16.09.2020

Wer bestellt, bezahlt!

Grenzen der Aufgabenübertragung durch den Bund an die Kommunen neu gezogen

Wer bestellt, bezahlt!

Grenzen der Aufgabenübertragung durch den Bund an die Kommunen neu gezogen

Beim Thema Migrationspolitik müssen sich Bund, Länder und Kommunen gegenseitig entgegenkommen. | © bignai - stock.adobe.com
Beim Thema Migrationspolitik müssen sich Bund, Länder und Kommunen gegenseitig entgegenkommen. | © bignai - stock.adobe.com

Mit Beschluss vom 07.07.2020 (Az. 2 BvR 696/12) erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Regelungen der Bedarfe für Bildung und Teilhabe wegen Verletzung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts für verfassungswidrig und stärkt die kommunale Selbstverwaltung: Neue Aufgaben verlangen neue Gelder.

BVerfG gibt Kommunalverfassungsbeschwerde von zehn Städten aus NRW statt

Das BVerfG hat das komplizierte Dreiecksgefüge zwischen Bund, Ländern und Kommunen entflochten. Es befasste sich erstmals detailliert mit dem in der Föderalismusreform 2006 eingeführten Verbot des Aufgabendurchgriffs durch den Bund und legte konkret fest, wann dieses Verbot kommunale Belastungen bei der Erfüllung einer bundesrechtlich zugewiesenen Aufgabe erfasst. Das Gericht stärkte die kommunale Selbstverwaltung und erklärte die mit Mehrausgaben verbundene Aufgabenübertragung des Bundes an die Kommunen für verfassungswidrig. Das müsse nun bis Ende 2021 durch eine Neuregelung behoben werden.

Mit dem Beschluss gab das BVerfG der Kommunalverfassungsbeschwerde von zehn Städten aus NRW, darunter Köln, Düsseldorf und Dortmund, weitestgehend statt und erklärte die §§ 34 und 34a Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) für grundgesetzwidrig, soweit sie Mehrbedarfsleistungen für Bildung und Teilhabe auf die Kommunen übertragen. Dies verletze die Kommunen in ihrem kommunalen Selbstverwaltungsrecht aus Art. 28 Abs. 2 GG.


Die SGB XII-Regelungen widersprächen Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG. Dort steht scheinbar schlicht: „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden“ (Rn. 31). Diese Regelung will sicherstellen, dass nur die Länder den Kommunen Aufgaben zuweisen, weil alle Landesverfassungen einen Anspruch der Kommunen auf Gegenfinanzierung durch die Länder enthalten.

Trotz dieses Verbots hat der Bund 2012 die Leistungen für Bildung und Teilhabe (kurz BuT) für bedürftige Kinder und Jugendliche deutlich angehoben und die Finanzierungslasten den Kommunen unmittelbar als ausführenden Trägern aufgebürdet. Mit den Leistungen werden nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Kita-Kinder unterstützt.

Kommunen mit neuem Marschprogramm

In Folge des sog. Hartz IV-Grundsatzurteils des BVerfG vom 09.02.2010 (BVerfGE 125, 175 ff.) hat der Bund spezielle BuT-Leistungen für Schulausflüge, Mittagsverpflegung, Schülerbeförderung, eine angemessene Lernförderung sowie einen Zuschuss zum Schulbedarf und für die Teilhabe am kulturellen Leben (Verein, Freizeit etc.) geschaffen. Diese Leistungen haben die Kreise und kreisfreien als örtliche Sozialhilfeträger zu erbringen. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen, so das BVerfG. Ihre besonderen Bedarfe müssten in einem gesonderten Verfahren nachvollziehbar ermittelt werden. Dabei sei die Teilhabe an Bildung essenzieller Bestandteil des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Die streitigen Leistungen stellen keine allzu schwere Last für die betroffenen Kommunen dar. Denn es ging im Falle NRWs lediglich um etwa bis 4.000 bedürftige Kinder und Jugendliche, deren Eltern als nicht erwerbsfähige Personen Leistungen nach dem SGB XII erhielten. Ansonsten sind für die Gewährung die Jobcenter auf Kosten des Bundes zuständig. Doch trotz einer somit überschaubaren jährlichen Finanzlast von etwa 1,5 Millionen Euro hat das BVerfG die Vorschriften für verfassungswidrig erklärt. Es geht offenbar ums Prinzip.

Bund braucht breite Füße

Das BVerfG rügte nicht grundsätzlich, dass den Kommunen die Umsetzung von Sozialhilfeleistungen aufgehalst wird. Der Bund habe die Kompetenz, bestehende Fürsorgeregelungen zu ändern, auch wenn dies mehr koste. Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG, der die „als misslich empfundene finanzverfassungsrechtliche Stellung der Kommunen verbessern” solle, verbiete es diesem aber nicht nur, den Kommunen per „Durchgriff” neue Aufgaben zu übertragen, sondern auch, bestehende Aufgaben substanziell auszuweiten, ohne gleichzeitig für eine entsprechende finanzielle Ausstattung zu sorgen.

Ein Fall des unzulässigen Durchgriffs liege vor, so das BVerfG, wenn ein Bundesgesetz den Kommunen erstmals eine bestimmte Aufgabe zuweise oder eine damit „funktional äquivalente Erweiterung einer bundesgesetzlich bereits zugewiesenen Aufgabe“ (Rn. 48) vornehme. Dies könne den Kommunen freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben wegen der zusätzlichen finanziellen Belastung erschweren oder diese sogar verhindern.

Bildlich gesprochen hat das Gericht entschieden, der Bund müsse den Kommunen mit breitem Fuß entgegenkommen. Wenn der Bund großzügig Sozialpolitik betreibt, müssen die Kommunen bei der eigenverantwortlichen Umsetzung entsprechend finanziell unterstützt werden.

Unerlaubter Ausfallschritt trotz Beinfreiheit

Eine Schranke finde das Durchgriffsverbot, so das BVerfG weiter, in der Übergangsregelung des Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG. Danach gilt Recht, das als Bundesrecht erlassen worden ist, aber (auch) wegen der Änderung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, als Bundesrecht weiter fort. Auf dieser Grundlage dürfe der Bund eine Anpassung des kommunalen Aufgabenbestandes an veränderte ökonomische und soziale Rahmenbedingungen vornehmen. Was darüber hinausreiche, verstoße indes gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG. Überschritten sei diese Grenze, wenn mit der Aufgabenübertragung „mehr als unerhebliche Auswirkungen auf die Organisations-, Personal- und Finanzhoheit der Kommunen verbunden“ (Rn. 86) seien.

Gemessen daran habe der Bund seine Anpassungskompetenz überschritten. Vor Inkrafttreten der §§ 34 und 34a SGB XII hätten diese Bestimmungen nur in einem eng begrenzten Umfang (Klassenfahrten, Schulbedarf) Bedarfe der Bildung und Teilhabe abdecken müssen. Die zu berücksichtigenden Bedarfe seien durch die angegriffenen Regelungen deutlich ausgeweitet worden. Die Kommunen müssten nun einem erweiterten Kreis an Leistungsberechtigten zusätzliche Leistungen gewähren. Bedarfe für Schulausflüge – und nicht lediglich für mehrtägige Klassenfahrten – würden anerkannt. Erstmals würden Leistungen für die Schülerbeförderung, die Lernförderung und die Mittagsverpflegung gewährt. Ferner würden für alle Kinder und Jugendlichen Bedarfe für die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft berücksichtigt. Anspruchsberechtigt seien nunmehr auch Kita-Kinder.

Auch die diesbezügliche Regelung des Verwaltungsverfahrens bedeute mehr kommunale Lasten. So hänge die Berücksichtigung der Bedarfe von verschiedenen tatbestandlichen Restriktionen sowie von unbestimmten Rechtsbegriffen wie Angemessenheit oder Erforderlichkeit, die individuelle Wertungen voraussetzten, ab. Weil die Regelungen Einzelfallentscheidungen normativ viel Raum gäben, seien die Kommunen beim Gesetzesvollzug personell und organisatorisch erheblich mehr belastet.

Mit Siebenmeilenstiefeln in die Zukunft

Obgleich das BVerfG die genannten Regelungen im SGB XII größtenteils für verfassungswidrig erklärt hat, gelten diese bis zum 31. Dezember 2021 fort. Denn die Leistungen an Kinder- und Jugendliche gehören nun einmal felsenfest zum Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Die sonst übliche Nichtigkeitserklärung hätte dem den Boden entzogen. Bis dahin muss der Bundestag die Zuständigkeit für das Bildungs- und Teilhabepaket neugestalten und die Länder müssen Regelungen zum Mehrbelastungsausgleich erlassen. Die Gewährung der Sozialhilfe für Schulausflüge, Personenbeförderung und Mittagsverpflegung wird eine verstärkte Kooperation erfordern.

Der Deutsche Landkreistag wertet die Entscheidung als Signalwirkung für die Zukunft. Die Sozialdezernentin des Verbandes, Frau Dr. Irene Vorholz, sieht die Kommunen auch in ihrem jahrelangen Bemühen um die Konnexitätsverantwortung der Länder deutlich gestärkt (der gemeindehaushalt 9/2020, S. 195). Gespannt sein darf man auch auf den Ausgang eines anhängigen Verfahrens beim BVerfG. Dort steht auf dem Prüfstand, ob den Kommunen qua Grundgesetz eine finanzielle Mindestausstattung zusteht und wie dies konkret auszugestalten wäre. Im aktuellen Beschluss hat das Gericht dies offengelassen.

Die Kommunen als Packesel sozialer Transferleistungen benötigen eine verlässliche Grundausstattung, auch wenn der Bund sich vielfach in größerem Umfang an finanziellen Lasten, insbesondere bei der Grundsicherung nach dem SGB II beteiligt. Jede fünfte Kommune musste 2018 unter einem Haushaltssicherungskonzept arbeiten. Damit lebt rund ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands in einer solchen Kommune. Die Verschuldung mit Kassenkrediten hat durch die Pandemie noch zugenommen.

Bei der hiernach notwendigen zukunftsfesten finanziellen Grundausstattung für die gebeutelten Kommunen sollte auch das Flickwerk von Leistungen der Bildung und Teilhabe an Kinder und Jugendliche eine Ende finden und eine Kindergrundsicherung ohne Antragsdschungel geschaffen werden. Eine gute Grundlage bieten die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V zur Weiterentwicklung des Systems monetärer Unterstützung von Familien und Kindern vom 11.09.2019. Die Neuerungen müssen vor allem eine flächendeckende digitale Grundausstattung für alle Schülerinnen und Schülerinnen über den bestehenden DigitalPakt-Schule hinaus vorsehen, damit diese chancengleich am Unterricht teilnehmen können und ihrem Grundrecht auf Bildung und Teilhabe Geltung verschafft wird. Bildung ist schließlich der Nährboden für eine fruchtbare Zukunft – nicht nur für die Kommunen.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
 

Marco Schütz

Leiter Stabsstelle Recht bei der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Mittelrhein e.V.
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