14.12.2020

Verwaltungsrechtliche Aspekte der Corona-Krise in Niedersachsen

Zusammenwirken von staatlicher und kommunaler Verwaltung – Teil 1

Verwaltungsrechtliche Aspekte der Corona-Krise in Niedersachsen

Zusammenwirken von staatlicher und kommunaler Verwaltung – Teil 1

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Spätestens seit dem 29.02.2020, dem ersten bestätigten Corona-Fall in Niedersachsen, ist das Land im Krisenmodus. Jörn Ipsen hat im Juni-Heft der Niedersächsischen Verwaltungsblätter (S. 165 ff.) einige verfassungsrechtliche Aspekte der Corona-Krise beleuchtet und das Fazit gezogen, dass sich der deutsche Staat insgesamt in einer Ausnahmesituation bewährt habe. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Dieser Beitrag möchte einige verwaltungsrechtliche Aspekte des Krisengeschehens in Niedersachsen skizzieren und zeigt im Sinne eines ersten Zwischenfazits einer noch nicht bewältigten Pandemie wichtige Handlungsfelder für weitere administrative Vorbereitungen auf Landesebene auf.

I. Das Abflachen der Kurve

Unter dem einprägsamen Slogan „flattening the curve“ ist die weltweite Strategie des öffentlichen Gesundheitsdienstes zur Bekämpfung der Corona-Virus-Pandemie beschrieben: Das Infektionsgeschehen muss in seinem Verlauf so verlangsamt, die Infektionskurve also so abgeflacht werden, dass sie stets unter der Kapazität des in seiner Leistung kurzfristig gesteigerten Gesundheitssystems (gedacht als eine ansteigende Gerade) liegt. Angesichts eines fehlenden Impfstoffs und fehlender breit wirksamer Medikamente stellt „flattening the curve“ derzeit praktisch die einzige Handlungsoption dar, wenn man keinen ungeordneten Infektionsverlauf mit der dramatischen Gefährdung insbesondere der vulnerablen Personengruppen durch fehlende Beatmungskapazitäten riskieren will.

  1. Erhöhung der Kapazitäten des Gesundheitssystems

Eine kurzfristige Erhöhung der Kapazitäten des Gesundheitssystems, genauer: seine Fokussierung auf die zusätzliche Behandlung einer großen Zahl von beatmungspflichtigen COVID-Patienten, verlagert den gefährlichen Schnittpunkt eines Kurvenverlaufs oberhalb der Kapazitäten des Gesundheitssystems („Überlastung“) und schafft sprichwörtlich Luft. Diese Strategie hat Niedersachsen insbesondere nach den alarmierenden Medienberichten aus Norditalien,[1] aber auch einem weit zirkulierten Bericht des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin über die Zustände im Elsass[2] mit Nachdruck verfolgt. Vor diesem Hintergrund dürfte die Maßnahme zum Verbot der sog. Elektiven Eingriffe in den Krankenhäusern, die das Land durch Rechtsverordnung angeordnet hat[3] (einschließlich des – nicht ausreichenden – Ausgleichs der entsprechenden finanziellen Belastungen durch den Bund[4]), sich als herausragende Maßnahme der Krisenbekämpfung erwiesen haben. Im bisherigen Krisenverlauf ist erfreulicherweise die Funktionsfähigkeit des Rettungsdienstes und die ambulante und stationäre medizinische Versorgung aller Patientinnen und Patienten nie ernsthaft in Gefahr gewesen. Diesen Umstand kann man gar nicht oft genug betonen: Bisher hat es im Verlauf der Pandemie in Niedersachsen stets ausreichende Kapazitäten im Gesundheitswesen für alle Menschen gegeben, egal ob sie an COVID-19 erkrankt waren oder aus anderen Gründen medizinische Hilfe benötigt haben.


Richtig ist auch: Das Verbot der elektiven Eingriffe in den Kliniken hat selbstverständlich Leid verursacht und war mit erheblichen Nachteilen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung verbunden. Da aber Notfallbehandlungen jederzeit rechtlich erlaubt und tatsächlich möglich waren, waren diese Belastungen in der Gesamtabwägung zur Verhinderung weiterer Todesfälle in der Pandemie verhältnismäßig und geboten. Flankiert wurde das Verbot der elektiven Eingriffe durch den Umstand, dass ja nicht nur Hotels, sondern auch Reha-Einrichtungen, Kurkliniken u. Ä. geschlossen waren, also theoretisch auch zur Versorgung von aus den Krankenhäusern abzuverlegender Patienten oder minderschwerer Behandlungsfälle bereitgestanden hätten. Nach ersten Erfahrungen ist allerdings insbesondere die Strategie, kurzfristig stillgelegte Rehaeinrichtungen für die Kurzzeitpflege älterer, aus dem Krankenhaus zu entlassender Menschen zu nutzen, aufgrund der Anforderungen an die pflegerische Versorgung dieser Personengruppen wohl kaum umsetzbar gewesen. Diese Schnittstellen müssen zur Vorbereitung auf eine nächste Infektionswelle, bei der möglicherweise jedes Krankenhausbett gebraucht wird, nachgearbeitet werden.

  1. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens

Der zweite und in der Öffentlichkeit wegen der Einschränkungen des Lebens aller Menschen in Niedersachsen ungleich stärker bemerkte Ansatz zum Abflachen der Infektionskurve sind die rechtlichen Regelungen zur Einschränkung der persönlichen Freiheit gewesen. Sie sind in nie gekannter und geahnter Geschwindigkeit beschlossen worden und prägen bis heute unseren Alltag. Sie sind von den Gerichten ganz wesentlich in den vielen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für rechtmäßig gehalten worden, auch wenn es im Einzelfall auch entsprechende Maßnahmen aufhebende Entscheidungen gab.[5] Bezüglich der rechtstechnischen Verfügung der Einschränkungen des öffentlichen Lebens lassen sich drei Phasen der Regelungstechnik in Niedersachsen unterscheiden:[6]

a) Fachaufsichtliche Weisungen

Erste Maßnahme mit größerer Öffentlichkeitswirksamkeit war die fachaufsichtliche Weisung des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (MS) vom 11.03.2020 an die niedersächsischen Landkreise, die kreisfreien Städte und die Region Hannover zur Absage von Großveranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern.[7] Bereits zwei Tage vorher hatte es aufbauend auf den Erkenntnissen des Robert Koch-Instituts (RKI) zu Großveranstaltungen entsprechende Hinweise zur Prüfung von Beschränkungen auf der Grundlage von § 28 Abs. 1 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes des Bundes (IfSG[8]) gegeben; mit dem Erlass vom 11.03.2020 wurde dann klar in Form einer Weisung zur Absage bzw. zum Verbot eine erste landesweit einschneidende Maßnahme ergriffen. An dieser Stelle muss betont werden: Die entsprechenden fachaufsichtlichen Weisungen des MS, von der es auch zum Beispiel zur Thematik der Reiserückkehrer usw. eine Reihe von weiteren Regelungen seit Anfang März gab, wirken nach den allgemeinen Verwaltungsgrundsätzen nur intern. Auch die wichtige Untersagung des Unterrichtsbetriebs in allen Schulen und die Einstellung des Betriebs aller Kindertagesstätten wurde auf diese Weise veranlasst.[9] Entsprechende Weisungen sind verwaltungsinterne Anordnungen des MS als oberster Fachaufsichtsbehörde für die örtlichen Gesundheitsämter und haben ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 1 des Niedersächsisches Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst (NGöGD[10]), der die Aufgaben des Infektionsschutzgesetzes den Landkreisen und kreisfreien Städten im übertragenen Wirkungskreis zuordnet, sodass die Aufgaben nach Weisung des MS als Fachaufsichtsbehörde erfüllt werden, vgl. § 6 Abs. 2 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes (NKomVG). Zu begrüßen ist, dass das MS durch die klare Formulierung der entsprechenden Erlasse als Weisung auch die in § 6 Abs. 4 NKomVG angelegte Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Weisung übernommen hat. Der Bevölkerung war kaum zu vermitteln, dass diese verwaltungsinternen Weisungen noch von den örtlichen Behörden in außenwirksames Recht umgesetzt werden müssen.[11] Während dieses zweistufige Rechtsinstrumentarium für den normalen Verwaltungsvollzug das angemessene Mittel ist, so hat sich in der Krise sehr schnell gezeigt, dass es der Herstellung eines einheitlichen Rechtszustandes im Lande eher hinderlich ist, wenn binnen Stunden gefahrenabwehrrechtlich verfügt werden soll. Die örtliche Umsetzung der Weisungen in entsprechendes Recht hat nicht nur viel Verwaltungskapazität gebunden, sondern auch zahlreiche praktische Probleme verursacht, da die Bekanntmachung in den Landkreisen, kreisfreien Städten und der Region entsprechend den jeweiligen örtlichen Regelungen in der Hauptsatzung (siehe § 11 Abs. 1 Satz 2 NKomVG) erfolgen muss. Die Verkündungsregelungen zu kommunalen Rechtsvorschriften sind bereits vor der Corona-Krise reformbedürftig gewesen und berücksichtigen das Internet zu wenig.[12] Als problematisch hat sich insbesondere herausgestellt, dass Veröffentlichungen in den örtlichen Tageszeitungen bei einem derart rasanten Pandemiegeschehen wegen des zeitlichen Vorlaufs zu schwerfällig sind. So bestand vielfach das Bedürfnis, noch am Freitag entsprechende Regelungen per Weisung an die Kommunen[13] weiterzugeben, die Samstagsausgabe der entsprechenden Tageszeitung war aber vor Ort nur mit größter Mühe zu erreichen.[14] Dies hat dann dazu geführt, dass der Geltungsbeginn bestimmter Regelungen landesweit unterschiedlich war, was für eine klare Krisenkommunikation in Richtung der Bevölkerung hinderlich ist und für Verwirrung gesorgt hat. Mit hohem Arbeitseinsatz auf allen Ebenen ist es jedoch gelungen, entsprechende zeitliche Verzögerungen, zum Beispiel durch Einzelverfügungen usw., zu überbrücken. In dieser Phase des Pandemiegeschehens ist aber stets auch Kritik an der Informationspolitik des Landes geäußert worden, weil die neuen Regelungen vom Land medial wirksam in der täglich live im Internet übertragenen Pressekonferenz verkündet wurden, die entsprechenden Weisungen aber den Behörden oft erst später vorlagen.[15]

b) Landesweite Regelung aufgrund von § 102 Niedersächsisches Polizeigesetz – NPOG

Hinsichtlich dieser zweistufigen Verfügungstechnik ist es dann am Wochenende des 21./22.03.2020 zu einem Strategiewechsel des Landes hinsichtlich der Wahl der Rechtsgrundlage gekommen, die für zahlreiche Irritationen gesorgt hat. An diesem Sonntag war erneut eine Besprechung der 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin terminiert, auf der weitere bundesweite Maßnahmen zur Eindämmung des Virusgeschehens besprochen werden sollten. Die Stäbe in den Landkreisen und kreisfreien Städten standen bereit, um entsprechende Allgemeinverfügungen nach Weisung des Landes zu erlassen. Groß war die Überraschung, dass nach zwei Wochen intensiven gemeinsamen Krisenmanagements ohne irgendeine Abstimmung mit der kommunalen Ebene das Land nun die eigene Zuständigkeit für den Erlass einer entsprechenden Allgemeinverfügung auf § 102 Abs. 1 Satz 1 NPOG stützte. Nach dieser Norm können die Fachaufsichtsbehörden einzelne Maßnahmen zur Gefahrenabwehr anstelle und auf Kosten der sachlich zuständigen Verwaltungsbehörde oder Polizeibehörde treffen, wenn dies zur sachgerechten Erfüllung der Aufgaben erforderlich ist (vgl. Überschrift: „außerordentliche sachliche Zuständigkeit“). Der Zugriff auf das Polizeirecht zur Begründung einer landesweiten Zuständigkeit erscheint schon deswegen zweifelhaft, weil es ja im ÖGD-Gesetz klare Zuständigkeitsregelungen für den Bereich des Infektionsschutzes gibt (eben § 3 NGöGD). Insofern dürfte der Rückgriff auf diese Norm schon wegen vorgehender spezieller Zuständigkeitsregelungen und mangels Regelungslücke nicht möglich sein. Zudem begründet der § 102 NPOG eine außerordentliche sachliche Zuständigkeit für einzelne Maßnahmen, die ergriffen werden können, wenn die eigentlich zuständige Behörde zur sachgerechten Erfüllung ihrer Aufgaben nicht gewillt oder in der Lage ist.[16] Die kommunalen Spitzenverbände haben darauf hingewiesen, dass beides in der Zeit der Corona-Krise nicht der Fall war.[17]

Zudem muss man konstatieren, dass die Norm eine Maßnahme „auf Kosten der sachlich zuständigen Verwaltungsbehörde oder Polizeibehörde“ vorsieht, also ersichtlich als Selbsteintrittsrecht für begrenzte Einzelfälle konzipiert ist und nicht als Vorschrift zur Begründung einer Zuständigkeit für landesweite Regelungen, die die Landesregierung aus Praktikabilitätsgründen anstelle der eigentlich handlungsfähigen kommunalen Behörden getroffen hat. Die auf dieser Rechtsgrundlage gestützte Allgemeinverfügung des MS wurde am 23.03.2020 im Niedersächsischen Ministerialblatt veröffentlicht.[18] In verwaltungsrechtlicher Hinsicht markierte diese Allgemeinverfügung den Übergang eines zweistufigen Vorgehens bei den Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf ein einstufiges Handeln durch unmittelbar geltende Regelungen des Landes.

c) Die Corona-Verordnungen

Nicht nur die Zuständigkeit des Landes nach § 102 NPOG, sondern auch die Regelungstechnik, mittels örtlicher bzw. landesweiter Allgemeinverfügungen (s. zur Legaldefinition § 35 S. 2 VwVfG) den faktischen Stillstand des öffentlichen Lebens zu verfügen, wurde zusehends rechtlich problematischer. So hatte das Verwaltungsgericht München mit zwei Beschlüssen vom 24.03.2020 zugunsten zweier Einzelpersonen die Wirkung von Ausgangsbeschränkungen in Bayern vorläufig außer Kraft gesetzt, weil die Regelungen nicht in der Handlungsform der Allgemeinverfügung hätten getroffen werden dürfen, sondern als Rechtsnorm hätten erlassen werden müssen.[19] Es handele sich bei dem Adressatenkreis der Regelung um einen unbestimmten Personenkreis, weil alle Personen, die sich gerade in Bayern aufhalten würden, erfasst seien. Damit sei kein bestimmter oder bestimmbarer Personenkreis (vgl. wiederum § 35 Satz 2 VwVfG) betroffen, vielmehr hätte eine Verordnung nach § 32 IfSG ergehen müssen. Diejenigen, die sich das Allgemeine Verwaltungsrecht mit dem Standardwerk von Hartmut Maurer erschlossen haben,[20] werden sich vielleicht an den dort diskutierten[21] Endiviensalat-Fall des Bundesverwaltungsgerichts[22] erinnern, das letztlich 1961 bei einem Verbot des Innenministeriums zum Verkauf von Endiviensalat „in den von Typhuserkrankungen betroffenen Kreisen Nord- und Südwürttembergs“ im Jahr 1953 eine Allgemeinverfügung annahm. Das Bundesverwaltungsgericht stellte damals eher auf den konkreten Einzelfall der drohenden Seuchengefahr und den bestimmbaren Käuferkreis ab. Legt man diesen Maßstab zugrunde und berücksichtigt zudem die nach der Kodifikation der Allgemeinverfügung in § 35 Satz 2 VwVfG entwickelten Maßstäbe, so wird deutlich, dass es sich bei dem großflächigen Herunterfahren des öffentlichen Lebens durch die flächendeckende Schließung von Schulen, Kindertagesstätten, Theatern, Kinos, Einzelhandelsgeschäften usw. und die Vielzahl der übrigen generellen Regelungen in der Sache jedenfalls bei einer gewissen Verfestigung der Regelung über einen längeren Zeitraum um Rechtsnormen handeln wird.[23] Insofern läutete die am 27.03.2020 verkündete „Niedersächsische Verordnung zur Beschränkung sozialer Kontakte anlässlich der Corona-Pandemie“[24], die aufgrund von § 32 IfSG[25] erlassen wurde, eine neue Form der Regelungen zur Beschränkung des öffentlichen Lebens ein, die bis zum heutigen Tag andauert. Formal zuständig für den Erlass der Verordnung ist nach § 3 Nr. 1 der Niedersächsischen Subdelegationsverordnung[26] das Sozialministerium, faktisch wurden die Verordnungstexte seit der öffentlichen Korrektur einer erst wenige Stunden geltenden Verordnung durch den Ministerpräsidenten am Palmsamstag (04.04.2020) aufgrund einer zu eng geratenen Regelung zu Kontakten in der eigenen Wohnung durch das Verfassungsreferat der Staatskanzlei vorbereitet und in wesentlichen Grundfragen z. B. im Koalitionsausschuss erörtert.[27]

Worum ging es am Wochenende vor Ostern? Die Landesregierung veröffentlichte zur Umsetzung von Absprachen auf der Bundesebene und zur wieder generellen Öffnung der Baumärkte[28] die Neufassung der Corona-Verordnung durch eine neue Verordnung, die am 04.04. in Kraft getreten war.[29] Diese enthielt in § 1 Abs. 2 folgende Vorschrift: „Kontakte innerhalb der eigenen Wohnung und auf dem eigenen Grundstück sind auf die Angehörigen des eigenen Hausstandes beschränkt, soweit nicht die Voraussetzungen des § 3 vorliegen.“ Die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände hatte in der Verbandsbeteiligung gegenüber dem MS in ihrer Stellungnahme vom 02.04.2020 zu dieser Vorschrift ausgeführt: „Gerade auch im Vergleich mit den jetzt beabsichtigten Öffnungen weiterer Läden, die nicht dem Lebensmittelverkauf dienen, sind die Regelungen für Besuche innerhalb des eigenen Hauses zu streng und zu formalistisch auf den Verwandtschaftsgrad abstellend. Das gilt insbesondere im Hinblick auf das Osterfest. Der Verordnungstext trägt der modernen Lebenswelt nicht hinreichend Rechnung und berücksichtigt andere enge familiäre Bindungen zu wenig. Daher sollte er für Besuche moderat gelockert werden. § 3 Ziffer 9 und § 3 Satz 2 sollten entsprechend flexibilisiert werden.“[30]

Nach vielfachen Nachfragen und öffentlichen Protesten wegen der Strenge dieser Vorschrift veröffentlichte das Sozialministerium sodann bereits am Samstag, also wenige Stunden nach Inkrafttreten der Verordnung, eine Erklärung, wonach die Verordnung umgehend neu gefasst werden solle.[31] Dies ist dann auch mit einer Streichung der zitierten Regelung geschehen, sodass seit diesem Zeitpunkt für private Zusammenkünfte in eigenen Wohnungen und Grundstücken nur die allgemeine Grundregel von § 1 Abs. 1 der Verordnung galt. Dies war für alle Bürger mit erheblichen Unsicherheiten verbunden und stellte die Verwaltungsbehörden und die Polizei, die nach § 12 Abs. 2 der Ursprungsverordnung diese zu vollziehen hatten,[32] vor erhebliche Probleme. Dennoch bestand Einigkeit – abzulesen am Bußgeldkatalog der Landesregierung[33] –, dass auch bei Zusammenkünften auf privatem Grund in eindeutigen Fällen ein Verstoß gegen § 1 Abs. 1 der Verordnung vorliegt, der auch geahndet werden kann. Dies ist zum Beispiel bei privaten Partys der Fall. Zugleich entstand im weiteren Verlauf des Pandemie-Geschehens aber ein erhebliches soziales Ungleichgewicht, weil zwar für Wettbüros, Spielbanken und Lottoannahmestellen umfangreiche und ausführliche Regelungen geschaffen wurden,[34] für den Kern der privaten Lebensgestaltung,  also zum Beispiel die Frage, wie man einen 60. Geburtstag begeht, keine klare Regelung besteht.[35] Auch die Regelungen zu Beerdigungen, die ja anders als Hochzeiten usw. nicht verschoben werden können, waren im Vergleich zu den schrittweise aufgrund des Stufenplans erfolgten Öffnungen aus kommunaler Sicht viel zu lange zu streng und z. B. angesichts der schnell und entgegen der bundesweiten Absprache erfolgten Öffnung der Baumärkte den Bürgern schwer zu vermitteln.

Diese Ungleichgewichte der Verordnungen ließe sich an vielen anderen Stellen ebenfalls diskutieren – exemplarisch sei nur der gesamte Bereich der Besuchsverbote in Krankenhäusern, Altenheimen und Kindertagesstätten genannt. Hier galten sehr lange sehr strenge Regelungen, die erst mit einer wiederum extrem eiligen Verordnungsänderung mit Wirkung vor Himmelfahrt und Pfingsten[36] moderat gelockert wurden. Zu berücksichtigen gilt aber bei all diesen Betrachtungen: Für den Lockdown des öffentlichen Lebens in Niedersachsen gab es keinen rechtlichen oder tatsächlichen Masterplan. Alle Beteiligten haben unter unglaublichem Zeit- und Regelungsdruck versucht, dem Ziel des Infektionsschutzes bestmöglich Rechnung zu tragen und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Grundrechte in erträglichem Maße zu halten. Die Akzeptanz der Bevölkerung für die verhängten Maßnahmen war und ist bis zum heutigen Tage groß und das Ziel der Regelungen, eine erhebliche Verlangsamung des Infektionsverlaufs, ist erreicht worden.

Eine grundsätzliche Vereinfachung der durch zahlreiche Änderungen und Wiederholungen im Normtext unübersichtlichen Corona- Verordnungen war lange gefordert und von der Landesregierung praktisch ebenso lange angekündigt. Ein erster Entwurf einer gänzlich neu gefassten Verordnung wurde am 29.06.2020 in die Verbandsbeteiligung gegeben, aber 24 Stunden später wieder zurückgezogen, wohl auch weil er auch nach Ansicht maßgeblicher Politiker der Großen Koalition die Anforderungen an eine verschlankte Verordnung nicht erfüllte.[37] Der bisherige Verordnungstext wurde sodann durch eine Verlängerungsverordnung über den ursprünglich geplanten Termin am 06.07.2020 hinaus um eine Woche verlängert, um mehr Zeit für einen neuen Regelungsentwurf zu bekommen.[38] Dieser trat dann am 13.07.2020 in Kraft.[39] Für die Zukunft wird man sowohl das Bundesrecht als auch die Regelungstechnik auf Landesebene nachschärfen und sich wohl auch weiter administrativ- normtextlich auf kurzfristig geltende Einschränkungen des öffentlichen Lebens vorbereiten müssen – in der Hoffnung, dass es keine Anwendungsfälle gibt.

VBlNds 10/2020

 

[1] Besonders dramatisch bleibt die Situation in Bergamo in Erinnerung, wo in der Nacht vom 18. auf den 19.03.2020 eine Kolonne Militärlastwagen Särge mit Toten in die Krematorien der Umgebung transportierte und der Bürgermeister an seine deutschen Amtskollegen dringend appellierte, auf Abstand zu achten und die verbleibende Zeit für Vorbereitungen zu nutzen, s. Wikipedia, Artikel „COVID-19-Pandemie in Italien“.

[2] Siehe z. B. www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/corona-lage-imelsass-was-deutschland-daraus-lernen-kann vom 28.03.2020.

[3] Niedersächsische Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Virus-Krankheit COVID-19 vom 18.03.2020 (Nds. GVBl. S. 37) mit Änderung vom 17.04.2020 (Nds. GVBl. S. 79), abgelöst durch die Niedersächsische Verordnung über Beschränkungen im Krankenhausbetrieb zur Bekämpfung der Corona-Virus-Krankheit COVID-19 vom 05.05.2020 (Nds. GVBl. S. 93) und vom 15.07.2020 (Nds. GVBl. S. 256). Siehe zu den Einzelheiten auch LT-Drs. 18/7008.

[4] Gesetz zum Ausgleich Covid-19-bedingter finanzieller Belastungen der Krankenhäuser und weiterer Gesundheitseinrichtungen – Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetz, BGBl. I S. 580, das in wesentlichen Teilen am29.03.2020 in Kraft getreten ist.

[5] Eine laufend aktualisierte Übersicht zur COVID-19-Rechtsprechung der niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit einschließlich Verlinkung auf die Entscheidungen im Volltext findet sich unter www.nlt.de → Rechtsprechungsübersicht zu COVID-19; siehe auch den Beitrag von Böhmeke, NLT-Information 4/2020, S. 98 f.

[6] Eine chronologische Übersicht über die rechtlichen Regelungen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus in Niedersachsen und deren Umsetzung ist abgedruckt in NLT-Information 2 – 3/2020, S. 28 ff. und fortgesetzt

in NLT-Information 4/2020, S. 88 f., beides abrufbar unter www.nlt.de. Siehe dazu auch Meyer, FS Weidemann, S. 123 (127 f.).

[7] Erlass des MS vom 11.03.2020 zum Az. 401.41609-11-3, n.v.

[8] Gesetz zur Bekämpfung und Verhütung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) vom 20.07.2000 (BGBl. I S. 1045), zul. geänd. d. Gesetz vom 19.06.2020 (BGBl. I S. 1385) – für einen Überblick Barthel/Weidemann, Das Infektionsschutzgesetz – Überblick, DVP 2020, S. 171 ff.

[9] Erlass des MS vom 13.03.2020 zum Az. 401.41609-11-3, n.V.

[10] Vom 24.03.2006 (GVBl. S. 178), zul. geänd. d. Gesetz vom 15.07.2020 (Nds. GVBl. S. 244).

[11] Als Beispiel seien die massive Häufung von Infektions- und Todesfällen in einem Wolfsburger Altenheim genannt, die zur Verhängung eines Aufnahmestopps für Alten- und Pflegeheime führte, siehe Pressemitteilung des MS vom 30.03.2020 mit dem letzten Satz: „Das Gesundheitsministerium wird den entsprechenden Erlass noch im Laufe des Montags den Landkreisen, kreisfreien Städten und der Region Hannover übermitteln.“

[12] Siehe dazu Schwind/Vick, Aktuelles zur Verkündung und Bekanntmachung kommunaler Rechtsakte, NdsVBl. 2019, S. 301 ff.

[13] Zu diesem im Grundgesetz nicht vorgesehenen „Organ“ der Krise hat Ipsen, NdsVBl. 2020, S. 165, 165 einige Anmerkungen gemacht. Im Ergebnis ist ein länderkoordiniertes Vorgehen bei einer die gesamte Bundesrepublik erfassenden Bedrohungslage dringend anzuraten und angesichts der vielfältigen Verflechtungen und der hohen Bedeutung der Angelegenheit abschließend nur auf Ebene der Regierungschefs denkbar.

[14] Siehe dazu auch LT-Drs 18/6606.

[15] Meyer, FS Weidemann, S. 123 (127). NdsVBl. Heft 10/2020 Schwind, Verwaltungsrechtliche Aspekte der Corona-Krise in Niedersachsen

[16] Siehe dazu Beckermann, BeckOK PolR Nds. § 102 Rn. 2 f.

[17] Schreiben des Niedersächsischen Städtetages und des Niedersächsischen Landkreistages an Frau Sozialministerin Dr. Reimann vom 23.03.2020,n.v.

[18] Erlass Vollzug des IfSG; Soziale Kontakte beschränken anlässlich der Corona-Pandemie, AV d. MS v. 23.03.2020 – 401-41609-11-3, Nds. MBl.2020, S. 401.

[19] VG München, Beschl. v. 24.03.2020 zu Az. M 26 S 20.1252 und M 26 S 20.1255, Letzterer abgedruckt NVwZ 2020, S. 651 ff.

[20] Inzwischen Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017.

[21] Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 18.

[22] BVerwG, Urt. v. 28.02.1961 – BVerwG I C 54.57 – BVerwGE 12, S. 87 ff. – Die Ausführungen insbesondere bei der Abgrenzung zur Rechtsnorm im Polizeirecht (S. 90) sind heute so wohl nicht mehr vertretbar.

[23] So auch Ipsen, NdsVBl. 2020, S. 165, 166; Siegel, Verwaltungsrecht im Krisenmodus,

NVwZ 2020, S. 577, 579.

[24] Nds. GVBl. 2020, S. 48 ff.

[25] Satz 1 lautet: „Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen.“

[26] Vom 09.11.2011, Nds. GVBl. 2011, S. 487, zul. geänd. durch VO vom 17.03.2019, Nds. GVBl. S. 65.

[27] Siehe zu den Einzelheiten des Verfahrens z. B. LT-Drs. 18/6870.

[28] Dazu LT-Drs. 18/6614.

[29] Niedersächsische Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona-Pandemie vom 02.04.2020, GVBl. 2020, S. 55.

[30] Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände vom 02.04.2020, n.v.

[31] Pressemitteilung des MS vom 04.04.2020: „Korrektur der gestern veröffentlichten Verordnung zur Beschränkung sozialer Kontakte“.

[32] § 12 Abs. 2 der Niedersächsische Verordnung zur Beschränkung sozialer Kontakte anlässlich der Corona-Pandemie, Nds. GVBl. 2020, S. 48 ff.

[33] Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Niedersächsische Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus, RdErl. D.MS v. 24.04.2020 – 401-41609-11-13, Nds. MBl. 2020, S. 483 sieht unter der Lfd. Nr. 1 die „Missachtung des Gebots der Reduzierung physischer Kontakte“ vor, die bei jeder beteiligten Person mit 50 bis 400 € geahndet werden soll.

[34] Siehe §§ 2 i, 2 j und 2 k der Niedersächsische Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus vom 08.05.2020 (Nds. GVBl. S. 97), zul. geänd. durch VO vom 25.06.2020 (Nds. GVBl. S. 170).

[35] Siehe § 1 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung zur Neuordnung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 vom 10.07.2020, Nds. GVBl. 2020, S. 226, zul. geänd. d. VO vom 31.07.2020, Nds. GVBl. S. 260. Dabei sei besonders auf die Änderung in § 1 Abs. 5 für private Feiern außerhalb der eigenen Wohnung verwiesen.

[36] Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbereitung des Corona-Virus vom 19.05.2020, Nds. GVBl. S. 130 mit der Änderung der § 2 a Abs. 1 und Abs. 2 der Verordnung.

[37] Plenardebatte vom 30.06.2020 des Niedersächsischen Landtags, PlenProt. S. 7399 (Abg. Modder) und S. 7411 (Abg. Toepffer).

[38] Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus vom 02.07.2020, Nds. GVBl. 2020, S. 202.

[39] Niedersächsische Verordnung zur Neuordnung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 vom 10.07.2020, Nds. GVBl. 2020, S. 226.

 

Dr. Joachim Schwind

Geschäftsführer des Niedersächsischen Landkreistages (NLT)
n/a