15.02.2012

Vom Papier zum Datenstrom

Die zäh fließende Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie

Vom Papier zum Datenstrom

Die zäh fließende Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie

Die Umsetzungsfrist der EU-Dienstleistungsrichtlinie ist im September 2009 abgelaufen. | © Joachim B. Albers - Fotolia
Die Umsetzungsfrist der EU-Dienstleistungsrichtlinie ist im September 2009 abgelaufen. | © Joachim B. Albers - Fotolia

Artikel 8 Absatz 1 der EU-Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG (DLR) lautet in schlichter Schönheit: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Verfahren und Formalitäten, die die Aufnahme oder die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit betreffen, problemlos aus der Ferne und elektronisch über den betreffenden einheitlichen Ansprechpartner oder bei der betreffenden zuständigen Behörde abgewickelt werden können.” Die Umsetzungsfrist ist im September 2009 abgelaufen.

Hier soll behauptet werden, dass die Forderung des Artikels 8 DLR in Deutschland nur teilweise realisiert ist. Die Transformation des Trägermediums der juristischen Sprache von Papier in immaterielle Daten scheint deutlich schwieriger zu sein, als dies zum Beispiel bei Werbebotschaften der Fall ist. Die juristische Anforderung selbst macht Metamorphosen durch auf ihrem Weg von Europa über die Bundespolitik in die Landesgesetzgebung. Ursprünglich als klare Anweisung formuliert, wird mit der Zeit die Umsetzungsfrist aufgeweicht und mit dem Übertritt in die Behördengebäude auch der Inhalt unter neuartige Möglichkeitsvorbehalte gestellt.

Innerdeutsche Rechtslage

Die Umsetzungsbehauptung steht in der amtlichen Fußnote zum Vierten Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 17. 12. 2008 (BGBl. I 2008 Seite 2418, in Kraft ab 18. 12. 2009). Es wurde zwar ein § 71e über die elektronische Verfahrensabwicklung in das VwVfG eingefügt. Allerdings änderte dieses Gesetz ausdrücklich nicht den § 3a VwVfG, sondern ließ ihn sogar unberührt. Diese Norm verhilft aber oft nicht zur elektronischen Kommunikation, weil sie ebenso wie der § 10 VwVfG (Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens) nur gilt, „soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für die Form des Verfahrens bestehen”. Dasselbe gilt für die parallelen Verwaltungsverfahrensgesetze der Bundesländer.


Die Umsetzung von Artikel 8 der Richtlinie ist problematisch, weil er nicht nur elektronische „Anträge” nennt, sondern vielmehr von einer elektronischen „Abwicklung” spricht. Unter Abwicklung ist der gesamte Auseinandersetzungsprozess zwischen Behörde und Antragsteller zu verstehen (Universität Heidelberg, Gutachten des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht, Seite 231). Dazu kommt Folgendes: Gesetzgebung und Gerichte schließen aus der Pflicht zur Verwendung eines Vordrucks/Formulars mit Unterschriftsfeld auf ein von § 10 VwVfG abweichendes Schriftformerfordernis, das also als Korrelat eine qualifizierte elektronische Signatur an einem elektronischen Dokument erfordern würde (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 09. 10. 2001 – Az. 10 S 519/00).

Daher wurde im Bundesministerium des Innern untersucht, welche Vorschriften nach dieser Auffassung im deutschen Verwaltungsrecht „Schriftform” voraussetzen. Referatsleiterin Dr. Tanja Laier erläuterte beim 20. EDV-Gerichtstag im September 2011, dies seien noch 3500 Stück. In Worten: dreitausendfünfhundert. Abhilfeideen gebe es nur de lege ferenda und zuständig für das Verwaltungsverfahren seien laut Artikel 70 ff. GG fast immer die Länder.

Praktisches Beispiel

Nehmen wir an, ein EU-Ausländer möchte in Baden-Württemberg Dienstleistungen anbieten. Er hat Informationsbedarf und benötigt behördliche Erlaubnisse. Er prüft die Voraussetzungen, um als Kreditvermittler, Finanzdienstleister oder als Inkassounternehmer tätig zu werden. Für seine Mitarbeiter muss er Lohnsteuer abführen. Er verfügt über Internetanschluss und E-Mail.

Zuerst muss man sich darüber klar werden, dass man besser mit dem Suchbegriff „Darlehensvermittler” operiert. Er findet dann als Interessent beispielsweise auf der Seite der Stadt Heilbronn über den Einheitlichen Ansprechpartner den Hinweis auf die Erlaubnispflicht und dass nähere Informationen zu den Voraussetzungen hinter einem Link zur Industrie- und Handelskammer Stuttgart zu finden seien. Dieser Link führt zwar zu einer Seite, auf welcher einige Gewerbe beispielhaft aufgeführt werden und in tabellarischer Form Stichworte zu den Voraussetzungen genannt sind. Ein ‚Darlehensvermittler‘ (oder ‚Kreditvermittler‘ oder ‚Kreditmakler‘) findet sich hier aber nicht.

Auf der Seite „service-bw.de” werden angehende Finanzdienstleister darauf hingewiesen, dass vor einer Aufnahme der Tätigkeit ausreichend haftendes Kapital im Inland nachzuweisen sei. Nach § 53b des Kreditwesengesetzes (KWG) scheint dies aber in dieser Allgemeinheit zumindest zweifelhaft. Und immerhin findet man weiter unten einen generellen Hinweis für Gewerbetreibende aus EU/EWR-Staaten und der Schweiz, wonach die vorübergehende und gelegentliche Erbringung von Dienstleistungen in einem erlaubnispflichtigen Gewerbe „unter bestimmten Voraussetzungen gestattet” ist.

Was „unter bestimmten Voraussetzungen” bedeutet, wird dort nicht näher erläutert. In einem Merkblatt der BaFin erfährt man aber, dass die grenzüberschreitende Erbringung von Finanzdienstleistungen ohne Errichtung einer Zweigstelle im Inland erlaubnisfrei ist, und zwar für EWR-basierte Unternehmen mit einer Genehmigung aus ihrem Heimatstaat. Dieses Merkblatt zitiert § 53b KWG in allgemeinverständlicher Sprache, ist aber mit den Seiten von Heilbronn oder „service-bw.de” nicht verknüpft. Seine Fundstelle lautet: „http://www.bafin.de/cln_110/nn_721290SharedDocs/Downloads/DE/Service/

Merkblaetter/mb 071101__fidierlaubnis__buba,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/mb

071101_fidierlaubnis_buba.pdf”. Für einen EU-Ausländer sind die zentralen Informationen demnach nicht in transparenter Weise dargeboten.

Wenn der EU-Ausländer ein Inkassounternehmen betreiben möchte, erfährt er auf „service-bw.de” von der Erlaubnispflicht. Ein Verweis aus Wikipedia oder vom zuständigen Amtsgericht führt auf http://www.rechtsdienstleistungsregister.de. Dort kann man sich als Inkassounternehmer amtlich online registrieren lassen. Ein Link zur Registrierung führt zum Hinweis, dass die zuständigen Behörden zu kontaktieren sind.

Aus einem PDF führt den Interessenten ein Link zur Homepage des Heilbronner Amtsgerichts. Dort muss man nach „Rechtsdienstleistungsgesetz” suchen, um auf den Bereich „Service”, Unterpunkt „Registrierungen nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz” zu gelangen. Dort findet sich der Rückverweis, dass das Formular wiederum vom Server bei rechtsdienstleistungsregister.de zu laden sei. Diesem sind Unterlagen beizufügen, unter anderem ein Führungszeugnis gemäß § 30 Abs. 5 BZRG. Dieses wird laut Gesetz aber direkt vom Bundeszentralregister an das Amtsgericht geschickt, sodass ein „Beifügen” gar nicht möglich ist. Ob dies ein gelungenes Beispiel für elektronischen Behördenkontakt ist, sei dahingestellt. Immerhin sind Wege eröffnet.

Die elektronische Lohnsteuerkarte wurde angekündigt und während des Fristablaufs ihrer Einführung rasch nochmals um ein Jahr auf den 01. 01. 2013 verschoben. Dies geschah Ende 2011. Die Dienstleistungsrichtlinie ist angeblich seit 28. 09. 2009 umgesetzt. Ein zentrales Verfahren, nämlich die korrekte Erhebung der Quellensteuer der Arbeitnehmer über die Lohnsteuerkarte, ist aber weiterhin nicht in elektronischer Form abzuwickeln; jeder Arbeitnehmer muss persönlich und ohne elektronische Fernkommunikation für die Hinterlegung der korrekten Lohnsteuerabzugsmerkmale bei seinem Arbeitgeber sorgen.

Bewertung

In den aktuellen Dokumenten des IT-Planungsrates wird die Dienstleistungsrichtlinie nicht mehr erwähnt, auch kein Umsetzungsdefizit mehr beim Namen genannt. Dass es aber durchaus noch Handlungsbedarf gibt, um die Wirklichkeit dem Anspruch anzunähern, lässt sich auch den neueren Dokumenten dort unschwer entnehmen. Die Skepsis in den Ausführungen der Vorsitzenden des IT-Planungsrats Rogall-Grothe von September 2010 (http://www.it-planungsrat.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2010/Sep24.html) war berechtigt. Die Elektronen haften oft noch untransformiert am Papier.

 

Dr. Alexander Konzelmann

Leiter der Boorberg Rechtsdatenbanken RDB, Stuttgart
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