15.02.2012

Demografiebericht der Bundesregierung

Demografischer Wandel: Herausforderungen annehmen – Chancen nutzen

Demografiebericht der Bundesregierung

Demografischer Wandel: Herausforderungen annehmen – Chancen nutzen

Der demografische Wandel erfasst ländliche Räume und Stadtregionen auf unterschiedliche Weise. | © Gerhard Seybert - Fotolia
Der demografische Wandel erfasst ländliche Räume und Stadtregionen auf unterschiedliche Weise. | © Gerhard Seybert - Fotolia

Der demografische Wandel erfasst ländliche Räume und Stadtregionen auf sehr unterschiedliche Weise.

Kennzeichen des demografischen Wandels

Der demografische Wandel wird die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den nächsten Jahrzehnten so stark beeinflussen wie kein anderes Phänomen bisher. Seine Parameter sind eine niedrige Geburtenrate, die kontinuierliche Verlängerung der Lebenserwartung und die damit verbundene Alterung der Bevölkerung. Dies führt einerseits zur Abnahme der Bevölkerungszahl und andererseits zu einer deutlichen Veränderung der Altersstruktur. Die Bevölkerungszahl wird nach Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes bis zum Jahr 2060 von derzeit 81,7 Millionen auf circa 70 bis 65 Millionen zurückgehen. Die Bevölkerungszusammensetzung wird sich zugunsten Älterer verschieben. Im Jahr 2010 waren 18 % der Bevölkerung jünger als 20 Jahre; der überwiegende Teil (61 %) war im erwerbsfähigen Alter und 21 % waren älter als 65 Jahre. Nach den Vorausberechnungen wird im Jahr 2060 jeder Dritte 65 Jahre oder älter sein.

Demografiebericht der Bundesregierung

Der „Bericht der Bundesregierung zur demografischen Lage und künftigen Entwicklung des Landes”, der am 26. 10. 2011 im Kabinett verabschiedet wurde, benennt diese Fakten, illustriert aber auch, dass Schrumpfung und Alterung keine Katastrophe sind, sondern Anlass zum Handeln. Die demografischen Veränderungen können für den notwendigen Umbau der Gesellschaft genutzt werden und bieten damit Chancen für die Gestaltung der Zukunft. Voraussetzung ist aber, dass wir uns die Entwicklung und ihre Ursachen bewusst machen, die Auswirkungen analysieren und Lösungen zur Gestaltung des Wandels erarbeiten.


Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren bereits in allen relevanten Politikbereichen auf die Veränderungen reagiert. Der Bericht, der eine Gesamtschau der Politik der Bundesregierung enthält, widmet sich den Schwerpunktthemen Familie und Gesellschaft, Arbeit, Bildung und Forschung, Wirtschaft, Infrastruktur im ländlichen Raum, Zuwanderung und Integration, Alterssicherung, Gesundheit und Pflege sowie Staat und Verwaltung. Es fehlt jedoch eine gemeinsame leitende Zielvorstellung. Der Demografiebericht verdeutlicht, dass die vielfältigen Aktivitäten und Förderprogramme zunächst auf der Ebene des Bundes besser koordiniert und gebündelt werden können. Denn der Bund setzt im Wesentlichen die Rahmenbedingungen und finanziert Projekte vor Ort mit Förderprogrammen.

Aufbauend auf den Erkenntnissen des Berichts wird die Bundesregierung bis zum Frühjahr 2012 eine Demografiestrategie aus ihrer Sicht erarbeiten und diese in die weitere Diskussion einbringen. Die Bundesregierung orientiert sich dabei an einer der jeweiligen Lebenssituation angepassten, generationenübergreifenden Politik, die die Entwicklungschancen frühzeitig und für Menschen jeden Alters durch die Schaffung der entsprechenden Rahmenbedingungen fördert. Dabei sollen – wie im Ausblick des Demografieberichts angelegt – die folgenden vier Ziele die Strategie leiten.

(1) Chancen eines längeren Lebens erkennen und nutzen

Der Anstieg der Lebenserwartung und das damit verbundene längere und gesunde Leben ist eine große Chance für jeden Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Damit einher geht eine Auflösung der bisherigen klassischen Lebensphasen von Ausbildung, Arbeit und Ruhestand. Alle Menschen sollen ihrer Lebenssituation entsprechend die Chance erhalten, ihre Potenziale und Fähigkeiten zu entwickeln, Lebenswünsche zu realisieren und ihren Beitrag zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu leisten.

(2) Wachstumsperspektiven stärken und Wohlstand sichern

Der zu erwartende Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird etwa ab dem Jahr 2020 deutlich schneller verlaufen als der Rückgang der Gesamtbevölkerung.

Die damit verbundenen Herausforderungen für die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere die Sicherung der Fachkräftebasis und eines hohen Produktivitätswachstums, erfordern vorrangig die Qualifizierung und Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials, aber auch mehr qualifizierte Zuwanderung aus der EU sowie die Stärkung des Forschungs- und Innovationspotenzials und wachstumsfördernde Rahmenbedingungen der Faktor- und Produktmärkte.

(3) Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt erhalten und stärken

Die Alterung der Bevölkerung und die regional unterschiedliche Bevölkerungsdynamik werden Veränderungsbereitschaft und Anpassungen erfordern. Dies gilt für eine stabile Finanzierungsbasis und generationengerechte Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme ebenso wie für die Sicherung einer wohnortnahen Grundversorgung in den Regionen und Kommunen. Die Menschen in Deutschland sollen sich auch künftig auf eine angemessene Absicherung im Alter und Versorgung mit Gesundheits- und Pflegeleistungen verlassen können.

(4) Handlungsfähigkeit des Staates bewahren

Der Erhalt der Handlungsfähigkeit des Staates erfolgt über die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte. Eine wichtige Orientierung ist dabei die Generationengerechtigkeit. Die sozialen Sicherungssysteme und das öffentliche Leistungsangebot sind an die sich verändernden Bedingungen und Bedürfnisse anzupassen.

Allerdings ist der Bund nur ein Akteur im demografischen Wandel. Länder, Kommunen, die Wirtschaft, alle gesellschaftlichen Gruppen und jeder Einzelne werden gefordert sein. Das Leben findet vor Ort statt, in den Kommunen. Deshalb stehen vor allem die Kommunen vor Herausforderungen.

Herausforderung für die Kommunen

Der demografische Wandel erfasst ländliche Räume und Stadtregionen auf sehr unterschiedliche Weise. Neben Regionen mit Bevölkerungsrückgang stehen Regionen mit Bevölkerungszuwächsen. In den letzten Jahren sind vor allem ostdeutsche Regionen mit einem deutlichen – durch die Binnenwanderung verstärkten – Rückgang der Bevölkerung und einer starken Alterung konfrontiert. Gleichwohl existieren Wachstumsinseln wie die Metropolen Leipzig und Dresden.

Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Regionen, die aufgrund ihrer Wirtschafts-, Einkommens- und Arbeitsmarktlage auch weiterhin mit Zuzug rechnen können, werden den Schrumpfungsprozess in anderen Regionen noch verstärken. Denn Binnenwanderung ist immer ein

Nullsummenspiel. Neben den ostdeutschen Regionen werden zunehmend auch Regionen in Westdeutschland wie das Ruhrgebiet, das Saarland und die Eifel von dieser Entwicklung erfasst.

Die Bevölkerungsabnahme wird sich vor Ort ganz konkret auswirken. Dazu zählt die zurückgehende bzw. sich verändernde Auslastung des Infrastrukturangebotes. Beispielhaft ist die Wasser- und Abwasserinfrastruktur zu nennen. In den ländlichen Regionen wird die Nachfrage nach Leistungen des öffentlichen Personennahverkehrs durch die Bevölkerungsabnahme zurückgehen und sich gleichzeitig verändern. Eine gute Verkehrsinfrastruktur und öffentliche Verkehrsangebote sind auch im demografischen Wandel für die Teilnahme und Teilhabe am Arbeits- und Gesellschaftsleben notwendig. Dies erfordert eine bedarfsorientierte Anpassung der Verkehrssysteme. Dazu müssen innovative Mobilitätslösungen entwickelt werden. Ein innovatives Beispiel ist der
sogenannte KombiBus, den der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder gemeinsam mit den neuen Ländern pilotiert. Ein KomiBus transportiert nicht nur Personen und Fahrräder, sondern versorgt die Dörfer in der Uckermark auch mit Post und Frischwaren. Vorteil dieser kombinierten Serviceleistung ist, dass auch bei wenige Menschen die Mobilität für alle erhalten bleibt. Dazu müssen wir uns aber von überkommenen Mustern lösen und kreative und individuell auf die Bedürfnisse vor Ort zugeschnittene Lösungen entwickeln, am besten mit den Bürgern gemeinsam.

Eine zentrale Voraussetzung für Lebensqualität, wirtschaftliches Wachstum und steigenden Wohlstand ist die Bereitstellung einer modernden Kommunikationsinfrastruktur. Diese gilt es auch in dünn besiedelten Räumen, in denen der Ausbau mit leistungsfähigen Breitbandanschlüssen für die Netzbetreiber wegen der hohen Ausbaukosten weniger lohnend ist, sicherzustellen. Gleiches gilt für die Versorgung mit Postdienstleistungen.

Infrastrukturleistungen werden sich künftig stärker an den Bedürfnissen Älterer orientieren. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Gesundheitsdienst- und Pflegeleistungen, die ärztliche Versorgung, alters- und familiengerechtes Wohnen sowie altersspezifische soziale Infrastrukturen. Eine wirksame Zukunftsstrategie ist hier die verstärkte interkommunale Zusammenarbeit.

Die kommunale Ebene ist auch die Heimat des Ehrenamtes. Durch den Bevölkerungsrückgang fehlt Vereinen und freiwilligen Feuerwehren der Nachwuchs. Hier gilt es Lösungen zu entwickeln, die eine Verödung des gesellschaftlichen Lebens im ländlichen Raum verhindern. Da gibt es bereits erste Ansätze wie das Projekt Partner_Stadt, das zurzeit in der Modellregion Oelsnitz/Erzgebirge, Lugau, Hohndorf und Erlbach-Kirchberg erprobt wird. Das Ziel ist, die bestehenden Erfahrungen und das Wissen der Menschen in der Nacherwerbsphase, d. h. der über 65-Jährigen, vom Eintritt in die Ruhestandsphase an aktiv zu nutzen. Grundidee von Partner_Stadt ist ein Anreizsystem in Form von Aufwandsentschädigungen, das Senioren aktiv in die kommunalen Aufgabenbereiche Bildung, Kultur, Gesundheitswesen und Kinderbetreuung einbezieht und so umfassend in das gesellschaftliche Leben integriert. Gleichzeitig wirkt dies drohender Altersarmut und Vereinsamung entgegen.

Fazit

Wegen der ungleichen Ausgangsbedingungen und der prognostizierten unterschiedlichen Entwicklung gibt es keine allgemeingültigen Antworten auf den demografischen Wandel; diese kann auch der Bund nicht anbieten. Es wird entscheidend sein, dass in jeder Kommune das Problembewusstsein bei den politisch Verantwortlichen und bei den Bürgern für die Herausforderungen des demografischen Wandels besteht. Dies setzt Veränderungsbereitschaft voraus und den Mut, die Gestaltung des Prozesses in die Hand zu nehmen.

 

Bettina Auerbach

Ministerialrätin Bundesministerium des Innern, Referatsleiterin G I 3 (Demografie), Berlin
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