18.12.2020

Spannungsverhältnis zwischen Versammlungsfreiheit und Infektionsschutz

Bedingungen unter der Corona-Pandemie

Spannungsverhältnis zwischen Versammlungsfreiheit und Infektionsschutz

Bedingungen unter der Corona-Pandemie

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Bayern« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Bayern« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Die unten vermerkten Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) betreffen allesamt das Spannungsverhältnis der grundrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit einerseits und des Infektionsschutzes unter den Bedingungen der Corona-Pandemie andererseits. Die bisherigen Entscheidungen ergingen zwar unter Geltung der 2. bzw. 4. BayIfSMV, die Versammlungen (einer bestimmten Größe) generell untersagten und lediglich die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung im Falle der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit der Versammlung vorsahen. Die hier wiedergegebenen Ausführungen dürften jedoch für die seit der 6. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) wieder vorgesehene – sozusagen herkömmliche – Konstellation, dass die Behörden eine grundsätzlich erlaubte Versammlung auf der Grundlage des Bayerischen Versammlungsgesetzes (Bay- VersG) aus Gründen des Infektionsschutzes verbieten oder beschränken wollen (§ 7 der 6. BayIfSMV), gleichermaßen Gültigkeit besitzen.

1. Verhältnis von Versammlungsfreiheit und Infektionsschutz – infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit

Der Senat formuliert im Beschluss vom 30.4.2020 (10 CE 20.999) zum Verhältnis von Versammlungsfreiheit und Infektionsschutz:

„Nach § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV können die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden Ausnahmen vom generellen Versammlungsverbot nach § 1 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV erlauben, wenn dies infektionsschutzrechtlich vertretbar ist. Aufgrund der Formulierung des Verordnungsgebers kommt eine solche Ausnahme schon dann in Betracht, wenn die Versammlung infektionsschutzrechtlich ,vertretbar‘ ist. Eine völlige Risikofreiheit im Sinne einer absoluten infektionsschutzrechtlichen ‘Unbedenklichkeit‘ ist nicht erforderlich.


Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung…Insofern unterliegen auch Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der Versammlung aus Gründen des Infektionsschutzes dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Sie sind nur zulässig, wenn sich anders nicht erreichen lässt, dass die Versammlung i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV infektionsschutzrechtlich vertretbar bleibt. Ist die Durchführung derVersammlung bei Beachtung erforderlicher Auflagen vertretbar, hat die zuständige Behörde kein Versagungsermessen mehr, vielmehr besteht in diesem Fall ein Anspruch auf eine entsprechende Ausnahmegenehmigung.“

2. Verantwortlichkeit für die infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit

Die Verantwortung für die infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit liegt nach dem Senat nicht allein beim Veranstalter. Die Versammlungsbehörde und die Polizei haben ihrerseits dazu beizutragen, dass die Versammlung infektionsschutzrechtlich vertretbar bleibt. Der Senat führt hierzu im Beschluss vom 30.4.2020 (10 CE 20.999) aus:

„Bei der nach § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV erforderlichen Prüfung, ob für Versammlungen i.S. von Art. 8 Abs. 1 GG Ausnahmegenehmigungen erteilt werden können, muss die Behörde eigene Überlegungen zur Minimierung von Infektionsrisiken anstellen … Aufgrund der wertsetzenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die freiheitlich demokratische Grundordnung umfasst die staatliche Schutzpflicht für die Versammlungsfreiheit – abgesehen von hier nicht geltend gemachten Fällen des polizeilichen Notstandes und unbeschadet der Anforderungen, die das versammlungsrechtliche Kooperationsgebot an die Veranstalter von Versammlungen stellt – auch die Verpflichtung, Versammlungen erst möglich zu machen … Vor dem Erlass einer Beschränkung der Versammlungsfreiheit muss sich die zuständige Behörde zunächst um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter bemühen. Dies entspricht für Auflagen und Verbote ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Nichts Anderes gilt für die Verweigerung einer Zulassung, wenn – wie hier – die Ausübung der Versammlungsfreiheit einem Verbot mit Zulassungsvorbehalt unterworfen ist.“

Allerdings entbindet dies den Veranstalter nicht davor, mit Hilfe eines Schutzund Hygienekonzepts dafür Sorge zu tragen, dass von der Versammlung selbst keine infektionsschutzrechtlich nicht hinnehmbaren Gefahren ausgehen. Dafür ist regelmäßig ein Mindestabstand von 1,5 Meter zwischen den Versammlungsteilnehmern erforderlich (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 der 6. BayIfSMV). Dazu der Senat im Beschluss vom 22.5.2020 (10 CE 20.1236):

„Infektionsschutzrechtlich maßgebend ist in erster Linie die Einhaltung des erforderlichen Mindestabstands von 1,5 Meter zwischen den Versammlungsteilnehmern … und zwar nicht nur bei der eigentlichen Versammlung, sondern schon im Vorfeld. Ausschlaggebend ist somit nicht nur, dass der Versammlungsort größenmäßig geeignet ist, die vom Veranstalter gewünschte Teilnehmerzahl aufzunehmen, sondern dass die Teilnehmer ,sicher‘ zum Versammlungsort kommen, die zulässige Teilnehmerzahl nicht überschritten wird und durch organisatorische Maßnahmen die Einhaltung des Sicherheitsabstandes gewährleistet werden kann.

Entgegen der Ansicht des Antragsstellers ist sein Sicherheitskonzept nicht geeignet, die genannten Anforderungen bei einer Teilnehmerzahl von 10.000 Personen auch nur annähernd sicherzustellen. Er kann bereits nicht gewährleisten, dass die Versammlungsteilnehmer auf der Theresienwiese den Abstand von 1,5 Meter zur nächsten Person einhalten …

Zwar ist es nicht allein Aufgabe des Veranstalters, für die infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit der Versammlung zu sorgen. Angesichts der aufgezeigten evidenten Mängel darf sich der Antragsteller nicht darauf verlassen, dass die Polizei die Einhaltung der Mindestabstände auch innerhalb der Versammlung durchsetzen wird. Hinzu kommt dabei, dass aufgrund der im Einzelfall belegten Uneinsichtigkeit in Teilen des zu erwartenden Teilnehmerkreises bei einem Einschreiten der Polizei weitere infektionsschutzrechtlich nicht hinnehmbare Zustände zu erwarten wären.“

3. Einzelne Beschränkungen der Versammlung

Zur Sicherstellung der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit einer Versammlung kommt in erster Linie eine Begrenzung der Teilnehmerzahl in Betracht, die der Senat bereits in mehreren Entscheidungen gebilligt hat. Für eine geplante Versammlung mit 10.000 Teilnehmern hat er im Beschluss vom 22.5.2020 (10 CE 20.1236) etwa ausgeführt:

„Insbesondere hat der Antragsteller nicht erläutert, wie er sicherstellen will, dass die Teilnehmer tatsächlich die Abstandsregeln einhalten. Versammlungen werden mit zunehmender Teilnehmerzahl immer unübersichtlicher und für den Veranstalter wird es immer schwieriger, auf die Einhaltung der Auflagen hinzuwirken. Das angebliche Funktionieren des Sicherheitskonzepts des Antragstellers bei einer Teilnehmerzahl von 1.000 Personen kann nicht ohne Weiteres auf eine Versammlung mit 10.000 Personen übertragen werden.“

Die Beschränkung auf eine stationäre Versammlung (statt eines geplanten Aufzugs) setzt voraus, dass die besonderen örtlichen Verhältnisse im Einzelfall bei einem Aufzug infektionsschutzrechtlich unzumutbare Zustände, insbesondere die Nichteinhaltung der Mindestabstände, erwarten lassen. Dazu der VGH im Beschluss vom 30.4.2020 (10 CE 20.1000):

„Während der Senat im vom Antragsteller angeführten Parallelverfahren … aufgrund der besonderen örtlichen Situation in M. und der in diesem Verfahren vorliegenden Stellungnahmen von Polizei, Gesundheitsbehörde und Antragsgegnerin keine konkreten Hinweise gesehen hat, dass durch den dortigen Aufzug infektionsschutzrechtlich unvertretbare Zustände entstehen könnten, stellt sich die in der Innenstadt von R. auf der Aufzugsroute vorherrschende örtliche und verkehrliche Situation… anders dar. Zum einen sind die hier betroffenen Straßen und Plätze schon von ihrer Räumlichkeit her nicht mit den Verhältnissen der Aufzugsroute in M. vergleichbar, zum anderen hat die Antragsgegnerin bei ihrer Gefahrenprognose vor allem auch auf die besondere Problematik der 2 km langen Wegstrecke mit mehreren Kreuzungen und die dadurch bedingte Gefahr, dass trotz polizeilicher Begleitung der Demonstrationszug nicht nur vorübergehend zum Stehen kommen werde und bei einem plötzlichen Auflaufen eine Unterschreitung des Mindestabstands zwischen den Versammlungsteilnehmern zu befürchten sei, abgestellt. Diese Bewertung bzw. Prognose ist durch das pauschale Beschwerdevorbringen, es handle sich (auch) hier um ,große Straßen‘, auf denen das Einhalten des Abstands in jedem Fall gewährleistet werden könne, nicht durchgreifend infrage gestellt.“

Die von Versammlungsbehörden häufig erwogene oder verfügte räumliche Verlegung der Versammlung – regelmäßig aus dem Innenstadtkern an weniger stark frequentierte Plätze – sieht der Senat im Beschluss vom 22.5.2020 (10 CS 20.1237) kritisch:

„Eine räumliche Verlegung als Eingriff in das sich aus Art. 8 GG ergebende Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters aus infektionsschutzrechtlichen Gründen (kommt) nur dann in Betracht, wenn infektionsschutzrechtliche Risiken, die sich aus der Frequentierung des Versammlungsortes ergeben, nicht durch polizeiliche Maßnahmen beseitigt werden können. Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor …

Die Begegnung von Menschen im ,stark frequentierten‘ öffentlichen Raum ist Normalität. Dass derzeit von den Nutzern des öffentlichen Raums erwartet werden kann und muss, aus infektionsschutzrechtlichen Gründen einen Mindestabstand einzuhalten, mag zu einer Verknappung des öffentlichen Raumes führen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Versammlungen, die den Mindestabstand wahren, aus den Innenstädten ohne Weiteres herausgehalten werden können. Die (kurzfristige) Beanspruchung öffentlichen Raums durch Versammlungen i.S. des Art. 8 Abs. 1 GG ist gerade in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht a priori weniger schutzwürdig als die Beanspruchung durch Verkehrsteilteilnehmer, Ladeninhaber, Gastronomen, Touristen, Passanten und andere Straßennutzer.“

Auch eine Beschränkung der Kundgabemittel (Lautsprecher, Megaphone, Musikdarbietungen etc.), um zu verhindern, dass die Versammlung infektionsschutzrechtlich unerwünschte Aufmerksamkeit erregt, ist nach der Rechtsprechung des Senats (Beschluss vom 30.4.2020 – 10 CE 20.999) nur unter engen Voraussetzungen möglich:

„Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess öffentlicher Meinungsbildung in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes … und ist daher von vorneherein auch auf Außenkommunikation und das Erzeugen von Aufmerksamkeit angelegt. Auflagen zu Ausnahmegenehmigungen i.S. von § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV, die es einer Versammlung untersagen, Kundgabemittel zur Außenkommunikation einzusetzen und damit Aufmerksamkeit zu erzeugen, stellen daher einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar, der einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterliegen hat.

Auch insoweit gilt die Regel, dass kollektive Meinungsäußerungen in Form einer Versammlung umso schutzwürdiger sind, je mehr es sich bei ihnen um einen Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt.“

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30.4.2020 – 10 CE 20.999

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30.4.2020 –10 CE 20.1000

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22.5.2020 – 10 CE 20.1236

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22.5.2020 – 10 CS 20.1237

 

FStBay 2020/246

Die Fundstelle Bayern

Die Fundstelle Bayern

Fachzeitschrift für die kommunale Praxis
n/a