03.04.2023

Versammlungsgesetze und Versammlungsfreiheitsgesetze

Liberales und demokratisches Versammlungsrecht durch Versammlungsfreiheitsgesetze?

Versammlungsgesetze und Versammlungsfreiheitsgesetze

Liberales und demokratisches Versammlungsrecht durch Versammlungsfreiheitsgesetze?

Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © emmi - Fotolia / RBV

Von den „neuen“ Landesversammlungsgesetzen tragen nur die Versammlungsgesetze in Berlin und Schleswig-Holstein die Bezeichnung „Versammlungsfreiheitsgesetze“. Was es damit auf sich haben soll, beleuchtet der nachfolgende Beitrag kritisch.

Versammlungsgesetze und Versammlungsfreiheitsgesetze

Von den „neuen“ Landesversammlungsgesetzen in Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein tragen die Versammlungsgesetze in Berlin und Schleswig-Holstein die Bezeichnung „Versammlungsfreiheitsgesetze“. Nordrhein-Westfalen hatte diese Kennzeichnung erwogen, am Ende des Gesetzgebungsverfahrens aber bewusst darauf verzichtet.[1] Neu im Sinne einer eigenständigen, vom Versammlungsgesetz des Bundes aus dem Jahr 1953 nicht nur im Detail abweichenden Regelung des Versammlungsrechts sind nur die Kodifikationen in Bayern, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.

Kennzeichnung als Versammlungsfreiheitsgesetz

Der Gesetzgeber in Schleswig-Holstein wollte das Versammlungsrecht liberalisieren, indem die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich gewordenen grundrechtlichen Korrekturen erfolgten und zudem das Versammlungsrecht aus seiner Nähe zum Gefahrenabwehrrecht gelöst wurde.[2] Der Gesetzgeber in Berlin, der das schleswig-holsteinische Versammlungsfreiheitsgesetz wohlwollend zu einem der fortschrittlicheren Versammlungsgesetze der Bundesrepublik zählte,[3] wollte mehr.


Ziel der Regierungskoalition war die Schaffung eines liberalen Versammlungsfreiheitsgesetzes, das den Schutzbereichen von Art. 8 GG und Art. 26 der Berliner Verfassung gerecht wird. Es sollte eine rechtliche Doppelfunktion als Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land Berlin und für die Bundeshauptstadt Berlin haben, und man beanspruchte eine deutschlandweite Vorbildfunktion, mit der ein demokratisches Versammlungsrecht gesichert werde.[4] Die politische Tendenz des Gesetzes sollte mit der Beschneidung der Befugnisse der Polizei, der Einführung von Deeskalationspflichten und der Zurücknahme von Straf- und Bußgeldtatbeständen deutlich werden.[5]

Bewertung der Begründungen für ein Versammlungsfreiheitsgesetz

Die für das schleswig-holsteinische Versammlungsfreiheitsgesetz gelieferte Begründung ist verfassungsrechtlich nachvollziehbar und aus der Sicht des Gesetzgebers, der sein Produkt dem Wähler „verkaufen“ muss, auch in politischer Betrachtung maßvoll. Die Begründung des Berliner Gesetzgebers wirft hingegen grundsätzlich Fragen auf. Er beansprucht offensichtlich, mit seinem Versammlungsfreiheitsgesetz erst die Voraussetzungen für ein liberales und demokratisches Versammlungsrecht geschaffen zu haben und zugleich dessen politischer Tendenz gerecht geworden zu sein.

Insoweit ist zu klären, was ein liberales Versammlungsgesetz ausmacht, wie es sich zum Gefahrenabwehrrecht verhält und was unter politischer Tendenz eines Versammlungsfreiheitsgesetzes zu verstehen ist. Die Fragen werden – zum besseren Verständnis – in umgekehrter Reihenfolge beantwortet.

Was ist die politische Tendenz oder Qualität des Versammlungsrechts?

Man könnte hinsichtlich der in Versammlungen bzw. Demonstrationen aufgegriffenen Inhalte und der gewählten Protestformen hinterfragen, inwieweit das Versammlungs- und Demonstrationsgeschehen politisch ist. Hier kann ein Rückblick helfen.[6] In der Phase von 1949 bis zum Ende der 1950er- Jahre dominierten in der politischen Willensbildung Parteien und Verbände. Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit lag noch im Dornröschenschlaf; man ging nicht auf die Straße, um sich so an der politischen Willensbildung zu beteiligen. Der Versammlungsgesetzgeber von 1953 orientierte sich denn auch an einer Vorstellung von Versammlung, die überschaubar, straff geordnet, diszipliniert und von der Polizei überwacht ablief. Es lag jenseits seiner Vorstellungskraft, dass Bürger mittels Demonstrationen auf öffentlichen Straßen und Plätzen als public forum mit den Parlamenten konkurrieren könnten.

Die Politisierung der Ausübung der Demonstrationsfreiheit begann in den 1960er- Jahren und wurde insbesondere deutlich beim Sternmarsch der Apo als Gegner der Notstandsverfassung in Bonn im Jahre 1968. Bis Mitte der 1970er-Jahre verstärkte sich die Politisierung mit der Apo als Gegenpol zur damaligen großen Koalition. Die studentischen Aktionen richteten sich zunächst gegen die Zustände an den Universitäten und danach allgemein gegen als ungerecht empfundene politische und soziale Verhältnisse, insbesondere den Vietnamkrieg.

Die Phase von Mitte der 1970er Jahre bis zur Asyldemonstration in Bonn 1993 war die Zeit der Großdemonstrationen, insbesondere gegen den Nachrüstungsbeschluss und den Ausbau der Kernkraft. In diese Zeit fiel auch die friedliche „Revolution“ in der DDR, die mit den Montagsdemonstrationen dafür sorgte, dass die Machthaber von der politischen Bühne abtreten mussten. Die Phase vom Beginn der 1990er-Jahre bis heute ist durch unterschiedliche Strömungen geprägt. Einerseits findet im Versammlungsgeschehen eine Entpolitisierung statt, und es entstehen verschiedene neue Veranstaltungsformen (Love-Paraden, Flashmobs, Aktionen von Fußballfans in „ihrer“ Kurve des jeweiligen Stadions mit aufwändiger Choreografie, Straßenfeste etc.), wobei hinsichtlich des maßgeblichen Versammlungsbegriffs gestritten wird, ob solche Veranstaltungen dem Regime des Versammlungsrechts unterfallen. Andererseits kommt es zu einer erneuten Politisierung des Versammlungs- und Demonstrationsgeschehens, dessen neue Qualität weniger mit dem aufgegriffenen Thema als mit dessen kontroverser Beurteilung in den politischen Lagern und gesellschaftlichen Gruppierungen zu erklären ist.

Waren das seit Beginn der 1990er-Jahre rechtsextremistische Aufmärsche, die zu Gegenaktionen des linksgerichteten Lagers führten und mit Beginn des neuen Jahrtausends die Aktionen von PEGIDA und vergleichbaren Veranstaltern, die auf breiten Widerstand bis in die Mitte der Gesellschaft stießen, so richteten sich die Demonstrationen von Impfgegnern und Querdenkern gegen Coronaschutzmaßnahmen und wurden ebenfalls mit Gegenaktionen erwidert. Der Klimawandel und seine Folgen sind nach der Fridays-for-Future-Bewegung inzwischen zu einem neuen, nicht konfrontativ ausgetragenen politischen Thema von Demonstrationen geworden. Die aufgezeigte Politisierung ist nicht zuletzt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum verengten Versammlungsbegriff zurückzuführen, wonach die Beteiligung an der öffentlichen Meinungsbildung Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Demonstrationsfreiheit ist,[7] weshalb sich Veranstalter, Leiter und Teilnehmer von bzw. an Demonstrationen geradezu zwangsläufig an der politischen Willensbildung beteiligen.

Diese politische Tendenz oder Qualität ist also mit der Inanspruchnahme der kollektiven Meinungsfreiheit aus Art. 5 und 8 GG automatisch gegeben und lässt sich nicht als demokratische Errungenschaft eines Versammlungsfreiheitsgesetzes verkaufen. Wollte der Berliner Gesetzgeber mit der von ihm entdeckten politischen Tendenz zum Ausdruck bringen, dass seine neuen Regelungen politische Sprengkraft hatten und es deshalb schwierig war, für das neue Gesetz eine Mehrheit zu beschaffen, so erklärt sich daraus nicht die besondere Prominenz des Versammlungsfreiheitsgesetzes als deutschlandweites Vorbild für künftige Landesverwaltungsgesetze.

Das Politische am Gesetzgebungsverfahren ist, dass die einen Gesetzentwurf einbringenden Fraktionen im Parlament eine Mehrheit organisieren müssen, mit der das Gesetz zustande gebracht und danach das mit dem Gesetz verfolgte Ziel realisiert werden kann. Insoweit ist das Gesetzesziel des Versammlungsfreiheitsgesetzes, die Befugnisse der Polizei zu beschneiden und ihre Pflichten zu mehren, nicht mehr und nicht weniger politisch wie ein Gesetzesvorhaben konservativer Parteien, die nach ihrem Verständnis von einem angemessenen Ausgleich von Freiheit und Sicherheit ein Gesetz durchsetzen wollen, das die Befugnisse der Polizei mehrt und ihre Pflichten mindert. Das

Verhältnis des Versammlungs- zum Gefahrenabwehrrecht

Versammlungsgesetze sind als spezielles Polizei- und Ordnungsrecht Ausführungsgesetze zu Art. 8 GG, die das Grundrecht der Versammlungsfreiheit auf der Ebene des einfachen Gesetzes konkretisieren und ausgestalten.[8] Die klassische Polizeirechtsmaterie erfährt eine verfassungsrechtliche Überhöhung und wird zu einem Kernstück demokratischen Lebens und sozialer Konfliktbewältigung.[9]

Das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Lehre haben Art. 8 GG grundrechtsdogmatisch dergestalt ausgelegt und überformt,[10] dass er über seine Hauptfunktion als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe hinaus auch den Schutz von Versammlungen und Demonstrationen gegen Übergriffe Dritter garantiert, Grundrechtsschutz durch Verfahren in Gestalt von Beteiligung des Veranstalters am versammlungsgesetzlichen Verwaltungsverfahren verbürgt und im status aktivus eine demokratische Funktion hat, die Art. 8 GG untrennbar mit dem politischen Willensbildungsprozess verknüpft, der nicht nur bei Wahlen stattfindet, sondern eben auch auf der Straße bei Demonstrationen.[11]

Das Versammlungsrecht als Teil des Polizei- und Ordnungsrechts wird auf diese Weise als Freiheitsausübungsrecht konstituiert. Zugleich werden damit Polizei und Versammlungsbehörden als Beschützer der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in die Pflicht genommen, Freiheitsräume für Veränderungen durch Austragung politischer Konflikte offen zu halten.[12] Zugleich sind Versammlungsgesetze Vorbehaltsgesetze, die als Polizei- und Ordnungsgesetze den Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG mit der verfassungsrechtlichen Vorgabe ausfüllen, dass Eingriffsmaßnahmen auf das zu beschränken sind, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist.[13] Mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben steht das neue Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz zwangsläufig in der Kontinuität des Versammlungsgesetzes des Bundes von 1953.

Abschließender Befund

Gesetzliche Festschreibungen, die den Gesetzesvollzug anleiten und formen, im Fall des Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz also das Versammlungs- und Demonstrationsgeschehen grundrechts- und demokratiefreundlich gestalten zu wollen, sind wichtig. Wichtiger ist aber, dass die Vollziehenden die Vorgaben der Verfassung und des Gesetzgebers verinnerlichen und praktizieren. Im oben dargestellten Rückblick wurde deutlich, dass genau letzteres in Bonn bei den zahlreichen Großdemonstrationen, vom Sternmarsch der Apo 1968 bis zur Asyldemo 1993, geschehen ist.

Ohne dass es im Versammlungsgesetz des Bundes stand und bevor das Bundesverfassungsgericht 1985 im Brokdorf-Beschluss die demokratische Funktion des Art. 8 GG und die Grundsätze der Kooperation und Deeskalation festschrieb und die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit als handlungsleitendes Prinzip der Polizei betonte, hatte die Bonner Polizei diese Prinzipien als Leitlinien für die Lagebewältigung bei Demonstrationen bereits erarbeitet, vor allem aber praktiziert.

Wenn nun im Jahre 2021 der Berliner Gesetzgeber kommt und sein Versammlungsfreiheitsgesetz als demokratische Errungenschaft und erstmalige Realisierung eines liberalen, die Bürgerrechte schützenden Versammlungsgesetzes verkauft und dafür eine Vorbildfunktion in Anspruch nimmt, so ist das eine Anmaßung, die man als politische Selbstbeweihräucherung unbeachtet lassen könnte. Schlimmer ist die mit der Inanspruchnahme der Sicherungsfunktion des Versammlungsfreiheitsgesetzes für die demokratische Qualität des Versammlungsrechts einhergehende Verkennung dessen verfassungsrechtlicher Grundlagen.

 

Entnommen aus dem Deutschen Polizeiblatt 6/2022, S. 1.

[1] So auch der ME VersG des Arbeitskreises Versammlungsrecht (Enders, Hoffmann-Riem, Kniesel, Poscher, Schulze-Fielitz).

[2] Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, VersFG SH, Vorbem. Rn. 40.

[3] Abgeordnetenhaus Berlin (AH), AH-Drs. 18/2764, S. 20.

[4] Abgeordnetenhaus Berlin (AH), AH-Drs. 18/2764, S. 19, 21; Koalitionsvertrag von SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen 2021, S. 153.

[5] Abgeordnetenhaus Berlin (AH), AH-Drs. 18/2764, S. 21.

[6] Dazu Kniesel, Vorgänge, April 2016, S. 19.

[7] BVerfG, NJW 2001, 2459, 2460; BVerfGE 104, 92.

[8] Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 18. Aufl. 2019, Teil I Rn. 383.

[9] Ossenbühl, Der Staat 1971, 62.

[10] Hierzu Helleberg, Leitbildorientierte Auslegung, 2016.

[11] BVerfGE 69, 315, 343 f.

[12] Kniesel (Fn. 8), Teil I Rn. 49 ff.

[13] Kniesel (Fn. 8), Teil I Rn. 382.

 

Dr. Michael Kniesel

Staatsrat a. D.
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