprechung des BVerfG der Exekutive. Ihre rechtlichen Handlungsformen rüsten sie für die laufende Anpassung der für eine Risikobewertung maßgebenden Faktoren an den wissenschaftlichen Erkenntnisstand besser aus als den Gesetzgeber und die Rechtsprechung. Völlig frei ist die vollziehende Gewalt allerdings nicht. Denn dass sie bei ihrer Beurteilung alle wissenschaftlich und technisch vertretbaren Erkenntnisse heranzuziehen, auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage zu entscheiden und willkürfrei zu verfahren hat, ist seit dem Kalkar I-Beschluss des BVerfG Fundament ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung.

Daraus folgt jedoch, dass der bloße Hinweis auf die theoretisch nie völlig auszuschließende Möglichkeit einer Kernschmelze beim Betrieb eines Atomkraftwerks eine Anordnung nach §19 Abs.3 AtomG nicht zu stützen vermag (so ausdrücklich bereits BVerwG, Beschl. v. 05. 04. 1989, Az. 7 B 47/89). Vielmehr muss die zuständige Aufsichtsbehörde in jedem Einzelfall darlegen, dass und warum der beim Betrieb eines bestimmten Kernkraftwerks (nach dem Maßstab praktischer Vernunft) erforderliche Schutz vor der Gefahr eines Reaktorunfalls nicht gewährleistet ist und auch nachträglich nicht durch Auflagen gewährleistet werden kann. Bislang hat die Bundesregierung dieser Darlegungslast, soweit ersichtlich, nicht genügt. Ein allgemeiner Fingerzeig auf das Unglück in Japan rechtfertigt deshalb keine pauschale Stilllegung älterer Kernkraftwerke in Deutschland.

§19 Abs.3 AtomG kein „Hilfsvehikel“ für einen Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie

Deutlich wird damit zweierlei:

  1. Das „Moratorium“ der Bundesregierung findet in §19 Abs.3 AtomG keine ausreichende Rechtsgrundlage. Es ist rechtswidrig!
  2. Die Vorschrift des §19 Abs.3 AtomG erlaubt ausschließlich Maßnahmen in begründeten Einzelfällen. Sie ist kein „Hilfsvehikel“ für einen Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie.

Besondere Brisanz gewinnt somit erneut ein Leitsatz, den das BVerfG bereits vor über 30 Jahren in seiner Kalkar I-Entscheidung prägnant formuliert hat:

„Die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland ist […] eine grundlegende und wesentliche Entscheidung […]. Sie zu treffen ist allein der Gesetzgeber berufen.“

 

Prof. Dr. iur. Thomas Sauerland

Dipl.-Kfm. Wissenschaftlicher Leiter der Abteilung Masterstudiengang der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Brühl
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