18.12.2020

Voraussetzungen eines Versammlungsverbotes während der Corona-Pandemie

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15.04.2020 – 1 BvR 828/20

Voraussetzungen eines Versammlungsverbotes während der Corona-Pandemie

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15.04.2020 – 1 BvR 828/20

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer meldete mit Schreiben vom 4. 4. 2020 bei der Antragsgegnerin mehrere Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen!“ mit einer Teilnehmerzahl von jeweils 30 Personen in G. an. Zugleich informierte er die Antragsgegnerin über beabsichtigte Infektionsschutzmaßnahmen („Corona-Kompatibilität“). Die Versammlungsteilnehmer würden u. a. durch Hinweisschilder zur Einhaltung von Sicherheitsabständen angehalten und von Ordnern auf entsprechend markierte Startpositionen gelotst. Die Markierungen der Startpositionen befänden sich in einem Abstand von zehn Metern nach vorn und nach hinten sowie sechs Metern zur Seite. Sie würden jeweils von Einzelpersonen bzw. Wohngemeinschaften oder Familien eingenommen.

Redebeiträge würden über das eigene Mobiltelefon des jeweiligen Redners zu einer Beschallungsanlage übertragen. Für behördliche Vorschläge zu weitergehenden Infektionsschutzmaßnahmen wäre man dankbar. Nach einem Kooperationsgespräch verfügte die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 8. 4. 2020 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ein auf § 15 Abs. 1 VersG gestütztes Verbot der Versammlungen. Bei Durchführung der Versammlungen seien die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährdet. Die Versammlungen würden gegen § 1 Abs. 1 der Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus verstoßen. Danach seien die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes auf das absolut notwendige Minimum zu reduzieren. Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit sei nur noch mit einer weiteren, nicht dem eigenen Hausstand angehörigen Person gestattet. Bei – zufälligen – Begegnungen mit anderen Personen sei ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. Öffentliche Verhaltensweisen, die geeignet seien, das Abstandsgebot zu gefährden, seien unabhängig von der Personenzahl untersagt.

Zu den danach verbotenen Verhaltensweisen zähle auch die Durchführung einer öffentlichen Versammlung. Erfahrungsgemäß würden bei Versammlungen aller Art Mindestabstände nicht eingehalten. Diese könne auch der Beschwerdeführer nicht sicherstellen. Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergebe sich daraus, dass die Versammlungen von der Mehrheit der Stadtbevölkerung, die sich zu einem ganz überwiegenden Teil an die Corona-Verordnungen des Landes halte, als Provokation empfunden würden. Der Beschwerdeführer erhob gegen die Verbotsverfügung Widerspruch.


Sein beim VG Gießen gestellter Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs blieb erfolglos (Az. 4 L 1479/20) und seine hiergegen gerichtete Beschwerde wies der VGH Kassel mit Beschluss vom 14. 4. 2020 zurück (Az. 2 B 985/20). Mit Datum vom 14. 4. 2020 wurde sodann durch den Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Zugleich beantragte er, durch einstweilige Anordnung die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs – gegebenenfalls unter Auflagen – wiederherzustellen.

Aus den Gründen:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das BVerfG im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Das ist vorliegend nicht der Fall.

Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde können ferner maßgeblich werden, wenn verwaltungsgerichtliche Beschlüsse betroffen sind, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind und die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, insbesondere wenn die behauptete Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme. Blieben in solchen Fällen die im Zeitpunkt der Eilentscheidung erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen die verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung außer Ansatz, würde sich bei der Folgenabwägung das Rechtsgut durchsetzen, das gewichtiger oder dessen behauptete Gefährdung intensiver als das kollidierende ist, selbst wenn schon die im Eilrechtsschutzverfahren mögliche Prüfung ergibt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für seinen Schutz offensichtlich nicht gegeben sind. Dies widerspräche der Aufgabe des BVerfG, die Beachtung der Grundrechte im Verfahren der Verfassungsbeschwerde zu sichern. Dementsprechend sind die im Eilrechtsschutzverfahren erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ergibt die Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren, dass eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz der schwere Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.

Ausgehend davon ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang geboten, weil die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 8.4.2020 den Antragsteller offensichtlich in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzt. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet für alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Die Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 14. März 2020 in der Fassung der Verordnung vom 30. März 2020 enthält auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) jedenfalls kein generelles Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel für mehr als zwei nicht dem gleichen Hausstand angehörige Personen. In diesem Sinne hat sich auch die Hessische Landesregierung in ihrer Stellungnahme vom 15.4.2020 eingelassen.

Demgegenüber nimmt die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens an, der Verordnungsgeber habe „auch bewusst öffentliche Versammlungen nach dem VersG unterbinden“ wollen. Sie ist in ihrer Verbotsverfügung erkennbar jedenfalls von einem generellen Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen ausgegangen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören. Diese Sicht wird besonders deutlich auf Seite 3 der Verbotsverfügung, wonach zu den nach der Verordnung verbotenen Verhaltensweisen „auch die Durchführung einer öffentlichen Versammlung nach dem VersG“ zähle, wobei dahinstehen kann, ob sie mit dieser Erwägung sogar von einem Totalverbot von Versammlungen, also auch solcher von nur zwei Personen oder von dem gleichen Hausstand angehörigen Personen, ausgegangen ist. Auch in ihrer Stellungnahme vom 15. 4. 2020 geht die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens weiterhin von einem generellen Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen aus, soweit diese nicht dem gleichen Hausstand angehören. Auf der Grundlage dieser unzutreffenden Einschätzung hat die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, weil sie verkannt hat, dass § 1 der Verordnung der Versammlungsbehörde für die Ausübung des durch § 15 Abs. 1 VersG eingeräumten Ermessens gerade auch zur Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit einen Entscheidungsspielraum lässt.

Darüber hinaus wird die Entscheidung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens den verfassungsrechtlichen Maßgaben des Art. 8 Abs. 1 GG auch deshalb nicht gerecht, weil sie über die Vereinbarkeit der Versammlung mit § 1 der Hessischen Verordnung nicht unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden hat. Sie macht überwiegend Bedenken geltend, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten und lässt auch damit die zur Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 GG bestehenden Spielräume leerlaufen.

Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens ist nicht gehindert, erneut nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beachtung der Bedeutung und Tragweite von Art. 8 GG darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der angemeldeten Versammlungen an den noch bevorstehenden Terminen gemäß § 15 Abs. 1 VersG von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder, sofern sich diese als unzureichend darstellen sollten, verboten wird.

Anmerkung:

Die hier relevanten Versammlungen unter freiem Himmel unterliegen einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Der hohe Rang der Versammlungsfreiheit lässt Eingriffe aufgrund einfach-gesetzlicher Schranken jedoch nur dann zu, wenn der Ausgleich mit zumindest gleichrangigen Rechtspositionen angestrebt werden soll. Folgerichtig hat das BVerfG bereits im „Brokdorf-Beschluss“ festgestellt, dass Verbote und Auflösungen im Wesentlichen nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter in Betracht kommen können  (BVerfGE 69, 315). Ausgangspunkt der Gefahrenprognose muss dabei stets die Art und Weise der Durchführung sein. Wegen des aus Art. 5 GG folgenden Gebots der Meinungsneutralität und des mit Art. 18 GG verbundenen Entscheidungsmonopols des BVerfG stehen Inhalte von Versammlungen nicht zur Disposition der Versammlungsbehörden und der Polizei.

Die wichtigsten auf Art. 8 Abs. 2 GG zurückzuführenden Vorbehaltsnormen sind die Versammlungsgesetze des Bundes und nach der Föderalismusreform I auch der Länder, die insbesondere die Befugnis für zielgerichtete Eingriffsmaßnahmen bei Versammlungen unter freiem Himmel enthalten. Soweit darin Regelungen für Versammlungen in geschlossenen Räumen vorgesehen sind, konkretisieren diese lediglich die verfassungssystematischen Schranken. Von besonderer Bedeutung sind allerdings auch die Bestimmungen IFSG, die zu notwendigen Schutzmaßnahmen zur Abwendung einer Seuchengefahr ermächtigen. Art. 8 GG wird insoweit ausdrücklich eingeschränkt, wenngleich im Rahmen der sog. „Wechselwirkungslehre“ (vgl. dazu Höfling, in: Sachs, 2018, Grundgesetz-Kommentar, 8. Auflage, Art. 8, Rn. 75; Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2018, Grundgesetz-Kommentar, 15. Auflage vor Art. 1, Rn. 45) in jedem Einzelfall zu prüfen ist, inwieweit hoheitliche Eingriffsmaßnahmen der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit gerecht werden.

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die pandemische Verbreitung des „Coronavirus SARS CoV 2“ und die damit verbundene weltweite Ausnahmesituation. Durch Verordnungs- und Erlassregelungen der zuständigen Landesbehörden wurden in diesem Zusammenhang Veranstaltungen mit einer konkret definierten Teilnehmerzahl auf Grundlage der §§ 28 Abs. 1, 32 IFSG untersagt oder eingeschränkt. Darunter wurden – wie in der hier maßgeblichen Rechtsverordnung des Landes Hessen – auch öffentliche und nichtöffentliche Versammlungen im Schutzbereich des Art. 8 GG gefasst. In diesem Zusammenhang ist es in den Ländern wiederholt zu Versammlungsverboten und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG v. 1. 5. 2020, Az. 1 BvR 1003/20-juris; v. 1. 5. 2020, Az. 1 BvR 1004/20-juris; v. 17. 4. 2020, Az. 1 BvQ 37/20; v. 7. 4. 2020, Az. 1 BvR 755/20-juris; v. 20. 3. 2020, Az. 1 BvR 661/20-juris) sowie der Verwaltungsgerichtsbarkeit (OVG Hamburg v. 30. 4. 2020, Az. 5 Bs 66/20-juris; OVG Bautzen v. 30. 4. 2020, Az. 3 B 167/20-juris; VG Bremen v. 30. 4. 2020, Az. 5 V 763/20- juris; VGH Kassel v. 17. 4. 2020, Az. 2 B 1031/20-juris; VG Dresden v. 17. 4. 2020, Az. 6 L 265/20-juris; VG Hannover v. 16. 4. 2020, Az. 10 B 2232/ 20-juris; OVG Weimar v. 10. 4. 2020, Az. 3 EN 248/20-juris) gekommen.

Ebenso wie bei dem Verbot religiöser Veranstaltungen (vgl. BVerfG v. 29. 4. 2020, Az. 1 BvQ 44/20-juris; v. 10. 4. 2020, Az. 1 BvQ 28/20-juris) ist dabei auch bei Versammlungen regelmäßig auf eine individuell gebotene strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung hingewiesen worden. Pauschale Entscheidungen ohne Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls und der beeinträchtigten Grundrechtspositionen sind unzulässig. Darauf wurde durch das Bundesverfassungsgericht auch in vorliegender Entscheidung ausdrücklich hingewiesen.

NPA 07/2020

 

Prof. Hartmut Brenneisen

Prof./Ltd. Regierungsdirektor a. D., Preetz
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