02.09.2021

Anwalt oder Hausarzt darf jetzt an betrieblichen Eingliederungsgesprächen teilnehmen

Neue Rechtslage seit dem 10.06.2021

Anwalt oder Hausarzt darf jetzt an betrieblichen Eingliederungsgesprächen teilnehmen

Neue Rechtslage seit dem 10.06.2021

Die Regelung des § 167 Abs. 2 S. 2 SGB IX gewährt dem betroffenen Beschäftigten das Recht zur Hinzuziehung einer Vertrauensperson. ©andyller - stock.adobe.com
Die Regelung des § 167 Abs. 2 S. 2 SGB IX gewährt dem betroffenen Beschäftigten das Recht zur Hinzuziehung einer Vertrauensperson. ©andyller - stock.adobe.com

Anwalt oder Hausarzt darf jetzt an betrieblichen Eingliederungsgesprächen teilnehmen

Nach § 167 Abs. 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuchs (SGB IX) hat der Arbeitgeber ein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchzuführen, falls ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt. Ziel ist es, die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers zu überwinden, einer zukünftigen Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers auf Dauer zu erhalten, um eine personenbedingte Kündigung des Arbeitnehmers zu vermeiden.

Arbeitgeber lädt Mitarbeiter zum Gespräch

Das Gesetz sieht die Initiativlast zur Einleitung des BEM beim Arbeitgeber, wenn die Voraussetzungen des § 167 Abs. 2 SGB IX vorliegen. Das „regelkonforme Ersuchen“ des Arbeitgebers um die Zustimmung zur Durchführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements erfolgt in der Praxis oft durch ein offizielles Einladungsschreiben. In dem Einladungsschreiben muss der betroffene Beschäftigte über die Datenerhebung und -verwendung aufgeklärt werden. Ihm ist der zwingende Hinweis auf die Freiwilligkeit des BEM zu erteilen. Ebenso der Hinweis, dass die Möglichkeit besteht, die in § 167 Abs. 2 SGB IX genannten Personen und Stellen hinzuzuziehen oder davon Abstand zu nehmen.

Auch Kleinbetriebe betroffen

Vom Anwendungsbereich des § 167 Abs. 2 SGB IX erfasst sind alle Arbeitgeber, unabhängig von ihrer Größe und der Existenz eines Mitbestimmungsorgans. Das BEM ist selbst im Kleinbetrieb und innerhalb der Wartefrist (Beschäftigungsverhältnis, das noch nicht länger als 6 Monate besteht) des Kündigungsschutzgesetzes (kurz: KSchG) einzuhalten.


Stimmt der Arbeitnehmer, trotz ordnungsgemäßer Aufklärung, der Durchführung des BEM nicht zu, wird ein solches Verfahren nicht durchgeführt und der Arbeitgeber darf in diesem Fall auch nicht die weiteren – möglichen – Verfahrensbeteiligten unterrichten oder einschalten.

Mit dem eigenen Anwalt zum BEM-Termin

Bisher war es so, dass der Arbeitnehmer weder seinen Anwalt oder Arzt, noch sonstige Vertrauenspersonen in die vorbereitenden Gespräche mitnehmen durfte. Die Hinzuziehung einer Vertrauensperson wurde in der Rechtsprechung mit der Begründung abgelehnt, dass die gesetzliche Regelung des § 167 Abs. 2 SGB IX a.F. die Hinzuziehung einer Vertrauensperson ausdrücklich nicht regelte und die zu beteiligenden Personen und Stellen in § 167 Abs. 2 SGB IX a.F. abschließend gesetzlich geregelt wurden. Darüber hinaus handele es sich bei der Durchführung des BEM um ein nicht-formalisiertes Verfahren mit dem Ziel festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlicher Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestehen, eine bestehende Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen. Die Erörterung von Rechtsfragen sei nicht Gegenstand des BEM und erfordere daher nicht die Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes. Eine höchstinstanzliche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu der Rechtsfrage liegt nicht vor.

Nach der jüngsten Gesetzesnovelle (Gesetz von 02.06.2021 – BGBl. I S. 1387) können gemäß § 167 Abs. 2 S. 2 SGB IX (neu) Beschäftigte nunmehr eine Vertrauensperson eigener Wahl hinzuziehen – so z.B. den Ehe- oder Lebenspartner, einen Verwandten, Bekannten, Physiotherapeuten, Arzt oder Rechtsanwalt.

Aufklärungspflicht mit weitreichenden Folgen

Der Haken dabei: Wenn Arbeitgeber ihre Mitarbeiter in den BEM-Einladungsschreiben nicht ausdrücklich auf die Möglichkeit hinweisen, eine Vertrauensperson zu den Wiedereingliederungsgesprächen mitnehmen zu dürfen, sind spätere krankheitsbedingte Kündigungen regelmäßig unwirksam.

Nach der Rechtsprechung des BAG ist die Durchführung eines BEM zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung, die Regelung des § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiere jedoch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das BEM stellt zwar selbst kein milderes Mittel gegenüber einer Kündigung dar, aber durch dessen Durchführung können gegebenenfalls mildere Mittel festgestellt und entwickelt werden. Wird daher im Rahmen der Durchführung eines BEM festgestellt, dass Möglichkeiten einer alternativen Beschäftigung im Betrieb oder Unternehmen des Arbeitsgebers bestehen, durch die die Kündigung vermieden werden kann, so wäre eine dennoch ausgesprochene Kündigung unverhältnismäßig und folglich rechtsunwirksam.

Arbeitgeber muss auf Alternativvorschläge des Mitarbeiters eingehen

Der Arbeitgeber muss im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens das Fehlen von alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten darlegen und beweisen. Der Arbeitgeber kann sich nicht auf seine schlichte Unkenntnis alternativer und leidensgerechter Beschäftigungsmöglichkeiten berufen, sondern muss deren Vorhandensein konkret darlegen und gegebenenfalls auch beweisen. Ein nicht ordnungsgemäß durchgeführtes BEM-Verfahren, das nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen entspricht, kann zur Unbeachtlichkeit des Verfahrens insgesamt führen. In diesem Fall und für den Fall, dass der Arbeitgeber ein BEM nicht durchgeführt hat, hat der Arbeitgeber von sich aus darzulegen, weshalb denkbare oder vom Arbeitnehmer aufgezeigte Alternativen zu den bestehenden Beschäftigungsmöglichkeiten mit der Aussicht auf eine Reduzierung der Ausfallzeiten nicht in Betracht kommen. In der Praxis scheitern personenbedingte Kündigungen ohne vorheriges, ordnungsgemäß durchgeführtes BEM in den allermeisten Fällen.

Auswirkungen auf die Praxis

Welche praktischen Auswirkungen die gesetzliche Neuregelung des § 167 Abs. 2 S.2 SGB IX in Bezug auf die Hinzuziehung einer Vertrauensperson im Rahmen der Durchführung des BEM haben wird, bleibt mit Spannung abzuwarten.

Die Regelung des § 167 Abs. 2 S. 2 SGB IX gewährt nur dem betroffenen Beschäftigten das Recht zur Hinzuziehung einer Vertrauensperson und dem Arbeitgeber gerade nicht. Damit kann sich zumindest ein Ungleichgewicht in der Kenntnis sozialrechtlicher Regelungen ergeben. Zudem bleibt abzuwarten, ob sich die Befürchtung der bisherigen Rechtsprechung dahingehend bewahrheitet, dass sich die Durchführung des BEM zukünftig schwieriger und langwieriger gestaltet, wenn eine Vertrauensperson wie ein Rechtsanwalt durch den Beschäftigten hinzugezogen werden kann. Dies wollte die Rechtsprechung gerade vermeiden.

Auch mit dem gesetzlichen Zweck des BEM scheint die Hinzuziehung einer Vertrauensperson schwer vereinbar. Der Zweck des betrieblichen Eingliederungsmanagement besteht darin, zu klären, wie eine Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann. Zudem soll geprüft werden, mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Es geht also um die Gesundheit des erkrankten Arbeitnehmers und die Frage, welche Möglichkeiten der Arbeitgeber gegebenenfalls unter Inanspruchnahme staatlicher Hilfen hat, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu fördern und eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu ermöglichen. Das BEM ist somit sehr vertraulich. Sein Erfolg hängt auch davon ab, dass die Beteiligten vertrauensvoll miteinander umgehen können. Interesse an der Vertraulichkeit der Gespräche hat dabei nicht nur der Arbeitnehmer, um dessen Gesundheitsdaten es geht, sondern auch der Arbeitgeber. Unter Umständen werden in den Gesprächen vertrauliche Betriebsinterna und Geschäftsgeheimnisse thematisiert. Außerdem ist es fraglich, ob die Vertrauensperson, die in der Regel keine medizinischen Kenntnisse hat und den konkreten Arbeitsplatz und den Betrieb nicht kennt, einen sinnvollen Beitrag leisten kann.

 

Katharina Kuschefski LL.M

Rechtsanwältin in der Kanzlei Spieker & Jäger, Dortmund
 

Daniel Wolgast

Rechtsanwalt und Partner in der Kanzlei Spieker & Jäger, Dortmund
n/a