01.12.2023

Taktische Verwundetenversorgung

Ein Überblick

Taktische Verwundetenversorgung

Ein Überblick

Angesichts anhaltend
hoher Gefährdungslagen in Bezug auf
terroristische Anschläge müssen
polizeiliche Taktiken
fortlaufend verbessert werden,. | © pattilabelle  - stock.adobe.com
Angesichts anhaltend hoher Gefährdungslagen in Bezug auf terroristische Anschläge müssen polizeiliche Taktiken fortlaufend verbessert werden,. | © pattilabelle - stock.adobe.com

Die terroristischen Anschläge der jüngeren Vergangenheit in Europa mit vielen Verletzten und Toten belegen mehr als deutlich, dass Polizeibeamte im täglichen Dienst zunehmend mit Herausforderungen und Gefahren konfrontiert werden, welche bisher nur aus fernen Krisengebieten bekannt waren.

Aktuelle Gefährdungslage

Gemäß dem „Global Terrorism Index 2023“ der vom „Institute for Economics & Peace“ (IEP) entwickelt wurde und Informationen zu globalen Terrortrends bietet, verliert Deutschland zwar im Vergleich zum Vorjahr vier Plätze und landet damit auf Platz 35, steht aber nach Griechenland (Platz 31) und Frankreich (Platz 34) nach wie vor auf Platz 3 der gefährdetsten Länder innerhalb der EU. Die abstrakte Gefahr eines terroristischen Anschlags ist also nach wie vor als sehr hoch einzustufen.

Die aktuelle Lagefortschreibung des BKA über die Gefährdungslage des islamistischen Terrorismus besagt, dass die Bundesrepublik nach wie vor im unmittelbaren Zielspektrum von terroristischen Organisationen steht. Hierbei geht von Personen, die in Konfliktgebiete reisen, dort radikalisiert werden und eine terroristische Kampfausbildung erhalten oder sogar an Kampfhandlungen teilgenommen haben, eine besonders hohe Bedrohung aus.


Islamistischer Terrorismus und Reichsbürgerbewegung als Gefahr

Angesichts der anhaltend hohen Gefährdungslage in Bezug auf terroristische Anschläge, insbesondere aus dem islamistischen Spektrum, müssen die polizeilichen Taktiken und Konzeptionen fortlaufend verbessert werden, um dieser Bedrohung wirksam begegnen zu können.

Eine weitere zunehmende Gefahr stellt die Reichsbürgerbewegung mit ihrem rechtsextremen, von Rassismus und Antisemitismus geprägten Weltbild dar. Eine rigorose und absolute Ablehnung aller staatlichen Institutionen kennzeichnet diese gewaltbereite Gruppe. Eine zusätzliche Gefährdung von Einsatzkräften stellt die Affinität vieler dieser Akteure zu Schusswaffen dar.

Zu welchen Taten Personen aus diesem Spektrum fähig sind, zeigten unter anderem die Einsätze des SEK Baden-Württemberg im April 2022 und im März 2023, bei welchen jeweils ein SEK-Beamter nicht unerheblich verletzt wurde. Bei beiden Einsätzen wurden, zum Teil aus vollautomatischen Schusswaffen, eine Vielzahl von Schüssen in Richtung der Polizeibeamten abgegeben.

Auftrag der Sicherheitsbehörden

„Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt“.1Innenministerium Baden-Württemberg, Leitbild der Polizei BW. So lautet der erste Grundsatz des Leitbildes der Polizei in Baden-Württemberg. Er gilt als Ideal der polizeilichen Aufgabenwahrnehmung und bedeutet unter anderem, dass das Menschenbild des Grundgesetzes der Bundesrepublik für die Polizei in Baden-Württemberg verbindlich ist.

Eines der hochwertigsten Individualgüter des Menschen wird in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG genannt. Demnach hat jedermann das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Abwehr von Gefahren für dieses Grundrecht gehört zu den elementaren Aufgaben der Polizei. Dies geht allein schon aus der PDV 1002Innenministerium Baden-Württemberg, PDV 100 „Führung und Einsatz der Polizei“, 09/2018, 1.2. als auch aus dem ersten Paragraphen des baden-württembergischen Polizeigesetzes hervor.

Auch in der nach den Terroranschlägen in Paris und Brüssel entwickelten Führungs- und Einsatzanordnung für lebensbedrohliche Einsatzlagen (FEA LebEl) wird diese bedeutungsvolle Aufgabe sowohl bei den Leitlinien als auch bei den taktischen Zielen an erster Stelle genannt.3Innenministerium Baden-Württemberg, Führungs- und Einsatzanordnung zur Bewältigung von lebensbedrohliche Einsatzlagen, FEA LebEl, 08/2016, S. 4 f.

(…)

Taktische Verwundetenversorgung (TVV)

Neben den offensiven Maßnahmen zur Begrenzung der Angriffs- und Aktionsfähigkeit des Täters bzw. der Täter nimmt auch die Taktische Verwundetenversorgung in solchen Lagen einen immer größer werdenden Anteil ein. Hauptursächlich hierfür ist die Tatsache, dass der Regelrettungsdienst hier aufgrund der akuten Gefährdungs- und Bedrohungslage nicht eingesetzt werden kann und darf.

Insbesondere vermeidbare tödliche Verletzungsmuster, wie sie bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen vorzufinden sind, können nur dann erfolgreich behandelt werden, wenn die Rettungskette durch eine schnellstmögliche medizinische Versorgung durchgehend aufrechterhalten bleibt.

Grundsätzlich versteht man unter Taktischer Verwundetenversorgung die präklinische Versorgung eines oder mehrerer Verletzter, welche jedoch immer an die Lage des Einsatzes und das taktische Vorgehen angepasst werden muss. Dies bedeutet auch, dass nur zwingend erforderliche Erstmaßnahmen angewendet werden, welche dem Verletzten ein Überleben sichern sollen.

Überblick in lebensbedrohlichen Einsatzlagen bewahren

Wichtig ist hierbei, dass die Gesamtlage des Einsatzes immer wieder neu bewertet werden muss, denn eine medizinisch notwendige, aber zum falschen Zeitpunkt getroffene Maßnahme kann augenblicklich weitere Verletzungen an Zivilisten oder Polizeikräften zur Folge haben. Wie behält man also in einer zunächst unübersichtlichen und chaotischen Lage, meist ohne ausreichend Material und Personal für die Verwundetenversorgung, den Überblick?

Ein Hauptaugenmerk liegt hierbei sicherlich auf den einfach gehaltenen, durch das Militär bereits jahrelang erprobten und erfolgreich angewendeten Grundsätzen der Taktischen Verwundetenversorgung und den primären Zielen, den/die Verletzten zu behandeln, weitere Verwundete zu verhindern sowie dabei den Auftrag zu Ende zu führen.4Vgl. Carsten Dombrowski, Taktische Verwundetenversorgung für Militär, Polizei und Rettungskräfte: ein Bildatlas und Praxisbuch, 3. Aufl. 2015, S. 11 ff.

Eine frühzeitige und professionelle Versorgung durch Polizeikräfte rettet zudem nicht nur Leben, sondern hat auch elementare Auswirkungen auf das spätere „Outcome“ (Lebensqualität) der Verletzten.

TVV kein Ersatz für zivilen Rettungsdienst

Primäres Ziel der Taktischen Verwundetenversorgung ist lediglich, die Lücke in der Rettungskette zu schließen, bis es dem zivilen Rettungsdienst möglich bzw. erlaubt ist, die weitere Behandlung der Verletzten zu übernehmen. Die taktische Verwundetenversorgung stellt somit keinen Ersatz des zivilen Rettungsdienstes dar!

Durch die Abbildung einer qualifizierten medizinischen Erstversorgung und einer schnellen taktischen Evakuierung durch Polizeikräfte wird so versucht, das Überleben einer möglichst hohen Anzahl von Verletzten zu ermöglichen. Es handelt sich also bei diesem Tätigkeitsfeld bei Weitem nicht nur um eine „Nebensache“.

Die FEA LebEl macht dies auch in ihren Leitlinien deutlich: „Rettungsmaßnahmen sowie die Zuführung von Verletzten an die Fachdienste […sind…] vorzunehmen.“ Die Rettung von Menschenleben ist somit eine elementare Aufgabe der polizeilichen Einsatzkräfte.

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Der cABCDE-Behandlungsalgorithmus

Die Einführung eines praxisnahen TVV-Konzepts sowie die Beschaffung von hochwertigem medizinischem Material zur Durchführung lebensrettender Sofortmaßnahmen waren hierbei wichtige erste Schritte in die richtige Richtung. Gerade die letztgenannte Erste-Hilfe-Ausstattung muss intensiv beschult werden.

Hier liegt der Schwerpunkt nicht nur auf dem stresssicheren Umgang mit den Materialien, sondern auch auf deren Anwendung in einer sinnvollen Reihenfolge im Rahmen des cABCDE-Behandlungsalgorithmus.

Die Struktur dieses Algorithmus stellt für den Ersthelfer einen roten Faden dar und ist eine Strategie zur Untersuchung und Versorgung auf Basis einer Prioritätenliste. „Behandle zuerst, was zuerst tötet!“ Ein weiterer und wichtiger Vorteil ist zudem, dass dieser Algorithmus international und BOS-übergreifend bekannt ist.

(…)

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie im Deutschen Polizeiblatt 5/2023, S. 15.

 

Alexander Sauter

Polizeioberkommissar, Hochschule für Polizei Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen
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  • 1
    Innenministerium Baden-Württemberg, Leitbild der Polizei BW.
  • 2
    Innenministerium Baden-Württemberg, PDV 100 „Führung und Einsatz der Polizei“, 09/2018, 1.2.
  • 3
    Innenministerium Baden-Württemberg, Führungs- und Einsatzanordnung zur Bewältigung von lebensbedrohliche Einsatzlagen, FEA LebEl, 08/2016, S. 4 f.
  • 4
    Vgl. Carsten Dombrowski, Taktische Verwundetenversorgung für Militär, Polizei und Rettungskräfte: ein Bildatlas und Praxisbuch, 3. Aufl. 2015, S. 11 ff.
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