07.09.2020

Versammlungen trotz Pandemie

Zur Entscheidung des BVerfG vom 30. August 2020 (1 BvQ 94/20)

Versammlungen trotz Pandemie

Zur Entscheidung des BVerfG vom 30. August 2020 (1 BvQ 94/20)

Die „Querdenker 711“ blieben vor dem Bundesverfassungsgericht erfolglos. | © Klaus Eppele - stock.adobe.com
Die „Querdenker 711“ blieben vor dem Bundesverfassungsgericht erfolglos. | © Klaus Eppele - stock.adobe.com

Wann dürfen Behörden pandemiebedingt Versammlungen verbieten? Damit hat sich in einer Eilentscheidung vom 30. August 2020 (1 BvQ 94/20) das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beschäftigt.

Die Entscheidung fiel in einem Verfahren gegen eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg, mit der sich die Veranstalter einer Großdemo in Berlin vom 29. August 2020 zwar in Hinblick auf die Demonstration selbst (dies Ziffer 1. der Entscheidung des OVG), nicht aber in Hinblick auf ein geplantes Dauercamp durchgesetzt hatten (dort Ziffer 2.). Mit diesem Dauercamp im Tiergarten wollten die Veranstalter, die sich „Querdenker 711“ nennen, gegen die Maßnahmen protestieren, mit denen Bund und Länder die Ausbreitung der Corona-Pandemie bekämpfen. Die Veranstalter hatten offenbar vor, so lange rund um die Siegessäule zu campen, bis die Bundesregierung ihren Wünschen nachkommt. Die Berliner Versammlungsbehörde hatte dies untersagt. Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin hatte sodann die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Untersagung wiederhergestellt, wogegen die Versammlungsbehörde vorgegangen war.

Unzulässigkeit mangels Rechtswegerschöpfung

Im Ergebnis blieben die Veranstalter vorm BVerfG erfolglos. Ihr Antrag wurde bereits als unzulässig abgewiesen, weil sie den Rechtsweg nicht nach § 90 Abs. 2 S. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) ausgeschöpft hatten. Hiernach muss ein Antragsteller stets alle nicht offensichtlich unzulässigen Möglichkeiten ausschöpfen, sich an die Fachgerichte zu wenden. So schlicht die Regelung anmutet: Gemeinsam mit dem vom BVerfG sehr ernstgenommenem Substantiierungserfordernis für Verfassungsbeschwerden scheitern an diesem Punkt viele Antragsteller.


Hier waren nach Ansicht des BVerfG gleich zwei Rechtsbehelfe nicht eingelegt worden:

  • Zum einen hatte sich zwischen der Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg und dem Eilantrag beim BVerfG der Sachverhalt maßgeblich geändert, so dass der Antragsteller nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO die Änderung des Beschlusses hätte beantragen können. Dieser – wenig praktizierte – Rechtsbehelf ermöglicht es den Parteien eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens, sich noch einmal an das Hauptsachegericht zu wenden, um einen einmal ergangenen Beschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO abändern zu lassen. Meistens geht es in Verfahren, in denen Abänderungsanträge nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO diskutiert werden können, aber um langwierige Verfahren, in denen die gerichtliche Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung manchmal über mehrere Jahre wirkt, weil der Hauptsacheprozess sich zieht. Im Versammlungsrecht sind Abänderungsverfahren schon deswegen selten, weil zwischen dem Verbot der Versammlung, dem Eilantrag, dem darauf ergehenden verwaltungsgerichtlichen Beschluss und der Versammlung selbst selten so viel Zeit vergeht, dass die Umstände sich überhaupt noch ändern könnten. In Zukunft sollte man jedoch nach dieser Entscheidung vorm Antrag nach Karlsruhe doch einen Moment länger bei der Frage verharren, ob ein Abänderungsantrag nicht eine Überlegung wert wäre.
  • Zum anderen hatte der Veranstalter, der auch die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt hatte, die in solchen Fällen faktisch obligatorische Anhörungsrüge nach § 152a VwGO nicht erhoben. Mit der leider selten erfolgreichen Anhörungsrüge kann man sich noch einmal an das erkennende Verwaltungsgericht wenden, wenn dieses den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt hat, dies entscheidungserheblich war und keine andere Möglichkeit mehr besteht, ein Rechtsmittel oder einen Rechtsbehelf einzulegen.

In den sozialen Medien wurde die so begründete Unzulässigkeit teilweise als „Unfähigkeit“ der Antragsteller und ihrer Verfahrensbevollmächtigten diskutiert. Angesichts des Umstandes, dass die OVG-Entscheidung erst in der Nacht auf den Samstag, den 29. August 2020, fiel, und das BVerfG schon am Folgetag, am Sonntag, den 30. August 2020, entschied, stellt sich die Frage, wie viele Kollegen hier wirklich die Nerven gehabt hätten, erneut den Weg zum OVG einzuschlagen. Die schnelle Abfolge der Entscheidungen in diesem Verfahren macht deutlich, wie rasant Verwaltungsgerichtsbarkeit sein kann, wenn es darauf ankommt, aber natürlich hat auch das seine Grenzen.

Obiter dictum: Unbegründetheit des Antrags

Das BVerfG hätte es bei der Zurückweisung als unzulässig belassen können. Es hat aber die Gelegenheit genutzt, obiter dictum auf den Maßstab für Versammlungsverbote nach § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersG) in Zeiten der Pandemie einzugehen. Diese Ausführungen stellen eine wertvolle Handreichung für die weitere Handhabung von Versammlungen in den nächsten Wochen und Monaten dar:

Zunächst rückt das BVerfG die staatliche Schutzpflicht gegenüber Leben und Gesundheit anderer Menschen als der Versammlungsteilnehmer ins Rampenlicht. Diese Verpflichtung des Staates, Leben und Gesundheit von Menschen auch vor Verletzungen durch private Dritte (oder sich selbst im nicht einsichtsfähigen Zustand!) zu schützen, steht neben der klassischen Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat. Es geht bei der Frage, ob Versammlungen auch in der aktuellen Lage stattfinden dürfen, nämlich nicht nur um die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer. Es geht auch um die Rechte der an der Versammlung unbeteiligten Menschen, die durch eine erhöhte Ansteckungsgefahr geschädigt werden. Damit verschiebt das Gericht den Abwägungsmaßstab. Bildlich gesprochen liegt auf der anderen Seite von Justitias Waage ein deutlich schwereres Gewicht als VG Berlin und OVG Berlin-Brandenburg in ihren Entscheidungen zum großen Demozug vom 29. August 2020 zuvor angenommen hatten. Im Karlsruher Gerichtssaal stehen damit vor den geistigen Augen der Richter nicht nur die Antragsteller, die sich gern versammeln möchten, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger, die sich ein Ende der Pandemie wünschen und deswegen auf die Einhaltung von Hygienestandards angewiesen sind.


Sodann geht das BVerfG auf die Verhältnismäßigkeit der Untersagung des Dauercamps ein. Verbote als schwerer Eingriff in die Versammlungsfreiheit sind nämlich nur dann zulässig, wenn kein ebenso geeignetes, aber milderes Mittel in Frage kommt, und die Maßnahme zudem angemessen ist. Hier zählt das BVerfG gleich mehrere Maßnahmen auf, die es für milder hält als Verbote: Die Versammlungsbehörde kann z. B. die Teilnehmerzahl beschränken, Mindestabstände verfügen, eine Maskenpflicht auferlegen. Die Maskenpflicht kann – anders als das OVG meinte – sogar dann verhängt werden, wenn ansonsten im Freien landesgesetzlich keine Maskenpflicht besteht.

Im vorliegenden Fall war die Versammlungsbehörde aber nicht verpflichtet, es bei solchen milderen Auflagen zu belassen, weil das BVerfG in diesem ganz speziellen Fall nicht von deren Geeignetheit ausgeht. Das BVerfG glaubte den Veranstaltern nämlich nicht, dass deren Hygienekonzept funktioniert und eingehalten wird, nachdem sich bei nun ja schon zwei von ihnen veranstalteten Demonstrationen die Teilnehmer nicht an die vorher vorgelegten Hygienekonzepte hielten. Das ist nicht sonderlich überraschend, denn die Teilnehmer waren ja gerade nach Berlin gekommen, weil sie solche Schutzmaßnahmen für überflüssig und übergriffig halten. Aber angesichts dessen darf die Versammlungsbehörde für weitere Veranstaltungen ihre Schlüsse ziehen. Damit schließt das BVerfG an eine andere Entscheidung vom 11. Juni 2020 (1 BvQ 66/20) an, in der es ebenfalls bezüglich eines Versammlungsverbots während der Corona-Pandemie die Vorerfahrungen mit dem Veranstalter thematisiert hatte.

Wann sind Versammlungen zulässig?

Im letzten Abschnitt geht das BVerfG deutlich darauf ein, wann Versammlungen derzeit als zulässig anzusehen sind: Wenn der Veranstalter ein Hygienekonzept vorlegt, das nachvollziehbar Schutz vor Ansteckungsgefahren bietet. Dieses Konzept muss zum einen abstrakt medizinisch nach dem aktuellen Wissensstand überzeugen. Die Behörde muss sich aber zum anderen auch bei der konkreten Gefahrenprognose nicht für dumm verkaufen lassen: Wenn es gute Gründe für die Annahme gibt, dass der Veranstalter dieses Konzept nicht durchsetzt, stehen seine Chancen vor Gericht schlecht.

 

Dr. Miriam Vollmer

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Verwaltungsrecht, re|Rechtsanwälte, Berlin
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